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Aus: Ausgabe vom 25.11.2024, Seite 15 / Politisches Buch
Churchill

Beduselt abwärts

Franziska Augsteins Churchill-Biographie versammelt vor allem Anekdoten und lässt viele historische Zusammenhänge außen vor
Von Arnold Schölzel
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Winston Churchill am Tag der Krönung von Elisabeth II. in London (2.6.1953)

Die »offizielle« Biographie Winston Churchills (1874–1965), die von seinem Sohn begonnen wurde, umfasst acht Bände mit ungefähr zehntausend Seiten. Hinzu kommen 23 Begleitbände mit Churchills Schriften. Außerdem existieren zahlreiche umfangreiche Churchill-Biographien, die fast durchweg mehr oder weniger ausgeprägt mit dem zweimaligen britischen Premierminister sympathisieren. Sympathie mit ihm durchzieht auch die knapp 600 Seiten der Lebensbeschreibung, die Franziska Augstein nun vorgelegt hat. Der erste Satz dieses Buches lautet: »Winston Churchill war großartig.«

Die Publizistin erläutert: »Er war großartig darin, seine Meinung zu ändern. Er war großartig in seiner Sprunghaftigkeit, in seiner Ungeduld und in seinem Opportunismus.« Und so weiter. Die Verehrung wird hier und da allerdings eingeschränkt, und die Lektüre des Buches lässt den Leser letztlich sogar ratlos zurück: Denn Churchill war, legt Augstein dar, der verzogene Abkömmling einer Aristokratie, die auf der britischen Insel seit rund 800 Jahren für eine fast kontinuierliche Herrschaft steht (was sich historisch-materialistisch angesichts aller ökonomischen Wandlungen schlecht erklären lässt). Die Beständigkeit ihres Daseins hat in dieser Klasse eine Arroganz gegenüber den arbeitenden Klassen und den kolonialisierten Völkern entstehen lassen, die ebenfalls an Beständigkeit ihresgleichen sucht. Churchill, der von seinem Vater, dem 7. Herzog von Marlborough, nichts Materielles geerbt hatte, trat eine überreichliche Erbschaft an Klassen- und Herrschaftsbewusstsein, Rassismus, Begeisterung fürs Abschlachten fremder Völker und für das darauf gegründete Kolonialreich an. Das alles lässt sich bei Augstein finden, dennoch nennt sie ihn eine »tragische Figur«, weil Churchill auch das Ende des britischen Imperiums herbeigeführt habe. Daran waren, lässt sich aber in aller Kürze sagen, wohl noch einige andere historische Tendenzen beteiligt, denen selbst ein Blutsäufer wie Churchill sich beugen musste – zu nennen ist hier vor allem die russische Oktoberrevolution mit allen Impulsen, die von ihr ausgingen.

Übergreifende historische Entwicklungen, die auf realen Kämpfen wie den antikolonialen Befreiungskriegen beruhten, kommen leider in diesem Buch nur am Rande und oberflächlich vor. So schreibt Augstein zum Beispiel über das »Empire«, es sei wegen seiner Zerstreuung über den Globus »amorph« gewesen und »das imperiale Selbstverständnis« widersprüchlich. Das ist mehr als beschönigend. Nach ihr ging es der britischen Krone lange um die Bekämpfung Spaniens, die britische Marine habe erst während der Bekämpfung des revolutionären Frankreichs »enorm an Bedeutung gewonnen«. Und im 19. Jahrhundert sei Churchill in einer Gedankenwelt groß geworden, wonach britische Kolonialherrschaft »Rettung aus dem Chaos«, Recht und Zivilisation bringe.

Das trifft zu; zu einem Leitmotiv ihrer Biographie macht die Autorin es nicht. Das Wort »Sklavenhandel«, der England zur wirtschaftlichen Großmacht werden ließ, kommt in diesem Buch nicht vor, und auch in der Überfülle von persönlichen Details, aus denen die Biographie besteht, fehlen einige für Churchills Charakteristik wesentliche. Etwa seine Anweisung, die Aufständischen im Irak 1920 mit chemischen Waffen zu bekämpfen, oder die Pläne für eine »Operation Unthinkable«, die er für einen Krieg gegen die Sowjetunion unter Einbeziehung deutscher Truppen im Mai 1945 ausarbeiten ließ.

Solche Lücken sind auffallend, weil die Autorin ansonsten mit höchster Akribie alles, was Churchill tat oder unterließ, zusammengetragen hat. Sie beschränkt sich allerdings vielfach darauf, seine eigenen Sprüche und die anderer über ihn zusammenzustellen. Daraus ergibt sich das Bild einer zumeist unkontrollierten Person, die wegen zeitweise starken Alkoholkonsums ständig »leicht beduselt« ihren Geschäften nachging, mitten im Niedergang des »Empire«. In der Vielzahl der Anekdoten verschwindet dieses Allgemeine. Eine verschenkte Chance.

Franziska Augstein: Winston Churchill. Biographie. DTV, München 2024, 615 Seiten, 30 Euro

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