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Aus: Ausgabe vom 27.11.2024, Seite 1 / Titel
Ukraine-Krieg

Russland im Vorteil

Größte Gebietsgewinne in der Ukraine seit Beginn von Invasion. Pistorius nutzt Lage, um europäische Rüstungsindustrie voranzutreiben
Von Ina Sembdner
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Offenbar noch immer effektiv: Der letzte in der Sowjetunion hergestellte Kampfpanzer T 80 in der Region Donezk

Wunschdenken und Realität in der Bewertung des Ukraine-Kriegs liegen bei den westlichen Verbündeten Kiews nicht erst seit gestern deutlich auseinander. Erklärte Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) am Montag abend stoisch, das Ziel sei: »Die Ukraine muss aus einer Position der Stärke heraus agieren können«, meldeten Analysten und Kriegsblogger am Dienstag, dass die russischen Streitkräfte so schnell wie seit Beginn der Invasion im Februar 2022 nicht mehr vorgerückt seien. »Russland hat neue Wochen- und Monatsrekorde für die Größe der besetzten Gebiete in der Ukraine aufgestellt«, zitierte Reuters aus einem Bericht der unabhängigen russischen Nachrichtengruppe Agentstvo. Im November seien 600 Quadratkilometer erobert worden. Der Leiter des russischen Auslandsgeheimdienstes SVR, Sergej Narischkin, erklärte flankierend, dass Russland die gesamte strategische Initiative auf dem Schlachtfeld innehabe. Von der ukrainischen Luftwaffe wurde gemeldet, dass in der Nacht zum Dienstag eine »Rekordzahl« von 188 Drohnen von russischer Seite auf alle Landesteile abgefeuert worden seien.

Pistorius forderte unterdessen nach dem Treffen mit seinen Kollegen aus Frankreich, Großbritannien und Polen – Sébastien Lecornu, John Healey und Władysław Kosiniak-Kamysz – sowie der italienischen Verteidigungsstaatssekretärin Isabella Rauti, dass die europäischen NATO-Staaten »Fähigkeitslücken« schließen und »mehr Waffensysteme gemeinsam entwickeln, produzieren und beschaffen« müssten. An Brüssel gerichtet, verlangte er, dass der europäischen Rüstungsindustrie der Zugang zu den Finanzmärkten erleichtert werde. Der als sogenannter Experte agierende Politikwissenschaftler Carlo Masala nutzte das Treffen sogleich, um den Druck auf die Bundesregierung zu erhöhen. Er konstatierte gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, dass in Paris, London und Warschau »viel in Bewegung« sei, Berlin bei den meisten Entwicklungen aber »außen vor« sei. Pistorius verfolge jedoch »offenbar das Ziel, Deutschland wieder ins Spiel zu bringen«. Gemeint ist vor allem eine »Koalition der Willigen, die im Zweifel auch bereit ist, Bodentruppen in die Ukraine zu entsenden«.

Und die westlichen Verbündeten setzen auch anderweitig auf Eskalation. So erklärte das Verteidigungsministerium in Moskau, dass die Ukraine Russland in den vergangenen drei Tagen zweimal mit »Atacms«-Marschflugkörpern aus US-Produktion beschossen hätte. Beide Angriffe hätten Stellungen in der von ukrainischen Truppen belagerten russischen Region Kursk gegolten. »Das Ministerium hat die Situation unter Kontrolle, und es werden Gegenmaßnahmen vorbereitet«, hieß es. Auf die Freigabe Washingtons für den ukrainischen Einsatz von weitreichenden US-Raketen in russisches Hinterland hatte Moskau am vergangenen Donnerstag erstmals eine neuartige, mit Atomsprengköpfen bestückbare Mittelstreckenrakete eingesetzt.

Auch das sollte am Dienstag Gegenstand im NATO-Ukraine-Rat in Brüssel sein, denn der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij hatte eine internationale Reaktion eingefordert und zur Lieferung weiterer Flugabwehrsysteme gedrängt. Nach russischen Angaben kann die auf Hyperschalltechnologie basierende Rakete mit dem Namen »Oreschnik« nicht abgefangen werden. Aus Moskau sah man dem Treffen entspannt entgegen. Präsidialamtssprecher Dmitri Peskow mutmaßte, dass es unwahrscheinlich sei, »dass auf Botschafterebene wichtige Entscheidungen getroffen werden«.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (29. November 2024 um 12:09 Uhr)
    Auf eine von Pistorius anvisierte deutsche Beteiligung an einer »Koalition der Willigen« zum endgültigen westlichen Eintritt in den Ukraine-Krieg würde ich gern verzichten. »Koalition der Willigen«, das war die Truppe, die 2003 völkerrechtswidrig den Irak in Trümmer gelegt hatte. Folge war unter anderem der massive Zulauf für den Islamischen Staat und die katastrophale Destabilisierung auch Syriens, wo der Westen mit Waffen aus Libyen die Islamisten unterstützt hatte, wie Hersh mit seinem Artikel »The Red Line and the Rat Line« aufgedeckt hatte. Jetzt also eine massivere militrärische Unterstützung für den rechtsradikalen Russenhass der Ukrainer?! Nein danke! Da kann nichts Gutes bei rauskommen!
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (27. November 2024 um 09:50 Uhr)
    Der Wertewesten steht vor einem erheblichen Problem. Durch die Globalisierung wurde die Schwerindustrie in Entwicklungsländer ausgelagert. Zwar bleiben die westlichen Länder die Hauptprofiteure und verfügen über finanzielle Ressourcen, doch fehlt ihnen die Fähigkeit, wie Russland eine effektive Kriegswirtschaft schnell zu organisieren. Einige der zentralen Schwachstellen sind offensichtlich: Die anglo-amerikanischen Marinen haben Schwierigkeiten, ihre Flotten in Stand zu halten, da in den Hafenbereichen nicht ausreichend Fachkräfte wie Schweißer vorhanden sind – nur Bankkaufleute. Zudem konnten die NATO-Staaten 2023 nicht einmal die Hälfte der eine Million Artilleriegranaten liefern, die sie für dieses Jahr versprochen hatten. Auch Deutschland bleibt trotz des Sondervermögens von 100 Milliarden Euro, das für die Bundeswehr bereitgestellt wurde, hinter den Erwartungen zurück. Der Markt kann die benötigten Kapazitäten schlicht nicht liefern. Verteidigungsminister Pistorius hat daher zurecht betont, dass Russland in nur drei Monaten so viel Munition produziert, wie Europa in einem ganzen Jahr. Mit diesen Voraussetzungen sollte man sich hüten, »verbale Muskelspiele« gegenüber Russland zu betreiben. Denn was passiert, wenn Russland tatsächlich Maßnahmen ergreift, die uns in ungläubigem Erstaunen zurücklassen?

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