Abhängig von Migranten
Von Niki UhlmannIn einer im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung erstellten Studie sorgt man sich um die Zukunft der Lohnarbeit. Das Kapital in der BRD braucht weitere Arbeitskräfte, wenigstens als Konkurrenz zu den schon vorhandenen. Zuwanderung soll es richten. Die liegt aber weit unter dem Bedarf hiesiger Unternehmer, unter anderem deshalb, weil man vielen Zugewanderten in der BRD das Leben schwer macht. Außerdem braucht es nicht irgendwelche Arbeitskräfte, sondern vor allem die gut qualifizierten.
Notwendige Zuwanderung
Bis 2040 brauche die BRD rund 290.000 internationale Arbeitskräfte, um den Bedarf ihres Arbeitsmarktes zu decken. Ohne Zuwanderung schrumpfe das Heer der Lohnabhängigen bis dahin um zehn Prozent, ermittelten das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und die Hochschule Coburg im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung. Im Jahr 2060 blieben bei diesem Szenario nur noch 35 Millionen Arbeitskräfte übrig, heißt es weiter in der Studie, die am Montag veröffentlicht wurde.
Die gegenwärtige Zuwanderung liege zwar über dem projizierten Bedarf, sei aber weitestgehend »humanitär bedingt«. Gemeint ist: Die Menschen flüchten aus ihren Heimatländern. Viel Zuzug von dieser Art, wenig von der erwünschten. Die erwerbsorientierte Migration aus EU-Staaten geht stetig zurück, die aus Drittstaaten liegt »trotz hoher Steigerungsraten in den letzten Jahren« weit unter dem ausgemachten Bedarf. Im vergangenen Jahr wanderten aus Drittstaaten circa 72.000 Arbeitskräfte mit einem »erwerbsorientierten Aufenthaltstitel« ein, 20.000 wanderten aus. Das ergibt eine »Nettozuwanderung« von 50.000 Personen pro Jahr. Bis 2040 könnten aber sogar 80.000 Zugewanderte pro Jahr notwendig sein.
Die Schlussfolgerungen: »Rekrutierungsbemühungen« intensivieren, Geflüchtete »stärker für den deutschen Arbeitsmarkt nutzbar« machen und die Erwerbsbeteiligung in der BRD erhöhen, »beispielsweise durch eine weitere Erhöhung des Renteneintrittsalters«. Die Autoren beanspruchen für sich, Migration rein ökonomisch zu analysieren. Dennoch scheint eine politische Schlagrichtung durch.
Ökonomische Selektion
Die Autoren der Studie halten fest, dass »Zuwanderer aus Drittstaaten überdurchschnittlich oft Stellen mit geringem Anforderungsprofil besetzen«. Auf die systematische Überausbeutung von Migranten, die im vergangenen März dem Mikrozensus 2022 zu entnehmen war, gehen die Autoren nicht weiter ein. Statt dessen analysieren sie, die »Engpässe« lägen »im mittleren und hohen Anforderungsbereich«. Nur Menschen mit »geeigneter Qualifikation« könnten schnell in den Arbeitsmarkt integriert werden. Die unerwünschte Zuwanderung schaffe dagegen »zweierlei Verlierer«, nämlich erwerbslose Zugewanderte und Unternehmer, deren Stellen weiter vakant bleiben.
Gleichsam zweckrational blicken die Studienmacher auf die Sprachkurse. Sprache sei eine »wesentliche Barriere«. Wer sie hingegen einmal gelernt habe, könne diese »spezifische Investition nur in den deutschsprachigen Ländern«, bei Rückwanderung »mit deutschen Betrieben nutzbringend einsetzen«. Von einer »weiteren Liberalisierung« der Migrationspolitik raten sie ab. Sie würde kaum weitere »Fachkräftesegmente erschließen«. Es hapere vor allem bei der Umsetzung.
Rassismus als Hürde
Deutschland könne sich die Abwanderung von Fachkräften aufgrund von rassistischer Diskriminierung »nicht leisten«, kommentierte Susanne Schultz, Migrationsexpertin bei Bertelsmann. Das Land müsse »attraktiver werden«. Tatsächlich passiert das Gegenteil. Die Studie schildert, dass die Bevölkerung überwiegend »negative Folgen der Zuwanderung« wahrnehme und die Aufnahmebereitschaft zurückgehe.
