»Viele berichten von Beschimpfungen und Gewalt«
Interview: Gitta DüperthalSeit Januar 2023 ist das Lieferkettengesetz in Kraft. Während Organisationen wie Inkota-Netzwerk kritisieren, es werde noch nicht richtig umgesetzt, drängen deutsche Unternehmen und ihre Verbände nach dem Ampel-Aus, es solle weg, weil es zu bürokratisch sei. Wie stellt sich das Ihnen aktuell dar?
Keineswegs die gesamte Wirtschaft drängt darauf, das Gesetz auszusetzen. Manche Unternehmen und Verbände sprechen sich für den Erhalt aus. Zumal es schon einiges bewirkt hat. Einige Firmen setzen Personal ein, um in den Ländern, in denen sie Zulieferer haben, Risiken dort allgemein bekannter Menschenrechtsverletzungen zu erforschen und ihre Produktionsschritte daraufhin zu überprüfen. Geschäftsleitungen und Rechtsabteilungen sollten zwar besser einbezogen werden, einige sitzen aber auch schon mit Gewerkschaften am Verhandlungstisch. Von erstmalig positiven Veränderungen dazu berichten Gewerkschafter aus Pakistan. Angekommen ist das in Fabriken, Gerbereien oder auf Baumwollplantagen in Form von tatsächlich verbesserten Arbeitsbedingungen allerdings noch nicht. Das braucht mehr Zeit.
Dennoch steht das Gesetz auf der Kippe, das von Unternehmen verlangt, zu dokumentieren, wenn Zulieferbetriebe im Ausland Produkte etwa mit Hilfe von Kinder- oder Zwangsarbeit herstellen oder Umweltstandards missachten. Wer ist politisch verantwortlich?
Große Verbände wie die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und die FDP machen dahingehend Druck. Grüne und SPD äußern sich oft unklar, mitunter widersprüchlich. Das Gesetz jetzt wieder aussetzen zu wollen, wäre Wahnsinn. Ohnehin müssen deutsche Unternehmen das Europäische Lieferkettengesetz bis 2026 umsetzen. Jetzt alles wieder abzuändern, würde für sie und die Kontrollbehörden noch mehr Bürokratie verursachen.
Welche Marktposition haben die Unternehmen, deren Berichte Sie gemäß Lieferkettengesetz für Ihre neue Studie analysiert haben? Und sollte man glauben, was darin geschrieben steht?
Wir haben uns bereits veröffentlichte Berichte von relevanten Unternehmen der Schuh- und Kleidungsbranche angesehen; zumindest etwa 25 weitere fehlen nach unseren Recherchen noch. Aus unserer Sicht müssten sie vollständiger sein, entsprechen aber wohl der Realität. Wäre es die Unwahrheit, würden sich die Unternehmen der Kritik aussetzen: Sie wissen, dass die Behörden und wir NGOs vieles überprüfen.
Welche Probleme gibt es?
In unserer neuen Studie berichten 68 Prozent der Befragten von Beschimpfungen in Fabriken, ein Viertel gar von physischer Gewalt. Viele berichten, nur den Mindestlohn zu erhalten, davon ihre Existenz kaum fristen zu können, obwohl sie ständig Überstunden leisten und laut Gesetz mehr erhalten müssten. Indische Arbeiter in Schuh- und Lederfabriken erleben Diskriminierung und fürchten den Verlust ihrer Arbeitsplätze, wenn sie sich beschweren. Berichte zu solchen Fällen von den Unternehmen sind häufig unkonkret. Erkennbar wird oft nicht, um welche Risiken oder tatsächliche Menschenrechtsverletzungen es sich genau handelt; um welche Stellen es dabei geht – ob Schuh- oder Bekleidungsfabriken, Gerbereien, eine Einzelhandelsfiliale oder ein Distributionsunternehmen im Verantwortungsbereich des Unternehmens –, und auch nicht, was man konkret dagegen tut.
Drohen Sanktionen bei Verstoß gegen das Gesetz?
Bei eklatanten Verstößen sind Bußgelder oder Ausschluss von der Vergabe öffentlicher Aufträge vorgesehen. Wird das europäische Gesetz ins deutsche Gesetz überführt, wird dies Betroffenen leichter ermöglichen, bei Gerichten zu klagen.
Was ist zu tun, damit das Gesetz weder abgeschwächt, noch abgeschafft wird?
In der aktuellen Legislaturperiode rechnen wir nicht damit, dass das Gesetz ausgehebelt wird; haben aber auch kaum Hoffnung, dass das deutsche an das europäische Gesetz angepasst wird. Inkota und die Initiative Lieferkettengesetz ermutigen Menschen in den Produktionsländern, sich darauf zu berufen.
Anne Neumann ist Referentin für Wirtschaft und Menschenrechte bei Inkota.
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