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Aus: Ausgabe vom 27.11.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

In die Endlichkeit fallen

Teil des Ganzen: Samantha Harvey lässt in ihrem mit dem Booker Prize ausgezeichneten Roman »Umlaufbahnen« sechs Menschen die Erde umkreisen
Von Dean Wetzel
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Blick aus dem Orbit: Hurrikan Milton nähert sich dem Golf vom Mexiko (10.10.2024)

Ein Tag hat 24 Stunden. Er beginnt mit dem Sonnenaufgang und neigt sich mit dem Untergang der Sonne dem Ende zu. Ein einfacher Ablauf, eine Selbstverständlichkeit, die unsere Tage strukturiert. Diese Selbstverständlichkeit ist jedoch fundamental von unserer Position abhängig. Zeitzonen unterteilen die Erde in räumliche Zeitabschnitte, und so beginnt ein Tag nicht überall zur gleichen Zeit. Die Erde selbst liegt in einer Ungleichzeitigkeit. Vom Alltag verdeckt, spüren wir sie am ehesten im Urlaub, an den ersten Tagen an einem weit entfernten Ort. Innere und äußere Uhr geraten durcheinander, fallen aus dem Takt. Wer wiederum die Erde verlässt, sich auf eine Raumstation begibt, um die Erde anschließend mit 28.000 Kilometer pro Stunde zu umfliegen, erhält einen ganz anderen Blick auf unser weltliches Verständnis von Raum und Zeit. Jeden Morgen wird man sich daran erinnern müssen, dass ein Tag 24 Stunden hat, obwohl die Sonne nun alle 90 Minuten auf- und untergeht. Erst wenn sich dieses Spiel 16 Mal wiederholt hat, die Erde also 16 Mal umflogen wurde, ist der menschgemachte Tag vorbei.

In Samantha Harveys soeben mit dem Booker Prize ausgezeichneten Roman »Umlaufbahnen« wohnen zwei russische Kosmonauten und vier Astronauten (amerikanisch, japanisch, britisch, italienisch) dem tänzerischen Naturspiel bei. Wenn die vier Männer und zwei Frauen in einer Höhe von 400 Kilometern für neun Monate die Erde umkreisen, bietet sich ihnen ein außergewöhnlicher Perspektivwechsel. Zwischen fest getakteten Tagesabläufen, bei denen jedes Mitglied, Körperteilen eines Organismus gleich, die Raumstation pflegt und ihre Funktionen erhält, blicken sie immer wieder aus dem Fenster – in das Auge Gottes.

Zwischen Neuseeland und Südamerika fliegen sie über die unheimliche Dunkelheit des nächtlichen mittleren Pazifiks, wechseln über Kap Hoorn in den Atlantik, erreichen über der westafrikanischen Küste das Sonnenlicht, welches die Erde erneut in Leben kleidet, fliegen über Zentralafrika hinweg. Sie überblicken das Kaukasusgebirge, das Kaspische Meer, die weiten Ebenen Südrusslands, der Mongolei und Chinas, bis sich ihnen nach wenigen Minuten erneut der Anblick des Ozeans öffnet. Anderthalb Stunden, in denen von den Menschen, deren Anwesenheit sich erst in den Nächten offenbart, kaum etwas zu sehen ist. Die Umlaufbahnen, die die 1975 geborene englische Autorin in einer ruhigen, von mythologischen Bildern durchzogenen Poesie zeichnet, lassen sowohl die überwältigende Erhabenheit der irdischen Landschaft als auch den Schrecken sich abzeichnender Naturkatastrophen erstrahlen.

Eine Landschaft, Harvey macht das einmal mehr deutlich, ist nicht einfach Natur an sich, sondern Natur für uns. Sie wird zu einem Teil des Ganzen. In ihr eröffnet sich uns eine menschliche Welt, in der die Erde zur Heimat wird. Und so erkennen auch die sechs aus dem Bild getretenen Astronauten in der zunächst entmenschlicht wirkenden Erde eine von Kultur und Geist durchzogene Welt wieder. Kultur und Natur fallen hier nicht auseinander, sondern treten in ihrer Vermittlung zueinander. Sie bestätigen sich in ihrem Gegensatz und heben sich ineinander auf. In der vom menschlichen Geist geformten Erde erkennen die Protagonisten die unendlichen Möglichkeiten, die der Mensch bewohnt. Sie erkennen eine utopische Welt, die vielleicht noch nicht Realität geworden ist, aber schon in ihrem Sein-Können Existenz besitzt.

Man kann aber auch aus der Unendlichkeit fallen. In die Endlichkeit fallen. Immer wieder drängt sich das Endliche auf, droht, das organische Gefüge zu zerstören, die Welt auseinanderzureißen und ein reines Aus- und Nebeneinander zurückzulassen. Aber wer lernt, in der Endlichkeit selbst die Unendlichkeit – das Leben, den Geist – zu erkennen, verliert die Hoffnung nicht. Eine Hoffnung, der auch angesichts von Katastrophen und menschlichen Schrecken der Blick auf eine andere, mögliche Welt innewohnt. Wie Harvey zeigt, braucht es dafür keine Reise ins All. Es reicht die Literatur. Und obwohl die Sonne, während unsere sechs Astronauten schlafen, noch weitere Male auf- und untergeht, bleibt sie den Menschen doch ein ewiges Ereignis.

Samantha Harvey: Umlaufbahnen. Aus dem Englischen von Julia Wolf. Dtv, München 2024, 224 Seiten, 22 Euro

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