»Das System ist unter Druck«
Von Andreas MüllerVor drei Jahren wurden die rund 87.000 deutschen Sportvereine von der UNESCO als immaterielles Weltkulturerbe anerkannt. Wird dieses einzigartige Kulturgut gehegt und gepflegt, wie es dieser Auszeichnung entspricht?
Darauf gibt es keine systematische und abschließende Antwort. Im Alltag überwiegt der allgemeine Gedanke, dieses einmalige Vereinsnetzwerk hat es schon immer gegeben, ist groß und wird somit als etwas ganz Selbstverständliches wahrgenommen. Das ist ein Trugschluss, denn dieses System ist kein Selbstläufer. Im Unterschied zu anderen Organisationsformen funktioniert es vor allem »von unten nach oben«, getragen von jedem einzelnen Verein und dem Engagement seiner Mitglieder. Ich kann als Geschäftsführer nichts »anordnen«, sondern muss mit guten Argumenten und Dienstleistungen meine Mitglieder zufriedenstellen. Das unübersichtlich wirkende Vereinssystem ist also sehr resilient und erfindet sich zugleich ständig neu. In dieser Weise hat dieses Kulturgut in rund 175 Jahren alles überlebt, Kriege, Krisen und sich stark verändernde wirtschaftliche und gesellschaftliche Verhältnisse. Selbstverständlich braucht es stets einen gesetzlichen Rahmen. Nur müssen wir aufpassen, dass wegen der Flut an Paragraphen und Vorgaben der Bogen nicht überspannt wird, die Vorstände in den Vereinen wegen überbordender Bürokratie nicht entnervt die Hände heben, demotiviert werden oder keine Nachfolger mehr finden.
Im aktuell gültigen Sportentwicklungsbericht des Bundesinstituts für Sportwissenschaft heißt es, dass bereits jeder siebte Sportverein vor allem aus personellen Gründen existentiell bedroht sei. Wie brüchig ist das Fundament des organisierten Sports?
Diese Analyse ist aus meiner Sicht im Grundsatz zutreffend. Trotzdem würde ich Formulierungen ablehnen wie: das »Kulturgut Sportverein« sei »gefährdet« oder »bedroht«. Es ist für mich auch keine Krise, sondern eine bedeutende Herausforderung. Es stimmt, dieses System mit seinen drei Grundpfeilern Geld, Ehrenamt und Sportstätten ist unter Druck. Ich persönlich bewege mich bei der Einschätzung in der Mitte zwischen »alles ist gut« und Alarmismus. Was die Eindämmung der Bürokratie betrifft, braucht es vor allem Vereinfachungen in rechtlichen und steuerlichen Fragen. Weil das Steuerthema überwiegend in der Kompetenz des Bundes liegt, haben wir im Sommer – in Anlehnung an den Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) – ein 18-Punkte-Papier mit Forderungen vorgelegt. Manchmal sind es schon Details, die Erleichterung bringen.
Nämlich?
In der Hessischen Staatskanzlei gibt es seit neuestem einen »Entbürokratisierungsminister«, die bisher einzige Stabsstelle dieser Art in allen 16 Bundesländern. Damit haben wir einen direkten Ansprechpartner, um schnell etwas bewegen können. Unsere Vereine ohne hauptberufliche Mitarbeiter werden für die TV- und Radionutzung an den Beitragsservice des öffentlich-rechtlichen Rundfunks weiterhin keine Gebühren entrichten müssen – sie können dies zukünftig in den entsprechenden Formularen so vermerken.
Eine Großbaustelle sind die Sportstätten, von denen rund 20 Prozent sanierungsbedürftig sein sollen.
Diese Zahl ist eine plausible Schätzung. Seit vielen Jahren haben wir über unseren Geschäftsbereich Sportinfrastruktur für Vereine und für Kommunen verschiedene Beratungsangebote bei Sportstätten. Das reicht von der Sanierung über Neubauprojekte bis zum Ökocheck und zur Schulhofberatung für mehr Bewegung von Kindern und Jugendlichen im öffentlichen Raum. Dank unseres Beratungsteams sind wir mit der Materie sehr vertraut. Über viele Jahre hat das Land Hessen diesem Thema mit Förderprogrammen große Aufmerksamkeit gewidmet. Das ist landespolitisch eher die Ausnahme als die Regel. Auch die Landkreise sind, neben dem Land, den Kommunen und dem Landessportbund, ein spezifisch hessischer Akteur im bunten Teppich der Sportförderung. Unter diesen Umständen ist es noch ein Glück, dass wir hier nur über etwa 20 Prozent Sanierungsstau sprechen.
