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Zur Deindustrialisierung

Von Lucas Zeise
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Unter den »Fünf Mythen über die Wirtschaftsmisere« führten die FAZ-Autoren Patrick Bernau und Alexander Wulfers zum Wochenbeginn gleich zweimal die hohen Energiekosten und den bösen Putin auf. Das sei nicht das Hauptproblem für Deutschland, argumentierten sie und wiesen sympathischerweise auf fehlende Wohnungen, das schlechte Bildungssystem und die wegen fehlender öffentlicher Investitionen verfallende Infrastruktur als Gründe für die akute Misere hin. Sie haben recht, dass die teure Energie nicht das einzige Problem ist, aber es bleibt richtig, dass Olaf Scholz’ »Zeitenwende« im Februar 2022 mit dem Wirtschaftskrieg gegen Russland einen lange bestehenden Wettbewerbsvorteil des deutschen Industriekapitals beseitigte, über eine relativ billige und stabile Energiezufuhr zu verfügen.

Halb so schlimm, sagen neoliberale und grüngefärbte Ökonomen. Moderne Volkswirtschaften seien ohnehin von schrumpfender Industrie und einem wachsenden Dienstleistungssektor geprägt. Sie haben insofern recht, als die Statistiken langfristig einen steigenden Anteil des Dienstleistungssektors am Bruttoinlandsprodukt auf Kosten der Industrie in den weit entwickelten kapitalistischen Ländern zeigen. Auch der Anteil der Beschäftigten im Dienstleistungsgewerbe an der Gesamtzahl des Landes steigt. Deutschland ist in dieser Hinsicht ein Ausreißer. Laut Weltbank betrug 2022 der Anteil der Industrie am BIP in Frankreich, Britannien und den USA zwischen 17 und 18 Prozent, in Deutschland (und Japan) aber zwischen 27 und 28 Prozent.

Nach Ansicht dieser Denkschule sind Deutschland und Japan die Nachzügler einer ohnehin fälligen Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft. Dienstleistungen sind auch deshalb der größte Wirtschaftssektor, weil sie viele unterschiedliche Branchen umfassen, vom Warenhandel über Transport und Kommunikation, Gesundheits- und Bildungswesen, Gaststätten, Friseure, Hausmeisterei und Agenturen bis zu Versicherungen und Banken und deren kunstvoller Aufblähung.

Der statistisch wachsende Dienstleistungssektor dürfte also auch von der Tendenz der Industriekonzerne beeinflusst worden sein, manche Dienstleistungen (wie Reinigung, Kantinen, Auslieferung, Reparatur und vor allem Marketing) auszugliedern. Wichtiger noch ist die Verlagerung der Produktion ins Ausland, sprich der Kapitalexport. Ob die Textilfirmen seit Jahrzehnten Hemden und Autositzbezüge in Süd- und Ostasien anfertigen lassen oder ob Apple heute seine I-Produkte in China und Umgebung produzieren lässt, in beiden Fällen wächst die Zahl der industriell Beschäftigten in Asien, während (nur) der Profit aus indus­trieller Tätigkeit im altkapitalistischen Kernland verbleibt.

Mainstreamökonomen stellen andererseits fest, dass die Industrieproduktion der wesentliche Treiber für das Wachstum von Volkswirtschaften bleibt. Das erklärt auch die besondere Sorge, die die Politik diesem zentralen Bereich der kapitalistischen Volkswirtschaft zuwendet. Dass Deutschland mit dem Wirtschaftskrieg gegen Russland und der dauerhaften Verteuerung seiner Energiezufuhr einen großen Schritt in die Deindustrialisierung geht, versetzt deshalb die weiterblickenden Teile der herrschenden Klasse in Unruhe.

Unser Autor ist Finanzjournalist und Publizist. Er lebt in Aachen

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (25. November 2024 um 14:45 Uhr)
    Wenn man den angeblichen Verlust des »lange bestehenden Wettbewerbsvorteil des deutschen Industriekapitals« beklagt, sollte man nicht verschweigen, dass dieser Vorteil in erster Linie durch den durch die Agenda-»Reformen« neu geschaffenen Niedriglohnsektors erzielt wurde. Und wenn man sich so für den Wettbewerbsvorteil der Kapitalisten ins Zeug wirft, müsste man konsequenterweise die Arbeiter zum Lohnverzicht auffordern. »Dass Deutschland mit dem Wirtschaftskrieg gegen Russland und der dauerhaften Verteuerung seiner Energiezufuhr einen großen Schritt in die Deindustrialisierung geht, versetzt deshalb die weiterblickenden Teile der herrschenden Klasse in Unruhe«. Wackelt etwa doch der Schwanz mit dem Hund, wie Zeise schon im verlinkten Artikel vom 04.10.2024 angedeutet hat? Viel wahrscheinlicher ist, dass die »weiterblickenden Teile der herrschenden Klasse« diesen Kriegskurs angeordnet haben und bewusst in Kauf nehmen, dass der ein oder andere Betrieb dabei auf der Strecke bleibt. Die Kosten dieses abenteuerlichen Kurses werden ohnehin der Arbeiterklasse aufs Auge gedrückt. Die Wohnungsvermieter können die »Verteuerung der Energiezufuhr« an die Mieter weitergeben.
  • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (25. November 2024 um 12:13 Uhr)
    »Dienstleistung« impliziert zwei Grundvoraussetzungen: Erstens eine hinreichende Anzahl von Menschen, die zu »dienen« bereit und fähig sind sowie zweitens eine entsprechende Gruppe Gutbetuchter, die sich diese »Dienste« auch leisten können. Fatales Langzeitergebnis: Ein zunehmend asymmetrisch werdendes Gesellschaftsmodell des Neo-Feudalismus: »Geldadel« versus »Tagelöhner«. Und wo bleibt die originäre Wertschöpfung einer solchen »Volkswirtschaft«? Selbst wenn wir uns alle gegenseitig die Füße waschen und die Schuhe zubinden, mag das ja vielleicht »gottgefällig« sein, jedoch würde davon kein einziger von uns satt werden. Und auch Bits und Bytes lassen sich nicht zwischen die Zähne schieben und darauf herumkauen. Vom tertiären Sektor allein vermag kein Staat ökonomisch zu existieren. Ich kann dieses unreflektierte, dilettantische und dümmliche Gelaber von der »modernen Dienstleistungsgesellschaft« daher einfach nicht mehr hören!
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (23. November 2024 um 15:25 Uhr)
    Das Dienstleistungvorzeigeland macht es vor: RBI – Rust Belt Initiatve. Donald Trump will wieder great werden, vom rostigen zum rußigen Bruder. Da reicht der Biggest Mac nicht, da muss schon ein Hummer her. Kurz: Reindustrialisierung (mittels Zollschutzschranken) ist das neue US-Wirtschaftsdogma und einen Überbaueffizienzminister gibt es auch (fast) schon. Ein paar Rohre wegsprengen dämpfte zusätzlich die Konkurrenz: Wie man sieht, die Arbeitsteilung zwischen Demokraten und Republikanern funktioniert.

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