Sartre bei Baader
Von Gerhard HanloserEin Bild ist legendär: Es zeigt einen jugendlichen Hans-Joachim Klein mit Lockenkopf im Vordergrund eines Autos, daneben den französischen Philosophen Jean-Paul Sartre und weiter hinten den Anwalt Klaus Croissant. Klein schloss sich später den Revolutionären Zellen an, einer der drei bundesrepublikanischen Stadtguerillagruppen, neben der Bewegung 2. Juni und der Roten Armee Fraktion (RAF). Es ist der 4. Dezember 1974, der Philosoph des Existentialismus besucht den RAF-Gefangenen Andreas Baader.
Mit Hilfe von Baaders Anwalt hatte Sartre einen Besuchsantrag gestellt. Er wolle Fragen stellen, »die für das Verständnis der Welt der 70er Jahre wesentlich sind«. Das Gespräch verlief wohl eher ungünstig für Baader, der Sartre gern als prominenten und unkritischen Fürsprecher gesehen hätte. Doch der 69jährige Philosoph erklärte, die Gruppe habe Aktionen unternommen, »mit denen das Volk nicht einverstanden war«. Derartige Gewaltaktionen seien in Ländern wie Guatemala oder Brasilien zielführend, nicht jedoch in der Bundesrepublik. Auf einer später abgehaltenen Pressekonferenz, in der Daniel Cohn-Bendit, anarchistische Ikone des Mai 1968 und in den 70er Jahren Frankfurter »Sponti«, als Übersetzer auftrat, erklärte Sartre noch: »Diese Gruppe ist für die Linke schlecht.« Er solidarisierte sich allerdings ohne Wenn und Aber mit den Gefangenen und klagte die »Isolationsfolter« an. Cohn-Bendit kolportierte später, Sartre habe Baader als »Arschloch« bezeichnet, ein unbelegtes Zitat, mit dem heutzutage die meisten Kommentatoren den Besuch hämisch meinen abhaken zu können.
Doch hinter Sartres Interesse an der RAF stand nicht nur eine spontane Solidarisierung mit den Kämpfern gegen den deutschen postfaschistischen Staat, wie die RAF oftmals in von den Nazis besetzten westeuropäischen Ländern wie Italien und Frankreich wahrgenommen wurde. Finden sich Verbindungslinien in Sartres Denken zur Praxis der Roten Armee Fraktion? Die liberal-konservative Welt, der unlängst durch den Verfassungsschutz Protokolle des Gesprächs zwischen Sartre und Baader zugespielt wurden, beantwortet dies skandalisierend mit Ja. Der leitende Redakteur Geschichte Sven-Felix Kellerhoff meint, das zehnseitige Papier zeige, »wie sehr sich Jean-Paul Sartre mit Baader gemein macht«. Nichts davon zeigen die Protokolle tatsächlich. Sartre bezeichnet sich zwar als »Sympathisant« der RAF, betrachtete wie in seinen Gesprächen mit französischen Maoisten die RAF-Mitglieder als Genossen, teilt aber ihre Methoden und Strategien ausdrücklich nicht.
Der ehemalige Heideggerianer Sartre machte sich ab den 1940er Jahren auf, eine Versöhnung seines Existentialismus mit den Hegelschen Kategorien und vor allem mit der Marxschen Dialektik zu bewerkstelligen. Sartre trat als vielleicht letzter Intellektueller auf, der sich auf die Tradition des marxistischen konkreten Humanismus bezog und die Entfremdungskategorie ernst nahm. Als universeller Intellektueller mit dem Anspruch, Gesellschaft als Totalität zu beschreiben, ohne ein »bloßes Gerippe abstrakter Allgemeinheiten« auf den Lippen zu tragen, in denen der konkrete Mensch verschwindet. Somit war er der letzte Intellektuelle im eigentlichen Sinne. Später wurde diese Figur des Intellektuellen abgelöst durch den »wissenschaftlich-antihumanistischen« Parteiintellektuellen (Louis Althusser) auf der einen und den »spezifischen Intellektuellen« auf der anderen Seite, der sich in ein punktuelles Kampfverhältnis stellt, ohne dies umfassend theoretisch begründen zu müssen und vereinheitlichend wirken zu wollen (Michel Foucault).