Klingt fast schon sarkastisch …
Die Sportstätten können aus meiner Sicht zur politischen Sollbruchstelle werden – ähnlich dem Zustand der Bahninfrastruktur und unserer Brücken, der mittlerweile landauf landab kritisch diskutiert wird, Thema in TV-Talkrunden ist und politische Dimensionen annimmt. Der Sanierungsbedarf bei Sportstätten, vor allem bei Bädern und Sporthallen, ist so groß, dass die Länder und Kommunen allein damit überfordert sind. Dieses Problem ist Bestandteil der allgemeinen Vernachlässigung unserer Infrastruktur und mit der traurigen Situation im Bereich der Verkehrswege vergleichbar. Wie dort ist die Dimension so groß, dass der Sanierungsstau ohne mehrjährige, verlässliche und angemessene Bundeshilfen nicht aufzulösen ist. Es gibt inzwischen niemanden mehr, der das bestreitet. Es wäre schlimm, wenn die Bundespolitik darauf erst ernsthaft reagiert, wenn es einen schweren Unfall mit Opfern gibt, weil ein Hallendach einbricht. Ein Beispiel: Bei uns im Hochtaunus sind schon mehrere Hallen aus den 1970er Jahren seit rund drei Jahren wegen Baumängeln gesperrt – der Sportunterricht entfällt weitgehend. Anderes Beispiel: Kinder verkneifen sich, auf die Toilette zu gehen und halten lieber durch, bis sie zu Hause sind, weil der Zustand der sanitären Anlagen unzumutbar ist.
Bundespolitische Lösungen hätte der »Entwicklungsplan Sport« herbeiführen können, Sie selbst haben in der AG »Zukunftsfähige Sport- und Bewegungsräume« mitgewirkt …
Dieses Forum unter anderem mit Vertretern mehrerer Bundesministerien wäre die Chance für einen großen Wurf gewesen. Doch im Verlaufe dieses einen Jahres bekam ich immer mehr den Eindruck, dass der Bund nicht genug Gestaltungskraft aktivieren kann oder will. Die Vertreter des Bundes spülten das Thema immer wieder weich, der Abschlussbericht entfernte sich sehr weit von den Beratungsergebnissen. So musste dieses Vorhaben im Frühjahr dieses Jahres zwangsläufig scheitern. Damit wurde eine große Chance vertan. Sehr zum Leidwesen auch des DOSB, der sich in diesen Prozess engagiert eingebracht hatte. Während das ganze Land den schlechten Zustand der Infrastruktur debattiert und Sanierungsoffensiven anmahnt, beendete die Bundesregierung das einzige verbliebene Sportstättenförderprogramm des Bundes – obwohl sich die »Ampel« im Koalitionsvertrag ausdrücklich zu ihrer Verantwortung für die Sportstättenversorgung bekannt hatte. Das ist mehr als irritierend.
Apropos DOSB. Was erwarten Sie vom Dachverband, der sein Hauptquartier im Frankfurter Stadtwald in unmittelbare Nachbarschaft zum LSB Hessen hat?
Die »Spezialimmobilienkategorie Sportstätte« ist bundespolitisch leider zum vergessenen Infrastrukturtyp geworden und für die Bundespolitik ganz offenkundig zu einem »blinden Fleck«. Es existiert dort nicht einmal ansatzweise eine stimmige Strategie. Was bei diesem enormen Sanierungsbedarf um so mehr überrascht, weil damit zugleich Impulse für die jeweilige regionale Bauwirtschaft ausgesandt werden, klimapolitische Ziele erreicht werden könnten und außerdem das Sportstättenthema bei der Bevölkerung positiv besetzt ist. Und ganz grundsätzlich gibt es den staatlichen Auftrag, für den am Gemeinwohl orientierten Sport und seine Vereine eine auskömmliche Infrastruktur bereitzustellen. Nach dem gescheiterten »Entwicklungsplan Sport« müsste für den DOSB der nächste Schritt sein, in Richtung Bund noch einmal energisch aktiv zu werden.
Andreas Klages (56) ist studierter Politikwissenschaftler und war beruflich in allen drei Sportverbandstypen tätig. Seit 2018 ist er Geschäftsführer des Landessportbundes Hessen. Zuvor war er 17 Jahre lang beim Dachverband Deutscher Sport Bund (ab 2006 dann beim DOSB) tätig und davor Geschäftsführer beim Deutschen Baseball- und Softballverband. Sein sportliches Zuhause ist der Baseballverein Mainz Athletics.
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