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Aus: Ausgabe vom 23.11.2024, Seite 4 (Beilage) / Wochenendbeilage
WE-Reportage: Argentinien

Geteiltes Rosario

In Argentiniens drittgrößter Stadt herrschen Drogenkriminalität und Gewalt. Betroffen ist vor allem das indigene Viertel Los Pumitas
Von Frederic Schnatterer
Über den Fluss Paraná werden 80 Prozent aller argentinischen Exporte transportiert, inklusive illegalisierter Drogen
Das Gemeinschaftszentrum Qadhuoqte ist das Herz von Los Pumitas
Klein und aus rotem Backstein: In diesen Häusern sollen die Drogen umgeschlagen werden

Am Eingang zu Los Pumitas steht ein Posten der Gendarmerie. Mit schweren Waffen ausgerüstet, blicken die argentinischen Polizeikräfte nur ernst ins Autoinnere, als wir langsam vorbeifahren. Angehalten werden wir nicht. Der schmale Weg, der von der Hauptstraße in das Viertel Los Pumitas abzweigt, ist nicht asphaltiert. Der alte Ford Fiesta, dessen Fenster teilweise nicht mehr richtig schließen, ruckelt über die Schlaglöcher und die herumliegenden Steine. Es geht an kleinen Häuschen vorbei, gebaut aus rotem Backstein und Wellblech.

Im Viertel herrscht Betrieb: Kinder kicken sich inmitten herumliegenden Mülls einen Fußball zu, Motorräder schlängeln sich zwischen ihnen hindurch, eine Ecke weiter werden Gemüse und andere Lebensmittel verkauft. Der Laden ist ein Treffpunkt des Viertels: Jugendliche sitzen zusammen, trinken etwas, und hören laute Musik. Nur wenige Meter weiter wurde am 5. März 2023 Máximo Jeréz getötet.

Gerade einmal elf Jahre alt, wurde der Junge von einer Kugel getroffen, als er gerade an einem Kiosk eine Erfrischung kaufen wollte. Die Schüsse wurden aus einem schwarzen Auto mit abgedunkelten Scheiben abgegeben. Wer die Täter waren, ist Gegenstand von Ermittlungen. Doch die Bewohner von Los Pumitas sind sich sicher, die Verantwortlichen zu kennen. Nach der Beisetzung von Máximo entlädt sich ihre ganze Wut: Sie greifen Häuser an, in denen Drogen verkauft werden sollen, zerstören sie und legen Feuer. Die »Bunker« genannten Verkaufsstellen gehören der Drogenbande »Los Salteños«. Erst die Polizei stoppt die aufgebrachten Nachbarn.

Vom Staat abgehängt

Zuvor sei das Leben im Viertel immer ruhig gewesen, erzählt Silvana Talero. »Das änderte sich erst mit dem Tod von Máximo.« Wir sitzen in den Räumlichkeiten des Gemeinschaftszentrum Qadhuoqte, dem Herzen von Los Pumitas. »Qadhuoqte« bedeutet in der Sprache der indigenen Qom, dem Qomlaqtaq, »Basis« oder »Fundament«. Silvana gehört der Gemeinschaft an, die ursprünglich aus dem Norden Argentiniens stammt. Ab Ende der 1980er migrierten viele Qom aus der Provinz Chaco in die Großstädte des Landes, auch nach Rosario. Am nordöstlichen Rand der drittgrößten Stadt Argentiniens bauten sie das Viertel Los Pumitas auf. Hier sind sie organisiert, um für bessere Wohn- und Lebensverhältnisse zu kämpfen. Denn obwohl sie seit 2004 vom Staat als indigene Gemeinschaft anerkannt sind, fehlt es noch immer am Grundlegendsten. Neben den unvollendeten Straßen ist auch der Anschluss an die Strom- und Wasserversorgung nur notdürftig.