Sartre war lange Zeit orthodoxer Anhänger der Sowjetunion unter Stalin. Den mit der Sowjetunion verbundenen Kommunisten galten Gruppen wie die RAF als voluntaristische und anarchistische Kleinbürger. Der erste Bruch Sartres mit der Politik der Sowjetunion ereignete sich mit der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes 1956. Der Philosoph der Existenz arbeitete sich seitdem peu à peu aus einem nur oberflächlich rezipierten Marxismus heraus, den er selbst als Legitimationswissenschaft der Sowjetunion in den frühen 50er Jahren zum Teil vertreten hatte und den er überschreiten wollte. Die Debatte um und mit Sartre hatte für die Entwicklung des marxistischen Denkens in den 60er Jahren eine wichtige Funktion. Die Neue Linke versuchte sich gegen stalinistische Verkrustung und Koexistenzbekundungen mit dem Westen an einer Aktualisierung der grundlegenden Frage von Marx: Wo sind die potentiellen Sprengminen, die dem antagonistisch verfassten, dauerhaft krisenhaften und mörderisch die Krise aufschiebenden Kapitalismus ein Ende bereiten könnten? Diese neomarxistische Debatte wurde nicht bloß in Frankreich geführt, sie prägte auch die Diskussionen der Studentenbewegung in Italien und Deutschland der 60er Jahre. In diesem Umfeld bewegten sich die Gründer der RAF Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Ulrike Meinhof.
Zirkel des Scheiterns
Wenn ein zentrales Thema des frühen französischen Existentialismus anzugeben ist, dann wäre es der theoretische und philosophische Versuch, den Widerspruch zwischen Freiheit und Determinismus, zwischen Individuum und Geschichte zu überwinden. Genau diesen Widerspruch erst einmal aufgebaut zu haben, warf Herbert Marcuse dem alten Existentialismus von Sartre aus der Phase von »Das Sein und das Nichts« teils harsch, doch treffend vor. Entstanden in einer Zeit des faschistischen Terrors und der Konzentrationslager ist der Existentialismus ein Beispiel dafür, was passiert, wenn Denken aufgrund der falschen Wirklichkeit auf sich selbst zurückgeworfen ist. Sartre behauptet in dieser frühen Phase die absolute Freiheit des Subjekts im Moment seiner größten Unterwerfung, trotzdem gibt es keinen Ausbruch. Die Bestimmung des menschlichen Seins ist das Scheitern, Sartre spannt den Menschen in einen »Zirkel des Scheiterns« ein, auch wenn er die Möglichkeit einer Moral (wohlgemerkt: nur einer Moral) der Befreiung und der Rettung nicht ausschließen möchte. Schließlich ist für Sartre der Mensch auch in Zeiten der größten Determiniertheit absolut frei, eine Darstellung, die Marcuse als »altehrwürdige Gestalt des Idealismus« bezeichnet, die allerdings nur »die Ferne dieser Philosophie von der ›Wirklichkeit des Menschen‹« zeige.
Im Juli 1946 hat Sartre eine neue theoretische Anstrengung unternommen, das Verhältnis von Freiheit und Geschichte zu definieren. In seiner Schrift »Existentialismus und Marxismus« wendet er sich gegen idealistische Auffassungen des Freiheitsbegriffs bei den Stoikern, bei den Christen oder bei Bergson – auch sein eigenes philosophisches Hauptwerk »Das Sein und das Nichts« hätte von dieser Absage berührt sein müssen. Sartre korrigiert frühere Irrtümer, dennoch schleichen sich neue ein. War die absolute Freiheit ihm zuvor das Sichverlieren in der lustvollen Verdinglichung des eigenen und des fremden Körpers, so wendet er sich nun dem Lohnarbeiter als verdinglichtem Subjekt zu, das ganz im Sinne der Herr/Knecht-Interpretation von Alexander Kojève seinen Sklavenzustand transzendieren kann, indem der Sklave auf die Dinge einwirkt – und arbeitet. Doch Arbeiten allein ist Sartre nicht Grund genug, die Verhältnisse transzendieren zu können. In diesem Sinne steht er entgegen seiner Nähe zur Kommunistischen Partei in einer Tradition radikaler Arbeitskritik. Um diese jedoch stringent zu formulieren, meint er, sich vom Historischen Materialismus und Marx lösen zu müssen. Er verwechselt Kojève mit Marx und kritisiert am Historischen Materialismus, dass der lediglich Verhältnisse zwischen Dingen in den Blick nehme und die befreite Gesellschaft sich als »harmonisches Unternehmen zur Ausbeutung der Welt« vorstelle. Zu Recht weist Marcuse darauf hin, dass Marxismus gerade das nicht intendiert, Marx zuweilen von der Abschaffung der Arbeit als verdinglichter Größe spricht und allseitig befreite soziale Verhältnisse zwischen den Menschen anpeilt.
