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Aus: Ausgabe vom 02.12.2024, Seite 8 / Ausland
Verfolgung kurdischer Bürgermeister

»Die Regierung will ihre Macht konsolidieren«

Türkei: Weitere kurdische Stadtoberhäupter abgesetzt und Orte unter AKP-Zwangsverwaltung gestellt. Ein Gespräch mit Eda Duzgun
Interview: Gitta Düperthal
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Kundgebung der Dem-Partei für Demokratie und gegen Massenverhaftungen von 231 Menschen, darunter ein Kobürgermeister (Diyarbakir, 27.11.2024)

In der Türkei werden immer mehr demokratisch gewählte kurdische Bürgermeisterinnen und Bürgermeister abgesetzt und durch eine Zwangsverwaltung ersetzt. Vergangenen Freitag war es wieder so weit: Wie lief das ab?

Anstelle des Koteams Cevdet Konak und Birsen Orhan von Dem wurde Provinzgouverneur Bülent Tekbıyıkoğlu zum Zwangsverwalter der Stadt Dersim bestellt. In Pulur wurde Mustafa Sarıgül von der CHP durch den Landrat Hüseyin Şamil Sözen ersetzt. Solche Entscheidungen sind Teil eines Musters, bei dem die regierende AKP/MHP-Regierung in der Türkei systematisch gegen gewählte kurdische Vertreterinnen und Vertreter vorgeht. Seit den Kommunalwahlen 2016 bis heute wurden in vielen von unserer Partei regierten Gemeinden sogenannte Treuhänder eingesetzt: auf ähnlich unbegründeten Anschuldigungen basierend. Solche Entlassungen verstoßen gegen demokratische Normen, gegen Entscheidungen türkischer Gerichte und internationaler Menschenrechtsgerichte. Danach gelten diese als politisch motiviert, weil sie darauf zielen, abweichende Meinungen zu unterdrücken und eine kurdische Vertretung in der Verwaltung zu verhindern.

Offenbar wurde auch in Bahçesaray ein Zwangsverwalter der Erdoğan-Partei eingesetzt. Dort war Dem-Kobürgermeister Ayvaz Hazır wegen Unterstützung einer »Terrororganisation« zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Wie lauten die Vorwürfe gegen die Abgesetzten von Dersim und Pulur?

Unterstellt werden auch hier angebliche Beziehungen zu Gruppen, die mit sogenanntem Terrorismus in Verbindung stehen: ein Standardvorwurf, den türkische Behörden gegen kurdische Politiker und Aktivistinnen erheben. Ziel ist, jede Handlung und jeden Widerstand für mehr Freiheiten und Rechte zu kriminalisieren. Die Anschuldigungen zielen darauf ab, den Einfluss der Opposition zu schwächen.

Weshalb gibt es insbesondere in der Stadt Dersim, auf Türkisch Tunceli, heftige Proteste?

Dersim ist historisch als Hochburg der kurdischen und alevitischen Kultur sowie Symbol des Widerstands gegen zentrale Autoritäten bekannt. Das Massaker von 1936 bis 1938 prägte die kollektive Widerstandsidentität der Stadt: Tausende Kurden und Aleviten wurden vom türkischen Staat getötet oder vertrieben. Heute noch stellt die Bevölkerung die häufig repressive Regierungspolitik in Frage, insbesondere, wenn sie darauf abzielt, kurdische und alevitische Identitäten auszulöschen.

Warum geht die AKP/MHP gerade jetzt derart vor?

Es zeigt die anhaltende Strategie der AKP/MHP-Regierung, ihre Macht inmitten politischer und wirtschaftlicher Instabilität zu konsolidieren. Diese Maßnahmen stehen für eine umfassendere autoritäre Tendenz, demokratische Institutionen der Türkei zu untergraben. Das Regime entzieht kurdischen Wählern das Wahlrecht und sendet die klare Botschaft, eine politische Vertretung, die mit kurdischen Interessen übereinstimmt, nicht zu tolerieren.

Wie viele wurden in den vergangenen acht Jahren ihres Amtes enthoben?

Mehr als 150 kurdische Bürgermeisterinnen und Bürgermeister – hauptsächlich von der Demokratischen Partei der Völker, HDP, und ihrer Nachfolgerin, der Partei für Gleichheit und Demokratie der Völker, Dem – wurden mit der Unterstellung, Terrorismus zu unterstützen, entlassen. Viele wurden ins Gefängnis eingesperrt oder anhaltender rechtlicher Verfolgung ausgesetzt. Andere gingen ins Exil.

Nimmt Europa all das zur ­Kenntnis?

Die Absetzung kurdischer Bürgermeister in der Türkei wurde in Europa als Verstoß gegen demokratische Grundsätze und Menschenrechte kritisiert. Institutionen und Organisationen argumentieren, dass dies den Wählerwillen untergräbt und die Opposition unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung ins Visier nimmt. Sie drängen auf Wiedereinsetzung. Diese antidemokratische Haltung besteht jedoch aufgrund fehlender Sanktionen fort.

Eda Duzgun ist Europasprecherin der linken Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie

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