Der Mord an Máximo sei die Folge einer Auseinandersetzung zwischen zwei rivalisierenden Drogenbanden gewesen, erklärt Silvana. Sie ist an der Produktion des Community-Radios beteiligt, in dessen Studio wir sitzen. Neben dem Radio bietet das Gemeinschaftszentrum eine ganze Reihe weiterer Aktivitäten an. So können Jugendliche und Erwachsene des Viertels im Erdgeschoss einen Schulabschluss nachholen oder eine Ausbildung als Schneiderin, Friseur oder Elektrikerin absolvieren. Schulkinder aus dem Viertel bekommen hier an mehreren Tagen der Woche etwas zu essen. Nur wenige Meter weiter liegt der Fußballplatz von Los Pumitas, auf dem der Klub der Gemeinschaft kickt.

Am Rand des Platzes erinnert heute ein großes Wandbild an Máximo. Der Junge spielte hier regelmäßig, so auch an dem Tag, an dem er getötet wurde. Silvana sagt, er – ein »völlig unbeteiligtes Kind« – sei erschossen worden, um eine konkurrierende Gang aus dem Viertel zu vertreiben. »Das war die Strategie der Narkos, und sie ist aufgegangen.« Die Bewohner von Los Pumitas hätten die andere Bande aus dem Viertel gejagt. »Sie haben sie aus den Häusern vertrieben, die sie hier in der Gegend hatten.« Nur zwei Häuser neben dem Gemeindezentrum stehen die Reste eines der Gebäude, die als Drogenverkaufsstelle genutzt worden sein sollen. Übrig sind nur noch die Grundmauern, um sie herum liegen Schutt und Plastikmüll. Teils haben Pflanzen den Raum wieder zurückerobert.

Plötzlich war das Viertel in aller Munde. Neben argentinischen Medien berichtete im März 2023 auch die internationale Presse über die Ereignisse. Los Pumitas wurde zum Sinnbild für die Sicherheitskrise in Rosario – und für den Aktionismus der Politik. Vor allem die neue Regierung unter Javier Milei, die am 10. Dezember 2023 ihr Amt angetreten hatte, machte die Bekämpfung der Narkokriminalität schnell zu einem ihrer Aushängeschilder. Nach nur acht Tagen im Amt besuchte Sicherheitsministerin Patricia Bullrich, die als Hardlinerin gilt, Los Pumitas. Von der Presse ließ sie sich mit Bundeskräften der Polizei auf den Straßen des Armenviertels ablichten. Auch ein Gespräch mit dem Vater des getöteten Máximo Jeréz gehörte zur Show.

Bei einem offiziellen Akt am Monumento Histórico Nacional a la Bandera, einem pompösen Bau zu Ehren der argentinischen Nationalflagge am Ufer des Flusses Paraná, hatte sie zuvor zusammen mit dem Gouverneur der Provinz Santa Fe, Maximiliano Pullaro, den »Plan Bandera« verkündet. Der sieht eine bessere Koordination von Provinz- und Nationalregierung im »Kampf gegen die organisierte Kriminalität« vor. So wurde die Zahl der Polizeikräfte deutlich aufgestockt, darunter auch durch solche, die der Nation unterstehen. Außerdem wurde das Militär angeordnet, bei der Bekämpfung der Narkokriminalität logistische Unterstützung zu leisten. Laut argentinischer Verfassung ist der Einsatz der Armee im Landesinneren in den meisten Fällen verboten.

Nach außen ruhig

Weniger als ein Jahr später, Ende September, veröffentlicht die Generalstaatsanwaltschaft von Santa Fe eine Statistik, laut der die Zahl der Tötungsdelikte in der Provinz 2024 die niedrigste der vergangenen zehn Jahre ist. Demnach wurden im Zeitraum vom 1. Januar bis zum 25. September insgesamt 132 Menschen ermordet. 100 und damit 76 Prozent der Fälle entfallen auf Rosario. Seit sie systematisch erhoben werden, waren es nie weniger Morde. Im Vergleich zum Vorjahr gingen die Tötungsdelikte demnach um 43,7 Prozent zurück. Bereits Anfang September war die Erfolgsmeldung verkündet worden, dass der August der erste Monat überhaupt ohne Mordopfer gewesen sei.