Klasse = Partei?
In den 50er Jahren war Sartre Freund und Weggenosse der Kommunisten. Seine 1952 veröffentlichte Schrift »Die Kommunisten und der Frieden« bezeugt das am deutlichsten. Weshalb sie auch von »undogmatischen«, SU-kritischen Marxisten der Zeit scharf kritisiert wurde. Die Rolle der Selbstemanzipation solle an die Partei abgegeben werden, selbst wenn diese eine falsche Philosophie predige: So lassen sich die prominentesten Gegenstimmen zu dieser Schrift, vom dem ehemaligen Trotzkisten und Mitbegründer der rätekommunistisch inspirierten Gruppe »Socialisme ou barbarie«, Claude Lefort, und von Sartres langjährigem Freund, Maurice Merleau-Ponty, zusammenfassen.
Sartre zeigt sich in der Schrift »Die Kommunisten und der Frieden« als Fellow-Traveller der kommunistischen Partei und ihrer Ideologie. Was Arbeiterklasse ist, bestimmt die Partei, ohne letztere kann es erstere gar nicht geben. Jegliche Form der Spontaneität der Klasse, der Autonomie im Klassenkampf wird von ihm verneint. Er stellt sich eine träge Entität, mehr Masse als Klasse, vor, die der Formierungsleistungen der Partei bedarf, um wirklich erst Klasse zu sein. Claude Lefort kritisiert diese Gleichsetzung von Klasse und Partei. Bevor die Klasse und die Klassenzusammensetzung untersucht worden seien, postuliere Sartre bereits eine »Klasseneinheit«, die mittels der Partei von außen in einem »synthetischen Vereinigungsakt« erzwungen werden soll.
Die Klasse ist bei Sartre nicht eine gehemmte Begierde, nicht die Verkörperung der lebendigen Arbeit, die aufgrund der Herrschaft und Formbedingtheit des Kapitals gezwungen ist, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, aber in der Produktion eine Gegenkollektivität zum Fabrikkommando darstellen könnte. Ihre Praxis wird von Sartre als vollends fremdbestimmt gezeichnet, und damit kommt ihr bei Sartre auch nicht die Möglichkeit zu, eine das Bestehende transzendierende Kraft zu sein. Diese muss unter diesen Prämissen von außen kommen, sich von der herrschenden Praxis radikal unterscheiden, und sie kann nicht positiv, sondern nur negativ und negierend sein.
