Nichts auf der hohen Kante
Von André Weikard, DüsseldorfDie Bestandteile des aktuellen Bürgergeldregelsatzes sind sehr konkret: 2,03 Euro im Monat für Bildung, 46,71 Euro für Kleidung und Schuhe, 195,35 Euro für Nahrung und Getränke. Ist das genug? Darüber entscheidet im Normalfall ein einigermaßen kompliziertes Regelwerk auf Basis von Statistiken zur Preis- und Lohnentwicklung. Was aber, wenn die Preise so schnell steigen, dass die Daten überholt sind, die Regelsätze veraltet? So geschehen 2022 und 2023. Dann fallen Bürgergeldbezieher in ein Loch. Männer wie Thomas Wasilewski und seine fünfköpfige Familie zum Beispiel. Der gelernte Kaufmann, der nach einer Herz-OP erst für Wochen im Koma lag und schließlich erwerbsunfähig wurde, bekam zum 1. Januar 2023 eine mickrige Bürgergeldanpassung von weniger als einem Prozent, drei Euro im Monat. Das lässt er aber nicht auf sich sitzen, Wasilewski klagt. Gemeinsam mit dem Sozialverband VdK zieht er vors Sozialgericht Düsseldorf. Ziel: den Weg durch die gerichtlichen Instanzen bis zum Verfassungsgericht in Karlsruhe durchzustreiten. Denn da könnte festgestellt werden, ob Bürgergeldbezieher im fraglichen Zeitraum das grundgesetzlich vorgeschriebene menschenwürdige Existenzminimum erhalten haben – oder eben nicht.
Kaum eine Stunde dauert die Verhandlung in Düsseldorf. Die Klage wird abgewiesen. Richter Frank Behrend verweist in seiner Begründung darauf, dass der Gesetzgeber »Gestaltungsspielraum« bei der Festsetzung des Bürgergeldregelsatzes habe, dass eine zeitliche Verzögerung bei der Anhebung zwar bestehe, der Regelsatz dafür aber »Ansparbeträge« enthalte, um die Zeit bis zur nächsten Anpassung zu überbrücken. Eine Deutung, die vielen Anwesenden im Sitzungssaal wie blanker Hohn erscheint. Das Geraune im Saal nötigt den Richter, entschuldigend nachzuschieben: »So sieht das der Gesetzgeber.« Um den Fall direkt an das Bundessozialgericht zu verweisen, müsse das Gericht von der Verfassungswidrigkeit der Sätze überzeugt sein. »Sind wir nicht«, so Richter Behrend. Damit bleibt dem VdK und Thomas Wasilewski nur der Gang in die nächste richterliche Instanz, vor das Landessozialgericht.
So richtig enttäuscht wirkt der kämpferische Rheinländer nach der Urteilsverkündung nicht. »Ich habe mit nichts anderem gerechnet«, sagt er. Er weiß, dass der VdK nicht nur in seinem Namen ein Musterstreitverfahren führt, sondern mehrere Bürgergeldbezieher auf ihrem Weg zu einer verfassungsrechtlichen Entscheidung begleitet. »Es geht mir nicht darum, ob ich diesen Prozess gewinne, sondern darum, dass sich etwas ändert in diesem Land«, sagt er. 500 Bundestagsabgeordnete habe er angeschrieben und auf sein Anliegen aufmerksam gemacht, jeden Politiker in seinem Wahlkreis kontaktiert, Mahnwachen vor Parteibüros abgehalten. Das Ergebnis ist ernüchternd. Nur eine Vertreterin der Linken habe sich bei ihm gemeldet, sagt Wasilewski. Oft habe man ihn an zuständige Ausschüsse verwiesen und von dort zurück an die Lokalpolitik. Auch der Satz: »Ihr kriegt wohl nie genug«, sei ihm entgegengehalten worden. Wenigstens angehört zu werden, das habe er sich aber von Politikern in einer Demokratie erwartet.
»Jetzt muss ich Sie bemühen«, hat er zu Beginn der Verhandlung an den Richter gewandt gesagt. Vergeblich sind seine Anstrengungen trotz des abschlägigen Düsseldorfer Urteils nicht. Wasilewski fand zwar bei Politik und Justiz bislang noch kein Gehör, sein Fall geht aber durch die Medien. Neben jW berichteten unter anderem WDR, Der Westen oder die Süddeutsche Zeitung. Selbst im ARD-TV-Format »Hart aber fair« war er zu Gast. Gutachten im Auftrag der Sozialverbände untermauern, dass das Bürgergeld zeitweilig bis zu zehn Prozent niedriger angesetzt war, als erforderlich gewesen wäre, um die Auswirkungen der Inflation 2022/23 auszugleichen. Auch Einmalzahlungen, die zwischenzeitlich an Bürgergeldbezieher ergingen, hätten diese Diskrepanz nicht ausgeglichen.
Unterstützung bekommt Wasilewski auch von Sefika Minte, stellvertretende Landessprecherin von Die Linke NRW. Die Politikerin sagte nach dem Prozess: »Auch wenn ich mir gewünscht hätte, dass der Richter den Fall direkt an das Bundessozialgericht verweist, bin ich froh, dass Thomas Wasilewski diesen Weg gewählt hat und sich zur Wehr setzt.«
Im Flur des Sozialgerichts Düsseldorf hängt ein Schwarzweißfoto von Frank-Walter Steinmeier. Der Bundespräsident lächelt milde. Was hier heute vorging, wird ihm wohl kaum zu Gehör kommen. Womöglich kommt aber der Tag, an dem ausgerechnet die Klage von Thomas Wasilewski das Karlsruher Verfassungsgericht erreicht. Dann wird man sich auch im Schloss Bellevue mit dem Fall beschäftigen müssen. Bis dahin können allerdings noch Jahre vergehen.
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