Noch ist der König nicht tot

Das Match um die Schach-WM zwischen dem 32jährigen Titelverteidiger Ding Liren (China) und seinem 18 Jahre jungen Herausforderer Gukesh Dommaraju (Indien) im Stadtstaat Singapur begann am Montag mit einem Powerchord: Ding gewann nach 42 Zügen seine erste Partie mit klassischer Bedenkzeit seit 304 Tagen – und das mit Schwarz!

Nachdem Gukesh unerwartet mit 1.e4 eröffnete, wählte der Chinese mit der Französischen Verteidigung überraschend eine Favoritin seiner Jugend. Seit 2012 hatte er sie nur in der siebten Partie des WM-Kampfes gegen Jan Nepomnjaschtschi (Russland) angewandt. Damals spielte er stark, stand nach 30 Zügen besser, aber war jäh blockiert und verlor nach 37 Zügen durch Zeitüberschreitung. Der Chefsekundant des Weltmeisters, der Ungar Richard Rapport, ist ebenfalls ein Französisch-Experte, sie haben ein Potpourri neuer Ideen ausgetüftelt. Ding überspielte seinen Gegner in bestechender Manier. Nur nach seinem ungenauen 27. Zug bot sich dem Inder eine Remischance, doch er ging an der unverhofften Gelegenheit vorbei, und Ding behielt in Zeitnot den Überblick. Mit dieser Wiederauferstehung des »alten« Ding Liren hatten nur die treuesten Fans gerechnet. Viele Experten hatten erwartet, dass Shootingstar Gukesh ihn vernichten würde. Aber nein: Der König ist nicht tot, es lebe der König!

In der zweiten Begegnung am Dienstag entschied sich auch Ding, der sonst 1.d4 und 1.c4 präferiert, für den Aufzug des Königsbauern. Nach Gukeshs Standardantwort 1…e5 kam die altehrwürdige Italienische Partie aufs Tapet, die in der Weltelite wieder groß in Mode ist. Über 4.d3 und 5.Sc3 entstand das »Giuoco Pianissimo«, das ganz ruhige Spiel. Durch Abtausch zweier Läufer auf c4 und c5 öffnete sich die d-Linie, und auch die Damen verließen das Brett. Es entstand eine nahezu symmetrische Position, geprägt durch subtiles Manövrieren. Ding verfügte aufgrund seines Randbauernvormarsches bis a5 über mehr Raum, war aber offenbar damit zufrieden, seine Führung zu behaupten. Nach dreimaliger Wiederholung der Stellung wurde Remis vereinbart. Weiß hätte die Partie risikolos fortsetzen und auf Fehler warten können.

Das dritte Aufeinandertreffen am Mittwoch sah Gukeshs Doppelschritt des Damenbauern, seine eigentliche Hauptwaffe. Nachdem er in der Auftaktbegegnung noch auf den Königsbauern gesetzt hatte und gegen die Französische Verteidigung des Champions schimmerlos unterging, kam der Wechsel mit Ansage. In der Abtauschvariante des Damengambits verließ Gukesh schnell ausgetretene Pfade und brachte eine Idee des Exweltmeisters Wladimir Kramnik aus dem Jahr 2023 an. Bis zum 13. Zug folgten die Antipoden einer im Vorjahr bei der Schnellschach-Team-WM in Düsseldorf gespielten Partie Kramniks gegen Arjun Erigaisi, die Gukesh im Gegensatz zum Titelverteidiger kannte, was ihm einen Zeitvorsprung von etwa einer Stunde einbrachte. Machte sich die Investition für Ding zunächst mit einer leicht besseren Position bezahlt, geriet er mit einer verhängnisvollen Fehleinschätzung im 18. Zug auf Abwege. Sein im gegnerischen Camp gestrandeter Läufer wurde erobert. Danach verwertete Gukesh souverän seinen Materialvorteil und glich zum 1,5:1,5 aus. Nach dem ersten Ruhetag steht heute die vierte Partie an, die u. a. auf den Youtube-Kanälen der FIDE und von chess24 live übertragen wird.