Auch wenn im Oktober wieder Morde registriert wurden: Die Zahlen sind bemerkenswert. Zu Beginn des Jahres hatte eine Welle an Gewalttaten Rosario in die Schlagzeilen gebracht. Das Handelsblatt berichtete im März, in Rosario würden »wahllos« Zivilisten erschossen, es herrsche der Ausnahmezustand. Drogenbanden hätten dem Provinzgouverneur Pullaro »den Krieg erklärt«. Zuvor waren innerhalb weniger Tage wohl zufällig ausgewählte Personen – zwei Taxifahrer, ein Busfahrer und ein Mitarbeiter einer Spedition – getötet worden. Als Erklärung gaben offizielle Stellen an, dass es sich um eine Reaktion der Drogenbanden auf eine Erschwerung der Haftbedingungen für ihre Bosse kurz zuvor gehandelt habe.

In den Innenstadtbezirken von Rosario ist zwar immer wieder Polizei zu sehen. Die Stimmung ist heute jedoch völlig friedlich. Leute treiben Sport, trinken Matetee oder gehen mit ihrem Hund spazieren – das Bild einer normalen argentinischen Großstadt an einem angenehm sonnigen Tag. Besonders die langgezogene Promenade am Ufer des breiten Paraná lädt zum Verweilen ein. Gerade in der privilegierten Lage von Rosario am Ufer des Paraná und damit an der wichtigsten Wasserstraße des Landes liegt allerdings auch ein Grund dafür, dass die Stadt in den vergangenen Jahren vor allem mit Drogengewalt Schlagzeilen gemacht hat. Über die Wasserstraße werden 80 Prozent aller argentinischen Exporte transportiert, vor allem landwirtschaftliche Produkte. Doch es sind zunehmend auch illegalisierte Drogen, die über den Paraná auf andere Kontinente wie Europa verschifft werden. Dadurch gewann auch Rosario als Umschlagplatz für beispielsweise Kokain an Bedeutung.

Der Sekretär für öffentliche Ordnung von Santa Fe, Omar Pereira, hat einen deutlich technischeren Blick auf das Problem. Gekleidet in einen Anzug und mit einer weinroten Krawatte, die vor dem strahlend weißen Hemd heraussticht, sitzt Pereira hinter einem massiven Schreibtisch aus Holz in seinem Büro am Regierungssitz im Zentrum der Stadt. Hinter ihm steht eine argentinische Flagge, am Revers seines Jacketts hat er einen Pin mit den Umrissen der Inselgruppe Malwinen angeheftet. Pereira ist Exmilitär und Veteran des Krieges gegen Großbritannien 1982 um die Atlantikinseln, die auf englisch Falklands genannt werden.

Seine militärische Herkunft ist Pereira nicht nur anzusehen. Auch sein Denken, das wird in seiner Wortwahl deutlich, verläuft in militärischen Bahnen. Um die Unsicherheit in der Provinz und deren Hauptstadt Rosario zu beschreiben, nutzt er drastische Begriffe: »Wir befinden uns an der Grenze zu dem, was man als Terrorismus bezeichnen könnte.« Gouverneur Pullaro und Sicherheitsministerin Bullrich hätten »verstanden, dass es im Bereich der Sicherheit und der Verteidigung darum geht, Krieg zu führen«. Nachdem die Stadt »befriedet« worden sei, gehe es nun, »in Phase zwei«, um die »Konsolidierung und Aufrechterhaltung« des Erreichten. Obwohl die Gewalt in den vergangenen Monaten merklich zurückging, verlängerten Provinz- und Nationalregierung den »Plan Bandera« im Oktober um drei Monate.