Kein Wunder. Im Alltagsrassismus findet die staatliche Unterscheidung von nützlicher und nutzloser Migration ihre zivile Entsprechung. Solange die BRD also Grenzen in Abhängigkeit von beruflicher Qualifikation öffnet oder schließt, wird sich keine Willkommenskultur breitmachen. Letzten März hatte die Bundesregierung die Ausbeutung gering qualifizierter Migranten mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz noch erleichtert. Auch von den Erwerbs-, Abschluss- oder Ausbildungslosen, die gefördert werden könnten, schweigt die Regierung, bis sie diese wieder im Namen der Allgemeinheit drangsaliert. Das Resultat ist verschärfte Konkurrenz – und mehr Rassismus.
Hintergrund: Zitterpartie bei Integrationskursen
Jedes Jahr nehmen Hunderttausende Menschen in der BRD an Integrationskursen teil. Sechs bis acht Monate dauern sie und sollen laut Bundesinnenministerium (BMI) in 600 Unterrichtseinheiten die deutsche Sprache vermitteln, in 100 weiteren »deutsche Kultur und Demokratie«. Im kommenden Jahr feiern sie ihren zwanzigsten Geburtstag.
Wie der Mediendienst Integration Anfang November berichtet hat, plante die inzwischen geplatzte Bundesregierung im Haushaltsentwurf 2025 eine Halbierung des Etats für Integrationskurse. Eine halbe Milliarde Euro sollte eingespart werden. Dabei liegen die Kosten im laufenden Jahr bereits etwa ein Fünftel über der eingeplanten Milliarde. Schon 2023 hatte die Bundesregierung gekürzt, obwohl die Unterversorgung absehbar war. Die aktuelle Zahl der Kursteilnehmer beziffert das Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge (BAMF) auf rund 360.000. Im kommenden Jahr rechnet es mit 326.000 Teilnehmern und Kosten von rund 1,2 Milliarden Euro – 700 Millionen mehr, als der Haushaltsentwurf vorsieht.
Wo und wie gekürzt werden könnte, beschrieb im Oktober ein Referentenentwurf des BMI. Kurswiederholungen und spezielle Kurse für Jugendliche, Eltern oder Frauen wären weitestgehend entfallen. Auf Fahrtkosten wären Teilnehmer sitzen geblieben. Laut einem internen Papier, über das die Frankfurter Rundschau berichtete, könnten 2025 mit halbem Haushalt überhaupt keine neuen Kurse angeboten werden. Da manche Teilnehmer einen gesetzlichen Anspruch hätten und andere verpflichtet würden, drohe ein Rechtsbruch.
Schon im Oktober brachte Markus Lewe, Präsident des Deutschen Städtetags, die Widersprüchlichkeit der Kürzungspläne gegenüber der Funke-Mediengruppe auf den Punkt: Man könne nicht »schnelle Integration einfordern« und zeitgleich Integrationskurse streichen. Gewerkschaften, Berufs- und Wohlfahrtsverbände forderten derweil »mindestens 1,1 Milliarden Euro« in einem gemeinsamen Positionspapier. Demnach würden nicht nur Lehrkräfte und Räume verloren gehen. Ganze Einrichtungen wären bedroht und mit ihnen die flächendeckende Integration als Ganzes. 10.000 Arbeitsplätze stünden laut der GEW auf dem Spiel.
Die Zitterpartie endete vorerst mit einer Entwarnung des BMI: Auch 2025 werde die Bundesregierung Integrationskurse finanzieren, hieß es am Mittwoch in einer Pressemitteilung. Mit der neuen Integrationskursverordnung ginge man sogar »stärker auf individuelle Lernvoraussetzungen und den individuellen Lernfortschritt ein«, kommentierte Innenministerin Nancy Faeser. Die GEW Hamburg sieht darin einen Erfolg des zivilgesellschaftlichen Drucks. (nu)
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