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Aus: Ausgabe vom 26.11.2024, Seite 11 / Feuilleton
Geschlechterpolitik

»Mehr Raum für alle Geschlechter«

Über »Oben ohne«-Kultur als Affront gegen das Zweigeschlechtersystem und seine kapitalistischen Logiken. Ein Gespräch mit Julia Fritzsche
Von Barbara Eder
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Keine Kleinigkeit: Oben mit oder ohne

An einem heißen Junitag des Jahres 2021 zog Gabrielle Lebreton an der »Plansche« im Berliner Plänterwald ihr T-Shirt aus. Sie wurde deshalb des Platzes verwiesen – und klagte. Was waren Ihre Eindrücke während der Prozessbeobachtung?

Gabrielle Lebreton ist keine Aktivistin. Sie ist eine Berliner Bürgerin. Auf dem Wasserspielplatz im Plänterwald hat die Polizei von ihr verlangt, sich anzuziehen oder den Platz zu verlassen. Sie hat den Platz verlassen und den Bezirk daraufhin auf eine finanzielle Entschädigung wegen Geschlechterdiskriminierung verklagt. In erster Instanz hat das Gericht angenommen, dass es ein gesellschaftliches Schamempfinden gegeben haben könnte, das verletzt worden wäre, und ihrer Klage nicht stattgegeben. In zweiter Instanz ging die Richterin von Lebretons Diskriminierung als Frau aus und forderte die Gegenseite auf, dies anzuerkennen. Das Land Berlin hat daraufhin eine Entschädigungssumme bezahlt. Ein Urteil, auf das sich später auch andere berufen hätten können, gab es jedoch nicht. Die Klägerin und der Verein, der sie unterstützt hat, hatten gehofft, dass es ein richterliches Urteil gibt, wenn eine Frau darauf hingewiesen wird, sich anzuziehen – denn bei Männern war dies bislang nicht der Fall.

Welche Reaktionen gab es auf diese Form der Geschlechterdiskriminierung?

2021 und 2022 gab es einige Flashmobs von vor allem weiblich gelesenen Personen, die beschlossen hatten, gemeinsam oben ohne ins Freibad zu gehen. Es gab auch Fahrraddemos in verschiedenen deutschen Städten. Prominente wie Madonna, die spanische Sängerin Eva Amaral und die Modebloggerin Chiara Ferragni haben gegen die bestehenden Regeln auf Instagram und Konzertbühnen protestiert, weil dort Nippel von weiblich gelesenen Personen zensiert werden. Es gibt auch eine Petition mit dem Titel »Gleiche Brust für alle«, die fordert, dass überall, wo Männer oben ohne sein dürfen, dies auch weiblich gelesene Personen gelten soll.

Historisch betrachtet ist Oberkörperbekleidung ein relativ junges Phänomen. Woher kommt die Vorstellung, dass ihr Fehlen als Enthüllung und damit als etwas Obszönes wahrgenommen wird?

Wenn wir weit zurückgehen in der Menschheitsgeschichte, ist Nacktheit durchaus etwas Normales – vor allem in wärmeren Klimazonen. Dass die weibliche Brust sexualisiert wurde, kam erst durch die großen monotheistischen Weltreligionen. Das Christentum und der Islam verbreiteten sich im Zuge von Kolonialismus und Missionierung, infolgedessen wurde der weibliche Körper als sündhaft angesehen und zum Tabu. In einigen indigenen Kulturen spielt die Brust allerdings bis heute nicht dieselbe Rolle wie in westlichen Industrienationen. In Australien gab es dahingehend einen interessanten Fall: 2004 haben Aboriginal-Frauen der Gruppe Papunya oben ohne in einem Park getanzt und bekamen daraufhin Probleme mit der Polizei. Sie haben sich darauf berufen, dass dies Teil ihrer Kultur ist – und nach einer Entschuldigung verlangt.

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»Letzten Endes profitiert das gesamte kapitalistische System von der Körperarbeit von Frauen« – Julia Fritzsche

Warum ist die Brust von als männlich gelesenen Personen von diesem Tabu ausgenommen?