»Der Arbeiter wird in eben dem Maße zum Proletarier, in dem er seine Lage ablehnt«, sagt Sartre, aus der »Lage« selbst erwächst förmlich nichts. Lefort stellt sich auf den anderen Standpunkt der Kritik, für ihn ist den Marxschen Feuerbach-Thesen folgend Praxis nicht aufteilbar in revolutionär-negierende und erhaltend-positive Praxis, sondern stets eine unteilbare. Sie beinhaltet auch die Negation und die Möglichkeit des Transzendierenden. Lefort vertritt eine Kritik der Immanenz, der zufolge in der Tätigkeit des Arbeiters bereits die Möglichkeit der Veränderung gegeben ist. Sartres Perspektive erscheint ihm als Maschinenstürmerei, denn »die revolutionäre Tätigkeit ist eine Arbeit an der Gesellschaft«. Im Praxisbegriff des frühen Marx, auf den Lefort sich korrekt bezieht, lässt sich die die herrschenden Zustände konstituierende Praxis in der Tat nicht von kritischer Praxis unterscheiden. Für Marx gibt es nur die eine Praxis, die auf lange Sicht die herrschenden Verhältnisse auflösen wird, weil sie im Wechselverhältnis von Produktivkraftentwicklung und bestehenden Produktionsverhältnissen angesiedelt ist. Lefort bezieht sich so auch auf die eine proletarische Praxis und konkretisiert sie. Er spricht nicht von einer reformistischen und einer ganz anderen, revolutionären Arbeiterbewegung, sondern er stellt dar, dass reformistische und revolutionäre Kämpfe vor dem Hintergrund der sich wandelnden Arbeitererfahrung die eine Arbeiterbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts begleiten. Klasse ist voll und ganz determiniert durch die Produzentenrolle. Doch die Praxis, die hier ihren Platz hat, ist stets auch überschreitende Praxis. Bei Sartre dagegen scheint die Praxis von außen an die bloß das Bestehende produzierende Klasse herangetragen werden zu müssen – durch die Partei oder später: die revolutionäre Gruppe. Darin ist er zuweilen leninistischer als Lenin. Auch in der frühen RAF wurde die Frage der revolutionären Potenz der Arbeiterklasse kontrovers diskutiert. Der abstrakte Antiimperialismus, dem die bewaffneten Agitatoren schließlich folgten, war auch das Resultat einer negativen Sichtweise auf mögliches sprengendes Potential der metropolitanen und besonders der deutschen Arbeiterschaft. In Baaders Notizen zur Vorbereitung für das Gespräch mit Sartre ist so auch die »Konsumentenkultur« notiert, der Faschismus habe in Deutschland die Arbeiterbewegung zerschlagen, in Frankreich oder Italien gebe es mit starker Volksfrontpolitik andere, legale Mittel einer revolutionären Linken als in der Bundesrepublik. Diese Behauptung wies Sartre klar zurück, weder für die BRD noch für Frankreich sah er die Möglichkeit und Notwendigkeit einer bewaffneten Politik der Linken.
Die Gruppe vs. das Praktisch-Träge
Die indische Marxistin Raya Dunayevskaya, zeitweilig Sekräterin Trotzkis, hielt Sartre zugute, eine radikale Konzeption von Freiheit und Revolution entworfen und sich nicht im Elfenbeinturm abgeschottet zu haben. Tatsächlich war Sartres Besuch in Stammheim auch ein Schritt raus aus dem intellektuellen Elfenbeinturm. Doch Dunayevskaya kritisiert auch den großen marxistisch inspirierten Philosophen: »Woran immer Sartre als engagierter Intellektueller, der ein Marxist sein will, auch glaubt und worauf er sein Handeln stützt, so hat er als existenzialistischer Philosoph seine Wurzeln doch in Niederlagen und nur in Niederlagen. In den 30er Jahren waren es weder die Sitzstreiks in Frankreich, die dem Faschismus den Weg versperrten, noch die spanische Revolution, sondern die Niederlagen des Proletariats gegen den deutschen und den spanischen Faschismus, die das Klima für ›Das Sein und das Nichts‹ schufen.« Und in den 50er Jahren war es nicht die ungarische Revolte, so führt sie weiter aus, gegen das sowjetische Regime, sondern der Stillstand des Kommunismus, der dazu führte, dass Sartre großangelegte Versuche einer Neubestimmung der dialektischen Methode unternahm. Nicht die tatsächlich revoltenhafte Praxis, sondern eine philosophische Versteinerung hätten ihn bewegt. Für die Hegelmarxistin Dunayevskaya mussten stets die »Stimmen von unten« in die marxistische Philosophie eingehen. In ihrem Dialektikverständnis stehen Subjekt, Praxis und Freiheit im Zentrum. Sie war auch treue Leninistin und erklärte sich vollends einverstanden damit, dass ein kluger Idealismus dem klugen Materialismus nähersteht als ein dummer Marxismus. So müssen die idealistisch beflügelten Kämpfe der Arbeiterklasse immer in die philosophisch-marxistische Reflexion eingehen.
