Die Kunst des Abwartens
Von Hagen BonnVor zwei Jahren starb überraschend der Fotograf Micha Winkler, ein bildgewaltiger Chronist, der sich dem Pseudomodernismus der Gegenwartskultur verweigerte. Aktuell sind in Bernau bei Berlin gleich zwei Ausstellungen seiner Werke zu sehen, zudem hat die nahegelegene Stadt Biesenthal eine dritte Schau ermöglicht – was als Weckruf für Kunstinteressierte verstanden werden sollte.
1958 in Ostberlin geboren, war Micha Winkler wahrscheinlich das erste Kind der Republik, das als Fotograf verkleidet zum Fasching ging. Von dort war es nur noch ein kurzer Weg in die weite Fotoklub-Landschaft des sozialistischen Staates. Später leitete Winkler den Fotozirkel im Stadtbezirk Weißensee, widmete sich zugleich auch der Straßenfotografie. Jemand musste die Punks auf dem Berliner Alexanderplatz einfach dokumentieren. Gleiches galt für die Arbeitswelten der DDR in den volkseigenen Betrieben.
Winklers Unbestechlichkeit zieht den Betrachter förmlich in seine Bilder hinein. Diese sind analog aufgenommen, auf Schwarz-Weiß-Film. Die Methode hat Winkler auch und gerade wegen der später folgenden Farb- und Digitalrevolution bis zuletzt beibehalten. Um das Kunstmittel technisch vollständig auszuschöpfen, begann er, seine eigenen Lochkameras zu basteln: ein handlicher und lichtdichter Kasten plus eine kleine Lichtöffnung, fertig. Die Physik des Lichts wurde damit zur Kunst transformiert, Marke Eigenbau – was uns vom Künstler über das Milieu, das Handwerkslabor und das Instrument Kamera zum Begriff »Gesamtkunstwerk« führt.
»Gute« Fotografie ist immer Kulturarchäologie. Sie dokumentiert Pompeji, bevor es sich mit dem Vesuv der Geschichte vereinigt und verschwindet. Der harte Realismus, mit dem Winkler die späten Achtziger in der DDR festhielt, lässt mehr als eine Ahnung aufkommen, was noch folgen sollte. Wie viel Tristesse muss eine Schwarz-Weiß-Fotografie ausstrahlen, damit wir uns unwohl fühlen? Winkler hatte den sogenannten Blick, seine Meisterschaft bestand in der Kunst des Abwartens. Warten auf den Moment, den einen Punkt finden.
Seine Fotodokumente der späten DDR und der Nachwendezeit sind vor allem in den Berliner Bezirken Prenzlauer Berg, Mitte, Marzahn und Weißensee aufgenommen, dazu kommen diverse LPGs oder der VEB Elektrokohle.
Anders dagegen die monolithischen Bildwelten der Lochkameras: Hier erkennen wir die Dialektik von Schärfe und Schemen. Durch die langen Belichtungszeiten seiner selbstgebauten Geräte wurde der Widerspruch zwischen Fixpunkt und Fluchtpunkt überwunden, das Bild lebt in sich weiter fort. Ja, hier will der Moment fliehen, aber Winkler bleibt ihm auf den Fersen. Auch seine Musikfotografie soll nicht verschwiegen werden, die Bernauer Schau zeigt einige Arbeitsproben. Auch hierunter sind typische Winkler-Bilder, in denen der Moment fast filmisch über die Zeit hinauswächst.
»Micha Winkler – Retrospektive«, Galerie Bernau bei Berlin, bis 14. Dezember 2024
Kantorhaus Bernau bei Berlin, bis 14. Dezember 2024
Galerie im Rathaus Biesenthal, bis 15. März 2025
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
Ähnliche:
- 28.03.2024
Training für die schlaffe Seele
- 07.12.2021
»Ich dachte, die Wörter gehören mir nicht«
- 15.04.2021
Wo, wofür oder wogegen?
Regio:
Mehr aus: Feuilleton
-
Zwischen Himmel und Wasser
vom 02.12.2024 -
Trümmer im Schummerlicht
vom 02.12.2024 -
Die vielen Gesichter des Jazz
vom 02.12.2024 -
Nachschlag: Peripherie
vom 02.12.2024 -
Vorschlag
vom 02.12.2024 -
Veranstaltungen
vom 02.12.2024