»Später Görli«
Von Susanne KnütterMit dem Kürzungsprogramm der Berliner Regierungskoalition kam der Winter in die Hauptstadt. Um das Berliner Abgeordnetenhaus weht ein eiskalter Wind, drin debattieren die Abgeordneten über den Haushalt für das nächste Jahr. Dawid Krause* und Christian Peplau vom Team Uppsala aus Pankow warten davor mit wärmenden Getränken auf die Demonstration der Kinder-, Jugend- und Freizeiteinrichtungen. Ihren kleinen Pavillon müssen sie festhalten, damit er nicht von den scharfen Böen weggezerrt wird. »In unser Haus kommen täglich 200 bis 300 Besucher aus ganz Berlin«, erklärt Peplau gegenüber jW. »Alt und Jung, Arm und Reich. Schulen und Kindergärten feiern ihre Feste bei uns.« Es gibt zahlreiche Tanz-, Musik-, Computerkurse und Werk stätten für Holz-, Keramik-, Näh-, Airbrush- und Druckarbeiten. »Wir haben das Glück, dass wir einen Förderverein haben«, erklärt er. Bei der Servicestelle Jugendbeteiligung sieht das anders aus. Sabrina geht davon aus, dass die Mittel für das Projekt um die Hälfte gekürzt werden. Jugendliche vom Jugendzentrum Queerdom befürchten die Schließung.
Mittlerweile müssen die Freizeiteinrichtungen, die etwa im Osten der Hauptstadt in den 1990er Jahren häufig aus privater Initiative entstanden sind, um Kindern und Jugendlichen wenigstens eine kleine Pause vom grauen Alltag nach der Wende zu bieten und den Wegfall der sozialistischen Freizeitangebote irgendwie zu kompensieren, jährlich um ihre finanzielle Unterstützung bangen. Erst Anfang 2024 waren die Jugendclubs aus Berlin-Mitte deshalb auf der Straße. Mit Erfolg. Diesmal sieht es enger aus. Aber nur 1.300 Menschen zogen nach Veranstalterangaben am Donnerstag vor das Abgeordnetenhaus.
»Eigentlich müssten wir alle permanent demonstrieren«, sagt Nicola Meyer*, Mutter von zehnjährigen Zwillingen, gegenüber jW. Sie hat ihre Kinder nach der vierten Klasse auf ein grundständiges Gymnasium gegeben, weil in der Grundschule am Prenzlauer Berg nach eigenen Angaben »kein Unterricht stattfindet«. Lehrer seien dauerhaft krank und »es gibt keinen Ersatz«. Der Notstand, der in Marzahn-Hellersdorf längst ausgehalten werden müsse, erreiche inzwischen die »Mittelklassebezirke«. Die Kinder könnten nicht schreiben und nicht rechnen. Die Schulen seien absolut unterversorgt. »Es ist bereits eine Mangelverwaltung. Trotzdem wird gekürzt …«
Tatsächlich wird da gekürzt, wo das Geld am nötigsten ist. Etwa zwei Millionen beim Bonusprogramm für besonders bedürftige Schulen, wie Philipp Dehne von »Schule muss anders« auf der Kundgebung erläutert. Er spricht von seiner Erfahrung als Lehrer, der er mittlerweile nicht mehr ist. Etwa acht Wochen habe er Unterricht in Kleingruppen machen können. Ein Schüler mit ADHS blühte auf, war der Beste in Mathe und half den anderen. Dann war Schluss. Wegen Personalmangel wurden die Kleingruppen gestrichen, der ADHS-Schüler musste wieder in die Großgruppe. Die Folge: Konflikte. Der Schüler habe die Klasse wechseln müssen, ihm sei ein Schulverweis angedroht worden, am Ende sei er ohne Abschluss von der Schule gegangen. »Menschliches Leid kommt genau von den Kürzungen, die da beschlossen werden sollen«, ruft Dehne in Richtung Parlament.
Und das sind noch nicht einmal die drastischsten Beispiele. Dieser Tage machte ein Brandbrief von Lehrern der Friedrich-Bergius-Schule in Friedenau Schlagzeilen, die infolge des hohen Gewaltlevels an der Schule an ihre Grenzen kommen. Im März dieses Jahres wurden Polizeistatistiken öffentlich, aus denen ein drastischer Anstieg von Polzeieinsätzen an Schulen hervorgeht. Im letzten Jahr rückte die Staatsgewalt demnach durchschnittlich fünfmal am Tag an eine von Berlins gut tausend Schulen aus. Meistens ging es um vorsätzliche einfache Körperverletzung, Bedrohungen, aber auch gefährliche Körperverletzungen, bei denen eine Art von Waffe eingesetzt wird. Insgesamt habe es bei den Straftaten im Vergleich zu 2019 (5.137) einen Anstieg von 19 Prozent gegeben, wie dpa damals berichtete.
Kürzungen bei der Bildung (370 Millionen Euro), Jugendarbeit (mindestens 8,5 Millionen) oder sozialen Programmen werden die sozialen Probleme verstärken. Und was dann? »Später Görli«, steht auf einem Schild, mit dem Sozialarbeiter aus dem Wedding die CDU und deren gespielte Angst adressieren. Aber die hat vorgesorgt: Bei Justiz und Polizei wird nicht gekürzt.
* Nachname geändert
Hintergrund: Bankrotterklärung
Im Oktober ist die Komische Oper Berlin bei den International Opera Awards noch als Opernhaus des Jahres ausgezeichnet worden. Nun ist Mitte November im Rahmen des Milliardensparprogramms für den Landeshaushalt geplant, auch die laufende Sanierung des Hauses im nächsten Jahr auszusetzen. Die dafür vorgesehenen zehn Millionen Euro sollen gestrichen werden. Der Senat verschiebt das Problem, löst es aber nicht. Das dürfte für das gesamte Kürzungsprogramm exemplarisch sein: Geld gespart, Baustelle bleibt.
»Der Senat schlägt ein neues Kapitel in der Stadtgeschichte auf, in dem durch die Schwerpunkte im Haushalt abzulesen ist, welchen Stellenwert die Kultur zukünftig in Berlin haben wird«, kommentierte der Künstlerische Leiter der Schaubühne, Thomas Ostermeier, das Sparprogramm. Die für die Schaubühne vorgesehenen Kürzungen von 1,8 Millionen Euro würden das Haus in seiner Substanz angreifen. Zudem sollen Personalausgaben durch Tarifaufwüchse in Höhe von 700.000 Euro nicht ausgeglichen werden, was zu einer Insolvenz der Schaubühne bereits Ende 2025 führen würde. Selbst für die renommierten Häuser der Stadt scheint also der Anfang vom Ende geplant. Von einer »absoluten Bankrotterklärung für den Kulturstandort Berlin« spricht Anne Zetsche, Kulturpolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke in der BVV Charlottenburg-Wilmersdorf, und verbindet ihre Betroffenheit sogar mit einer konkreten politischen Forderung: »Kürzungen von zwölf Prozent im Kulturbereich machen mich fassungslos (…) Wir sehen, wohin uns die schwarze Null gebracht hat. Darum sagen wir als Linke: Für ein Ende der Schuldenbremse! Vermögenssteuer jetzt!« (aha)
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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
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