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Aus: Ausgabe vom 23.11.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Ein Netz aus Liebe

Tarantula tanzt Tarantella im Pariser Wohnblock: Sébastien Vaničeks Spielfilmdebüt »Spiders – Ihr Biss ist der Tod«
Von Norman Philippen
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Kein ungiftiges Mitbringsel: Die Spinne der Liebe, die alles wandelt

Lew Nikolajewitsch Tolstoi mag etwas spinnert gewesen sein, doof war er nicht. Könnte schon stimmen, dass »das beste Mittel, glücklich zu werden, ist, wie eine Spinne aus sich heraus nach allen Seiten ein Netz aus Liebe zu spinnen und mit dessen klebrigen Fäden alles einzufangen, was des Weges kommt.« Auch Naturbursche William Blake sponn in Mensch-Spinne-Zusammenhängen nicht lange rum: »Dem Vogel ein Nest, der Spinne ein Netz, dem Menschen Freundschaft« lautet eines seiner »Proverbs of Hell«.

Wer diesen Bonmots, Pardon, ins Netz geht, könnte sich auch leicht in den für ein Fiese-Viecher-Feature bonfortionös gesponnenen Handlungsfäden von »Spiders – Ihr Biss ist der Tod« (Originaltitel »Vermines«) verfangen. Kein Spinner ist aber, wer Sébastien Vaničeks Spielfilmdebüt einen vollumfänglich funktionierenden Füße-­hoch-Arachnohorror-Schocker mit einigermaßen eingelöstem sozialkritischen Anspruch nennt.

Urängste (vor, pfui!, Spinnen!, vielen, großen, rasend schnellen Spinnen) werden geschickt getriggert. Urbedürfnisse (nach Liebe, Freundschaft) werden nicht in einem Juste Milieu befriedigt, sondern in einem »postmodernen Angstmilieu« (Resilienzjargon) eingefordert. Schrillend alarmierende Todeskämpfe im Spinnennetz und gegen die Spinnen finden in den »Camemberts« statt, den 540 Sozialwohnungen der Arènes de Picasso im Pariser Vorort Noisy-le-Grand. In diesem Wohnblock geht es hart, aber solidarisch zu.

Der Exdealer und Terrarienfreund Kaleb (Théo Christine), der nach dem Tod der Mutter mit seiner Schwester Lila (Sofia Lesaffre) im Block lebt, ist ein guter Junge (wenige Szenen genügen, das zu zeigen). Er vertickt zwar noch Sneakers, ist aber stets hilfsbereit um die Erhaltung von Frieden und Freundschaft bemüht, auch wenn es ihm – wie allen anderen im Block – oft schwerfällt, »nach allen Seiten ein Netz aus Liebe zu spinnen«. Jedenfalls kauft Kaleb eine »Rihanna« genannte Wüstenspinne, von der von Beginn an klar ist, dass die kleinen Spinnen aus »Arachnophobia« (Frank Marshall, 1990) gegen sie mal kurz kacken gehen können, nicht in böser Absicht. Zumindest nicht, um den lieben Nachbarn den Tod auf acht Beinen in die Camemberts zu bringen. Es treibt ihn die (falsche?) Liebe zum Tier. Aber handelt es sich bei dem Tier, das durch den Lüftungsschacht ins Bad der Nachbarn fieselt, überhaupt um die vom Turnschuhhändler erworbene Rihanna? War die nicht wesentlich kleiner? Und was ist mit den vielen kleinen Spinnen, die aus dem getöteten Muttertier herausflitzen?

Da hat Kaleb – »Bro, wir sind nicht gegen dich, sag es uns einfach: Ist das deine Spinne?« – dem Freundes- und Nachbarschaftsnetzwerk wohl einiges zu erklären. Wenn dafür doch bloß mehr Zeit bliebe, während die Arachnoiden das ganze Gebäude in nur für sie aparte Weise vom ersten bis zum fünfzehnten Stock vollspinnen. Und wenn zwischendurch nicht noch so einiges andere ausgesprochen, beweint, verziehen, wieder verbandelt werden müsste. Dass es dabei nicht zu schwereren Verkitschungen, sondern sogar zu einer der herzzerreißendsten Fuck-me!-Mein-Freund-wird-von-einer-Kreatur-gekillt-die-ihn-zum-Wirtskörper-macht-Szenen der Filmgeschichte kommt, ist nur einer der vielen Vorzüge des Films. Minutenlang, am Ende in totaler Schwärze, wird hier markerschütternd der Tod eines Protagonisten beschrien, dessen Schreie aus dem Nebenraum auch nicht verstummen wollen. Vorzüglich auch das Tempo des Films. Kaum denkt man, och nee, Klimax war schon, jetzt heulen Bruder und Schwester wegen Mutti – zack, geht’s noch mal richtig los.

Auf Hilfe von außen können die Freunde und Nachbarn nicht hoffen. Die Suche im, klar, Web, ergibt nur eine (schlechte) Erklärung für den Riesenwuchs der Spinnen (»Wie bei Darwin? … Na, was du vorhin gesagt hast, Arten passen sich an und werden größer«). Und für die Leute in den Camemberts interessiert sich sowieso kein Schwein – zwei X-Meldungen, keine Presseberichte. Die Polizei hält nicht nur die Türen des Gebäudes dicht. Und überhaupt Polizei: »Baise la Police!«: »Ich bitte die Cops nicht um Hilfe, ist eine Frage der Ehre« – »Was für Ehre, hast du dich jemals ehrenhaft verhalten?« – »Gerade können uns nur die Cops helfen.« – »Uns können nur die Cops helfen? Was ist das für ein Scheiß?« Die Polizei ist mit ihren Gasgranaten in der Tat wenig hilfreich. Und so muss es dann vor dem endgültigen Showdown zwischen Mensch und Spinnentier noch zu einer hübschen Prügelei mit den Bullen kommen, dass es eine so nur selten auf Leinwand gesehene Freude ist.

Für das Horrorgenre sind selbst die nicht so dollen Dialoge ausreichend. Sounds und Soundtrack stimmen auch. Die Spinnen hätten sicher auch eine Nummer kleiner funktioniert, aber sei’s drum. Eine gelungene Genreerweiterung, die in Frankreich zu Recht die Kinokassen klingeln ließ. Kein Wunder, dass Horror-Regie-Held Sam Raimi sich Sébastien Vaniček als Regisseur für den nächsten Teil der »Evil Dead«-Reihe gesichert hat.

»Spiders – Ihr Biss ist der Tod«, Regie: Sébastien Vaniček , Frankreich/USA 2023, 106 Min., bereits angelaufen

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