Russland im Vorteil
Von Ina SembdnerWunschdenken und Realität in der Bewertung des Ukraine-Kriegs liegen bei den westlichen Verbündeten Kiews nicht erst seit gestern deutlich auseinander. Erklärte Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) am Montag abend stoisch, das Ziel sei: »Die Ukraine muss aus einer Position der Stärke heraus agieren können«, meldeten Analysten und Kriegsblogger am Dienstag, dass die russischen Streitkräfte so schnell wie seit Beginn der Invasion im Februar 2022 nicht mehr vorgerückt seien. »Russland hat neue Wochen- und Monatsrekorde für die Größe der besetzten Gebiete in der Ukraine aufgestellt«, zitierte Reuters aus einem Bericht der unabhängigen russischen Nachrichtengruppe Agentstvo. Im November seien 600 Quadratkilometer erobert worden. Der Leiter des russischen Auslandsgeheimdienstes SVR, Sergej Narischkin, erklärte flankierend, dass Russland die gesamte strategische Initiative auf dem Schlachtfeld innehabe. Von der ukrainischen Luftwaffe wurde gemeldet, dass in der Nacht zum Dienstag eine »Rekordzahl« von 188 Drohnen von russischer Seite auf alle Landesteile abgefeuert worden seien.
Pistorius forderte unterdessen nach dem Treffen mit seinen Kollegen aus Frankreich, Großbritannien und Polen – Sébastien Lecornu, John Healey und Władysław Kosiniak-Kamysz – sowie der italienischen Verteidigungsstaatssekretärin Isabella Rauti, dass die europäischen NATO-Staaten »Fähigkeitslücken« schließen und »mehr Waffensysteme gemeinsam entwickeln, produzieren und beschaffen« müssten. An Brüssel gerichtet, verlangte er, dass der europäischen Rüstungsindustrie der Zugang zu den Finanzmärkten erleichtert werde. Der als sogenannter Experte agierende Politikwissenschaftler Carlo Masala nutzte das Treffen sogleich, um den Druck auf die Bundesregierung zu erhöhen. Er konstatierte gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, dass in Paris, London und Warschau »viel in Bewegung« sei, Berlin bei den meisten Entwicklungen aber »außen vor« sei. Pistorius verfolge jedoch »offenbar das Ziel, Deutschland wieder ins Spiel zu bringen«. Gemeint ist vor allem eine »Koalition der Willigen, die im Zweifel auch bereit ist, Bodentruppen in die Ukraine zu entsenden«.
Und die westlichen Verbündeten setzen auch anderweitig auf Eskalation. So erklärte das Verteidigungsministerium in Moskau, dass die Ukraine Russland in den vergangenen drei Tagen zweimal mit »Atacms«-Marschflugkörpern aus US-Produktion beschossen hätte. Beide Angriffe hätten Stellungen in der von ukrainischen Truppen belagerten russischen Region Kursk gegolten. »Das Ministerium hat die Situation unter Kontrolle, und es werden Gegenmaßnahmen vorbereitet«, hieß es. Auf die Freigabe Washingtons für den ukrainischen Einsatz von weitreichenden US-Raketen in russisches Hinterland hatte Moskau am vergangenen Donnerstag erstmals eine neuartige, mit Atomsprengköpfen bestückbare Mittelstreckenrakete eingesetzt.
Auch das sollte am Dienstag Gegenstand im NATO-Ukraine-Rat in Brüssel sein, denn der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij hatte eine internationale Reaktion eingefordert und zur Lieferung weiterer Flugabwehrsysteme gedrängt. Nach russischen Angaben kann die auf Hyperschalltechnologie basierende Rakete mit dem Namen »Oreschnik« nicht abgefangen werden. Aus Moskau sah man dem Treffen entspannt entgegen. Präsidialamtssprecher Dmitri Peskow mutmaßte, dass es unwahrscheinlich sei, »dass auf Botschafterebene wichtige Entscheidungen getroffen werden«.
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
Ähnliche:
- 19.11.2024
»Entspannungspolitik geht anders«
- 12.10.2024
»Dieses Geheimnis kann ich nicht entschlüsseln«
- 11.07.2024
Wessen Rakete war es?