Dunayevskaya kritisierte, dass Sartre nicht auf Rätebildungsprozesse, Streiks und Arbeiteraufstände reflektiert habe, sondern in seinen Ausführungen auf die »dialektischen« Legitimationsstrategien der Moskau-marxistischen Orthodoxie fixiert blieb.
In seiner Schrift »Fragen der Methode« von 1957, die 1964 unter dem Titel »Marxismus und Existentialismus« erschien, rechnete Sartre mit einem versteinerten Marxismus und dem Historischen Materialismus ab. Der »Austreibung des Menschen« aus dem marxistischen Wissen hielt er die Existenz und die Möglichkeit zum Entwurf entgegen. Nur durch diese Erinnerung des Existentialismus sei Veränderung möglich, die im offiziellen historischen Materialismus der »faulen Marxisten« und im »stalinisierten Marxismus« verschüttet ist. Denn für diese sei ein Arbeiter »kein reales Wesen, das sich mit der Welt verändert, sondern eine platonische Idee«. Als schließlich im Namen der platonischen Idee gegen die realen Arbeiter in Ungarn vorgegangen wurde, positionierte Sartre sich angesichts der russischen Invasion 1956 klar auf der Seite der linken Kritiker der Sowjetunion und verfolgte das Auftauchen neuer sozialistisch-kommunistischer Strömungen und Bewegungen vor allem in den kolonisierten Ländern und den späteren Blockfreien mit großem Interesse. Viele antikoloniale Bewegungen, vor allem in Afrika, konnten sich in den 50er Jahren siegreich behaupten. Seine Schrift »Kritik der Dialektischen Vernunft« wurde so von dem Sartre-Interpreten Friedrich von Krosigk korrekt als »groß angelegter Versuch, diesen Sieg theoretisch zu fundieren«, bezeichnet. In diesem neuen philosophischen Entwurf sollte die Dialektik in der Praxis der existierenden Subjekte verankert werden, zugleich lehnte Sartre eine höhere Instanz, eine höhere Wahrheit – wie in Hegels Geistkonzeption oder in Engels’ Naturdialektik – ab. Ihm ging es nun um die Frage, wie das – wie er es philosophisch nannte – »Praktisch-Träge« aufgelöst und unterlaufen werden kann. Auch im östlichen Marxismus sah er es wirken.
Vielleicht war das durch Sartre bekämpfte »Praktisch-Träge« das philosophische Pendant zur versteinerten Kalten-Kriegs-Zeit, und Sartres philosophische Neuanstrengung somit Ausdruck eines »ideologischen Kampfes gegen den untätigen Marxismus«, wie Dunayevskaya vermutete. Vielleicht war es aber auch ein Nachklapp der Sartreschen Résistance-Philosophie. George Lichtheim meinte, dass die Sartresche Darstellung der menschlichen Beziehungen als seriell-stillgestellte »auffallende Ähnlichkeit mit einem Konzentrationslager« aufweist. Folglich kann das »Praktisch-Träge« nur von außen durchstoßen werden: laut Sartre von einer Gruppe oder Partei, die mit dem richtigen Bewusstsein ausgestattet ist. Anfangs durch eine wieder revolutionär agierende Partei, später durch die subversive Gruppe, im Dialog mit den antikolonialen Kräften, dann durch die befreiende revolutionäre Gewalt von Aufständischen. »Die gemeinsame Freiheit konstituiert sich a priori als Gewalt«, sagt Sartre. Und er schrieb ein Vorwort für Frantz Fanons »Die Verdammten dieser Erde«, das Fanons äußerst differenzierten und auch klassenbezogenen Antikolonialismus in einem parteiischen und zuweilen ins Extremistische gesteigerten Antiimperialismus des Gewaltakts überbot. Gerade letzteres legt den Schluss nahe, dass tatsächlich – wie Dunayevskaya vermutet – das revolutionäre Programm von Sartre dazu führt, dass »die Gruppe« und »die Geschichte« sich gegenüberzustehen scheinen. Hier hält sich das alte existenzialistische Programm des Aufsplitterns in Für-sich-Sein und An-sich-Sein. Die vermittelnde Praxis, und damit die materialistische Möglichkeit einer Transzendenz des Bestehenden, fehlt. Dieses Fehlen, das für den Existentialismus konstitutiv ist, dürfte dann auch sein, was RAF und Sartre verbindet.