Bis zur nächsten Explosion

Martín Stoianovich sieht in derlei Maßnahmen in erster Linie Symbolpolitik. Der junge Journalist, der sich seit Jahren mit der Bandenkriminalität in Rosario beschäftigt, bescheinigt den Regierenden »sowohl auf der Provinz- als auch auf der nationalen Ebene«, die öffentliche Meinung »sehr gut zu lenken«. In einem unscheinbaren Café etwas außerhalb des Zentrums von Rosario gibt Stoianovich zu bedenken: »Mit einer Sicherheitspolitik der harten Hand kannst du zwar auf kurze Sicht Erfolg haben. Wenn du allerdings keine weiteren Rezepte hast, ist es nur eine Frage der Zeit, bis den Kids wieder eine Waffe in die Hand gegeben wird.« Denn die soziale Ungleichheit und die Perspektivlosigkeit großer Teile der Bevölkerung würden von der Politik nicht angegangen. »Geht man in die Schulen, trifft man auf völlig überforderte Lehrer. Geht man in die Gesundheitszentren, trifft man auf völlig überarbeitetes Personal.« Auch gegen den Konsum von Drogen werde wenig bis nichts unternommen.

An den Tischen um uns sitzen nur wenige Gäste. Trotzdem senkt Stoianovich immer wieder seine Stimme, so als wolle er nicht, dass andere ihn hörten. Rosario bezeichnet er als »eine Stadt, die aus Sicht der Mächtigen erzählt wird«. Auch die Medien hinterfragten die offizielle Erzählung nur selten, »vielleicht auch aus Angst«. »Das ist der Punkt, an dem bei mir die Alarmglocken läuten«, sagt Stoianovich. Zwar könne nicht geleugnet werden, dass die Zahl der Tötungsdelikte rückläufig sei. Doch der Umstand, dass weiterhin viele Drogen im Umlauf seien, lasse ihn am offiziellen Narrativ zweifeln, laut dem die Banden zurückgedrängt wurden.

Stoianovich stellt offene Fragen, auf die er selbst keine Antwort hat: Wer ist dafür verantwortlich, dass auf den Straßen weiter Drogen angeboten werden? Gibt es neue Akteure? Oder gibt es eine Art Pakt zwischen Banden und der Regierung, die Füße stillzuhalten? Und welche Rolle spielt dabei die Provinzpolizei, die als eine der korruptesten des ganzen Landes gilt? Die Justiz, soviel ist sicher, beschäftige sich mit derlei Fragen nicht. Auch weil die marginalisierten Viertel, in denen ein Großteil der Gewalttaten verübt wird und die Drogen konsumiert werden, nicht wirklich als Teil von Rosario wahrgenommen würden. »Rosario ist eine geteilte Stadt. Was in den Barrios geschieht, ist so lange nicht Teil von Rosario, bis es explodiert«, sagt Stoianovich, bevor er einen Schluck Kaffee nimmt.

So wie im März 2023 in Los Pumitas. Während wir im oberen Stockwerk des Gemeindezentrums sprechen, patrouillieren immer wieder Polizeikräfte auf der Straße vorbei. Es soll Präsenz gezeigt werden. Silvana und ihr Vater Óscar, der Vorsitzender der Qom-Gemeinde von Los Pumitas ist, sehen die Maßnahmen allerdings vor allem als symbolisch. Während an einem Zugang zum Viertel Gendarmen stünden, seien die anderen Eingänge völlig unbewacht. Und ohnehin, gibt Silvana zu bedenken, habe sich grundlegend nichts geändert. »Es gibt zwar weniger Morde, aber der Drogenhandel und die Überfälle sind geblieben.«

Auch Silvana glaubt, dass die Polizei mit den Banden unter einer Decke steckt. Deshalb, und weil sie es gewohnt sind, mit ihren Problemen alleingelassen zu werden, vertrauen sie, ihr Vater Óscar und die Qom-Gemeinschaft von Los Pumitas nur auf sich selbst. »An wen sollen wir uns wenden?« fragt Óscar. Sobald der Medienrummel vorbei sei, blieben sie wieder auf sich allein gestellt. »Wir versuchen, weiterzumachen und das Glas Milch, die Ausbildungskurse, den Unterricht, den Fußball anzubieten.«

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