Es gab immer wieder Zeiten, in denen auch Männerbrüste bedeckt sein mussten und Frauenbrüste nackt sein durften. In Deutschland gab es 1932 den sogenannten »Zwickelerlass«. Diesem zufolge hat ein »Zwickel« – ein zusätzlicher Stoffeinsatz bei Kleidungsstücken – den Genitalbereich bei Männern und Frauen gleichermaßen auszupolstern. Geregelt wurde im selben Gesetz, dass Männer in gemischtgeschlechtlichen Räumen, sofern keine Kinder dabei sind, oben ohne sein dürfen, Frauen aber nicht. Diametral dazu war in linken Milieus die Freikörperkultur verbreitet – unter dem Motto: Wir zeigen uns nackt und symbolisieren dadurch Gleichheit der Geschlechter und Klassen. In Kraft getreten ist der »Zwickelerlass« ein Jahr vor Hitlers Machtübernahme. Parlamentarierinnen, Frauenrechtlerinnen und Kabarettistinnen haben sich darüber amüsiert, und ein kommunistischer Abgeordneter hat gesagt: Unser Problem ist nicht die Bademode, sondern der Kapitalismus.

Im Kapitalismus wird mit Körpern und ihren Bildern knallhart Profit gemacht. Je mehr man diese parzelliert, desto größer der Markt vom Fingernagelstudio bis zum Pin-up-Kalender. Wessen Interessen werden damit befriedigt?

Was die Brust angeht, so verlangt der Zwang zur Bedeckung der weiblichen Brust überhaupt erst nach BHs, die Brüste in die richtige Richtung schubsen – höher, kleiner, tiefer, größer, mit Leopardenmuster oder Rüschen. Letzten Endes profitiert das gesamte kapitalistische System von der Körperarbeit von Frauen. Damit verbunden ist die männliche Vorherrschaft und die Idee, dass der Mann einen Körper hat, die Frau aber ein Körper ist. Ich denke, dass auch Gewalt gegen Frauen eine Folge dieser Ordnung ist. Denn wenn wir uns vorstellen, dass eine Frau, anders als ein Mann, nicht selbst über ihren Körper bestimmen kann, sondern Ordnungsbehörden oder Instagram, dann steht in Frage, ob sie auch in anderen Fragen selbst entscheiden kann. Bis heute existiert die Vorstellung, dass wir ausschließlich zwei Geschlechter haben und eines davon höherwertig ist: Der eine Körper verfügt, der andere Körper gehorcht. Frauen gelten demnach als besonderes Geschlecht – jenes, das nicht frei über Körper und Leben bestimmen kann und deshalb auch bestimmte gesellschaftliche Rollen übernehmen muss. Darunter fällt auch die, sich für den Anblick anderer schön machen zu müssen.

Es gibt mittlerweile ganze Geschäftszweige zur Vereindeutigung von Geschlecht, darunter auch kosmetische und plastische Dienstleistungen. Würde eine Kultur des »Oben ohne für alle« dazu beitragen, das bestehende Zweigeschlechtersystem zu sprengen?

Auf jeden Fall! Wenn wir Normen und Kleiderordnungen hinterfragen, die Männerbrüste tolerieren, aber Frauenbrüste für obszön befinden, lassen wir auch mehr Raum für alle Geschlechter dazwischen. Denn aktuell ist es so: Anstatt die Vielfalt der Geschlechter wahrzunehmen, wird ihre Existenz geleugnet und uns allen zwangsweise eines von zwei Geschlechtern zugewiesen. Jeder zweite als männlich gelesene Mensch ist in seinem Leben davon betroffen, Brüste zu bekommen – darunter pubertierende, dickliche oder drogenkonsumierende Männer ebenso wie ältere oder besonders sportliche Männer. Wenn alle Geschlechter das Gleiche anziehen oder ausziehen können, etablieren wir damit gleiche Freiheiten und Rechte – und nicht länger die Zuschreibung, dass eines davon eine Frau ist und das andere ein Mann. An Rundungen um Nippel allein lässt sich Geschlechterzugehörigkeit jedenfalls nicht festmachen.

Julia Fritzsche, geboren 1983 in München, studierte Rechtswissenschaften und arbeitet heute als Journalistin. Für ihr Radiofeature »›Prolls, Assis und Schmarotzer!‹ Warum unsere Gesellschaft die Armen verachtet« (BR) erhielt sie zusammen mit Sebastian Dörfler 2016 den Otto-Brenner-Preis und den Deutschen Sozialpreis. Ihr Radiofeature »Lied vom Ende des Kapitalismus« (BR) wurde 2020 mit dem Andere-Zeiten-Preis ausgezeichnet.

Julia Fritzsche: Oben ohne. Edition Nautilus, Hamburg 2024, 216 Seiten, 18 Euro

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