Die Subjektivität wird durch Sartre deswegen derart hypostasiert, weil er meint, sie sei im Marxismus komplett kassiert worden. Dunayevskaya zeigt, dass Sartre einer Täuschung über Marx und Lenin unterliegt. Er rezipiert sie nur als Objektivisten oder als Widerspiegelungstheoretiker. Lenin dagegen zeigte sich spätestens nach seiner Beschäftigung mit Hegel als Theoretiker der revolutionären Praxis: »Das Bewußtsein des Menschen widerspiegelt nicht nur die objektive Welt, sondern schafft sie auch.« Dies hat Sartre übersehen und Marx’ Kritik der politischen Ökonomie auf Automatismus und Objektivismus sowie Lenin auf seine philosophisch problematische Schrift über den Empiriokritizismus reduziert. Die beißende Kritik von Lefort an Sartre hat also seine Berechtigung: Dieser habe den Marxschen Praxisbegriff nicht verstanden, vielmehr nur die Unterwerfung vor Augen, während doch beim frühen Marx Praxis stetige Veränderung ist. Bei Lefort nahm diese philosophische Debatte eine praktische Wendung: Man muss in die Fabrik gehen, um zu verstehen, was auf dem Markt vor sich geht, man muss das Verhalten der Arbeiter in der Kooperation untersuchen, um zu sehen, wo transzendierende Praxis situiert ist. Schließlich entwickelten sich aus diesem Appell auch die ersten Arbeiter- und Fabrikuntersuchungen von »Socialisme ou barbarie«, die später durch den italienischen Operaismus beerbt wurden und selbst in der BRD zu militanten Betriebsgruppengründungen nach 1969 anregten.
Sartres Frage nach dem Bewusstsein, nach dem gewollten Sprung aus den vorherrschenden Formen des »Seriellen«, nach einem radikalen Bruch mit dem Vorherrschenden bleibt jedoch nach wie vor die Stärke seines Entwurfs einer Theorie der Befreiung. Die RAF in ihrer Anfangs- und Gründungszeit hatte betont, dass niemand anderes als die Revolutionäre den Bruch und die Sprengung der Verhältnisse zu organisieren und zu betreiben hätten. Wenn die Revolutionäre es nicht täten, nicht den Kampf gegen die Herrschenden aufnehmen würden, wie solle man es von den Arbeitern verlangen? Und auch alle linkssoziologischen oder operaistischen Untersuchungen des wirklichen Arbeiterverhaltens und der in der Produktion ausgeübten Praxis haben noch keine klare Bewegung in Richtung Kommunismus offenbart, geschweige denn eröffnet. Wer hat also das letzte Wort?
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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Ronald B. aus Kassel (4. Dezember 2024 um 10:26 Uhr)Dicke Bücher waren nie meine Sache, und von Sartre weiß ich gar nicht so viel, indes es hat sich mir ein Satz von ihm eingehämmert, den ich – es ist viele Jahrzehnte her – aus seinem Werk wiederzugeben weiß und der da – jedenfalls so ungefähr – lautete: »Morgen schon (…) können die Mächtigen beschließen, den Faschismus einzuführen und die Anderen können ratlos oder feige genug sein, sie machen zu lassen. Dann wird der Faschismus die menschliche Wirklichkeit sein und schlimmer noch: In Wahrheit werden die Dinge genau so sein, wie der Mensch beschlossen wird, dass sie sein sollen.« Und an dieses »wie der Mensch beschlossen haben wird, dass sie sein sollen«, musste ich – über Jahrzehnte – denken, wenn ich in meinem Alltag irgendwelche Halb-, Dreiviertel- oder Vollfaschisten in ihrem Tun und Reden erlebt habe und ja, sein »der Mensch« schließt auch Entscheidungen und Verhaltensweisen der eigenen Genossen unbedingt mit ein – auch das ist wahr.
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