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Aus: Ausgabe vom 29.11.2024, Seite 10 / Feuilleton
Oper

Unterm Hirschgeweih

Groschengräber der Haupstadt: Guiseppe Verdis »Macbeth« an der Deutschen Oper Berlin
Von Maximilian Schäffer
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Waidmannsheil, Macbeth: »Noch nie hat sich ein Wald durch Zauberkraft bewegt!«

Die Stadt sei arm, wird erzählt. Einst sei sie »arm, aber sexy« gewesen. Für den aktuellen Zustand – also »arm, aber ungeil« – gibt es noch keinen offiziellen Slogan. Berliner Operninszenierungen verströmen besonders seit den Coronajahren ein moschusartiges, fauliges Gerüchlein namens »reich, aber impotent«. Sehr professionelle Onanistinnen und Onanisten werden eingeflogen, um riesige Bühnenfassaden bauen zu lassen, die sie dann mit intellektuellem Bauschaum füllen. Das letzte Debakel ist noch nicht einmal einen Monat alt: Charles Gounods »Roméo et Juliette« an der Staatsoper scheiterte grandios unter der Seifenopernregie der Französin Mariame Clément.

Auch Marie-Ève Signeyrole durfte aus Paris anreisen, um Verdis »Macbeth« an der Deutschen Oper opulent auszuhöhlen (die Premiere fand am 23. November statt). Die Filmregisseurin und Videokünstlerin beginnt mit Leinwänden und Merksprüchlein zum Stoff. Alexis de Tocqueville wird da genauso naseweis zitiert wie »eine skandinavische Redewendung« (meine schwedische Begleitung zuckt protestantisch mit den Schultern). Die vier Akte des Originals sind bei Signeyrole, aus Gründen moderner Netflix-Serienlogik, zu fünf Episoden geworden. Triviale Inhaltsangaben müssen während der Umbaupausen gebeamt werden.

Dann erscheint eine Schauspielerin auf der Leinwand, anscheinend soll sie ein KI-generierter Avatar sein. Algorithmen und Syntaxen wirbeln animiert herum. Die Schauspielerin warnt irgendwie vorm Kapitalismus und vor der Tyrannei an sich, dazu darf sie das soziopathische Lachen des modernen Volkstheaters reproduzieren. Aufgemerkt: Schottland und England streiten sich um Ölreserven in der Nordsee. Woher der Aktualitätsbezug kommt, außer aus einem zu großen Ego der Regie, wird im Verlauf von dreieinhalb Stunden nicht erwähnt. Darf nicht erwähnt werden, sonst müsste es gar »Nord Stream« heißen oder »Deutschland« oder das gruselige »R«-Wort. Unziemlich und unfein verhielte sich dies gegenüber den geschätzten Fördermittelbereitstellern. So schwurbelt es also gesamteuropäisch und gesellschaftskritisch genug zur Abrichtung der anwesenden drei Schulklassen im Publikum: »Macbeth« – zwischen unzähligen Bühnenelementen und Vorhängen und Lichtkegeln.

Wildtiere sind ikonischer Trend im Kino, spätestens seit Lars von Triers »Antichrist« (2009) und Giorgos Lanthimos’ »The Killing of a Sacred Deer« (2017). Die Geistererscheinung also trägt ein Hirschgeweih. Weibliche Geisterfiguren mit breiten Hüten und langen, glatten Haaren sind japanischen Gruselgeschichten und -filmen entlehnt. Sieht alles hübsch aus, so mit dem Kinderensemble und dem großen Chor, der unter der Leitung von Jeremy Bines präzise und dynamisch die Leistungen der Solisten aufbessert. Besonders im sehr langen ersten Akt fällt nämlich Felicia Moore (Lady Macbeth) als Fehlbesetzung auf. In den hohen Tönen wirkt sie angestrengt, ihr extremes Vibrato beißt sich mit Thomas Lehmans (Macbeth) entspanntem Bariton. Enrique Mazzolas musikalische Leitung bemüht sich um Souveränität bezüglich des krassen Gegensatzes im Stimmvolumen seiner beiden Hauptakteure. Sichtlich irritiert erhält er vor der Pause deutliche Buhrufe aus dem Publikum. Er hat das musikalische Mittelmaß des gesamten Abends lediglich mitzuverantworten.

Fazit eines weiteren Groschengrabes der Hauptstadt: Die Schüler haben nichts über Shakespeare oder sogenannte Geopolitik gelernt, die Opernfuzzis hätten sich’s besser daheim auf CD angehört, für die Schwulen gibt’s günstigere Glory Holes, und die Rentner können immer noch nicht mit Computern umgehen. Vielleicht inszeniert bald wirklich lieber die KI selbst: billig, konform und nah am Kunden.

Nächste Aufführungen: 30. November, 4. und 8. Dezember

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