Tödliche Langeweile
Von Frank JörickeFrüher, als die Welt noch richtig grausam und ungerecht war, wimmelte es auf der Leinwand von Bösewichten. Besonders differenziert wurden diese nicht dargestellt. Was das Publikum nicht weiter störte. Im Gegenteil. Man liebte das Kino dafür, dass es dieses schreckliche und schrecklich verhedderte Leben entwirrte und aufs Wesentliche zurückführte. Bloß befinden wir uns mittlerweile im Zeitalter der Serien. Seit den »Sopranos« wissen wir, dass selbst ein Mafiaboss kein simpler Schurke ist, sondern ein seelisch hochkomplexes Wesen. Das Etikett »böse« allein genügt nicht mehr.
Das wird sich auch die hochdekorierte Regisseurin Susanne Bier gedacht haben, als sie »Ein neuer Sommer« drehte. Es wäre ein Einfaches gewesen, die Welt der Reichen auseinanderzunehmen. Aber es sind halt – nach heutigem Verständnis – nur ganz normal verkorkste Menschen mit etwas mehr Geld. Wobei »etwas« eine Untertreibung ist. Die sechsteilige Miniserie spielt in einer Sphäre, in der man sich nicht nur eine Villa auf einer exklusiven Insel (Nantucket) leisten kann, sondern auch den dazugehörigen Privatstrand – man will schließlich unter sich bleiben.
Funktioniert bloß nicht. Die Braut entstammt der Mittelschicht, wenn überhaupt. Und als am Morgen der Hochzeit plötzlich eine Leiche auftaucht, bekommt die heile Welt schnell kratertiefe Risse. Das obligatorische Whodunit dient dazu, die Geheimnisse und Tabus einer kaputten Familie offenzulegen. Aber nicht zu schnell. Man will ja nicht nach drei Folgen schon sein Pulver verschossen haben. Wichtig ist, dass der Zuschauer so lange wie möglich alle Akteure für verdächtig hält. Und das geht am einfachsten, indem man die Protagonisten als Unsympathen darstellt.
Nicole Kidman hat als Familienoberhaupt die Paraderolle. Normalerweise schaden Gesichtschirurgie und Botoxbehandlungen der schauspielerischen Ausdrucksfähigkeit. Doch das Maskenhafte, das damit einhergeht, unterstreicht in diesem Fall den Charakter. Die eingefrorene Mimik und die zur Schau gestellte Kälte und Emotionslosigkeit vermitteln das Bild einer Frau, der die Fassade zum Wesen geworden ist. Dagegen wirkt selbst der phlegmatisch-apathische Ehemann, dessen Lebensinhalt aus Kiffen und wechselnden Sexualpartnerinnen besteht, geradezu menschlich. Relativ. Auch die übrigen Akteure sind als charakterliche Mängelwesen angelegt. Ein Motiv scheint jeder zu haben, auch wenn letztlich vage bleibt, worin es bestehen könnte. Prämisse ist, dass selbst reiche Menschen nie genug Geld haben – das muss als Anreiz für einen Mord genügen.
Aber nicht für eine Serie, die den Anspruch hat, das Publikum sechs Folgen lang bei der Stange zu halten. Der Überdruss und die Langeweile, von der die Protagonisten geplagt werden, überträgt sich auf die Zuschauer. Mit Ausnahme der Mutter, die Autorin von Bestsellerkitschromanen ist, scheint hier niemand einer geregelten Beschäftigung nachzugehen. Man ist angeödet und ödet andere an. Der Betrachter begreift schnell: Ob man die Zeit totschlägt oder einen Menschen, macht für diese Wohlstandvorstandsverwahrlosten keinen grundlegenden Unterschied.
Daher empfindet man Ekel beim Betrachten ihres selbstsüchtigen Herumwuselns. Frei nach Forrest Gump – »Schlecht ist, wer Schlechtes tut« – verachtet man die Protagonisten für ihr Tun. Dennoch sind sie keine Bösewichte im klassischen Sinn. Der klassische Schuft war ein Überzeugungstäter. Selbst wenn er vermeintlich kaltblütig killte, spürte man die Emotion hinter der Tat. Der Täter fühlte sich von seinen Mitmenschen und manchmal auch vom Leben selbst verraten. Er sann auf Rache, also auf Genugtuung. Der Mord war Ausdruck von tiefer Enttäuschung, Eifersucht und Hass.
Ein solches emotionales Motiv sucht man in »Ein neuer Sommer« vergebens. Bereits nach der ersten Folge weiß man: Diesen Menschen fehlt das Format für ein shakespearesches Drama. Selbst die Tote ist nicht dazu geeignet, Mitgefühl auszulösen – sie passt perfekt in die Society, deren Opfer sie wird. Wer sich unter Reichen bewegt, übernimmt deren Lifestyle und Attitüden.
Vor rund 40 Jahren veröffentlichte Bret Easton Ellis seinen Debütroman »Unter Null«. Darin beschrieb er eine Welt, die außer Geld nichts zu bieten hatte. Als derart seelisch bankrott waren Reiche nie zuvor dargestellt worden. »Ein neuer Sommer« ist die filmische Umsetzung dieses Befunds. Die Frage ist nur: Muss man das sehen? Und vor allem: Will man es?
»Ein neuer Sommer«, USA 2024. Regie: Susanne Bier. Sechs Folgen à ca. 45 Min., auf Netflix
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