»Was weißt du schon von Russland?«
Von Irmtraud GutschkeMeine schmerzliche Liebe zu Russland« – das muss man heute erst mal zu behaupten wagen. Zumal es in diesen Zeiten geradezu Pflicht geworden ist, den »völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg« auf die Ukraine zu verurteilen. Gebetsmühlenartig wird die Floskel wiederholt, als ob die Verneigung vor herrschender Politik vorauszuschicken sei, um überhaupt sprechen zu dürfen. Alles Russische ist in Verruf geraten. Sanktionen treffen auch die Kultur.
Wir sind in Kriegszeiten: Waffenlieferungen und emotionale Aufrüstung gehören zusammen. Wer sich wider besseres Wissen fügt, ist sich vielleicht selber gram. So wie Antje Leetz nach der Bekanntschaft mit einem an sich klugen, sympathischen Mann, dem sie im Buch den Namen Daniel gibt. Er interessierte sich für ihr »Ostleben« und erzählte ihr vom »alten Vater Rhein«. Es tat ihr gut, wie er ihr zuhörte. Doch plötzlich empörte er sich, dass Edeka immer noch »Russisch Brot« verkauft. »Als ob jemand noch was Russisches essen will! Russland liegt doch total am Boden!« Da hatte sein Gesicht einen »ganz verzerrten Ausdruck« angenommen – »lange vor dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs«. Der hätte sie sowieso entzweit.
Was sie damals herunterschluckte, hat in ihr gewühlt und gab ihr dann die Energie für dieses Buch. »Was weißt du schon von Russland? … Es klingt bei dir ja fast so, als ob der Osten Europas etwas Niedrigeres sei, auf das du herabblickst, etwas weniger Kulturvolles als das sogenannte Werte-Europa? … Russland – das Land der Barbaren am Ende noch.«
Zorn und Melancholie, sanfte Nachdenklichkeit, glückliches Erinnern, Lächeln und schmerzvolles Seufzen – wie Antje Leetz dem Widersprüchlichen in sich selber nachspürt, so offen, so ehrlich, so völlig ungekünstelt, macht den Reiz dieses Buches aus. »Und vor lauter Nachsinnen wäre ich heute um ein Haar in der S-Bahn sitzengeblieben.« So beginnt es. In einem ganz persönlichen Ton, der nichts herausstreichen will. Die Autorin vertraut ihrem Gedankenstrom, und das überträgt sich beim Lesen. Ich habe Antje Leetz noch kennengelernt, als sie Lektorin für moderne russische Literatur im DDR-Verlag »Volk und Welt« war, in einem Kollektiv von 14 Spezialisten, die alle Russisch konnten und mit ihren Editionen auch etwas erreichen wollten: Einspruch in gesellschaftliche Angelegenheiten, wie es Hermann Kant ausdrückte, Erweiterung des politisch Möglichen unter den Bedingungen des Kalten Krieges. Von Achmadulina bis Zwetajewa reicht das Personenregister. Aufmüpfige Literatur: So viele sowjetische Autorinnen und Autoren hat Antje Leetz auch persönlich kennengelernt!
Und das setzte sich fort, als sie 1985 die DDR verließ – nicht Richtung Westen, sondern gen Moskau, wo sie 1969 schon studiert hatte, um dort im Verlag »Progress« zu arbeiten. Welchen Mut es brauchte, allein mit zwei Kindern in fremder Umgebung Fuß zu fassen, und wie sie durch die aufregenden Jahre der Perestroika belohnt wurde! Was einem Russland bedeuten kann, wenn man die Sprache beherrscht, wie einem Fremde zu Freunden werden, welche Funken da überspringen, ich kann es nachfühlen ebenso wie die Ernüchterung, als die Sowjetunion zerbrach. »Es liegt doch klar auf der Hand, dass es eine Alternative zum Kapitalismus geben muss.«
Man hat gleichsam einen Film vor Augen: Wie aus der Freundschaft mit der Schriftstellerin Ljudmila Petruschewskaja immer wieder neue Geschichten entstanden, wie Antje Leetz, nun schon als Rundfunkjournalistin, die Witwe von Ilja Ehrenburg traf, über Alexandra Kollontai recherchierte, die »Amazone der Revolution«, wie sie im Herbst 2013 mit dem »Roten Pfeil« nach St. Petersburg fuhr – zu Lena, die mit ihrem Freund einen kleinen Verlag betreibt, und nun Revolutionslieder anstimmt …
Unter den 13 Erzählungen, die zu Radiobeiträgen wurden, ist auch diejenige, die dem Buch den Titel gab. Ende Februar 2004 sind wir lesend auf einer Zugfahrt von Moskau nach Jalta dabei, wo Tschechows Haus die Revolution, den Bürgerkrieg und die Besetzung der Krim durch die Wehrmacht überstand. Dort lernt die Autorin eine Frau kennen, die Tschechows Schwester noch persönlich kannte. So schön ist diese Geschichte, dass sie hätte ein Buch für sich werden können. Drei Tage lang geht sie immer wieder in die »Weiße Villa«, wo die Rosen im Garten noch blühen. Die Gärtnerin schenkt ihr einen schwarzen Stein. Zu Hause beim Auspacken fällt er ihr vor die Füße. »Ich halte das kleine Ding eine Weile in meiner warmen Hand, und plötzlich spüre ich, dass der Stein würzig nach feuchter Erde riecht. Er strömt eine besondere Energie aus. Und seitdem schleppe ich ihn überall mit mir herum.«
Werde ich je nach Jalta kommen, denke ich da, nach Jasnaja Poljana, ins Landgut von Lew Tolstoi, in die Wohnung von Michail Bulgakow oder nach Nischni Nowgorod, Gorkis Geburtsstadt? Wenigstens mal wieder zum Arbat, den Bulat Okudshawa so wunderbar besang. Aber dazu müsste endlich Frieden sein. Antje Leetz würde sich wünschen, ihrer Enkelin Ida mal Russland zu zeigen. »Was wirst du wohl zu den schnellen und ellenlangen Rolltreppen in der Metro sagen. Und zu dem weiten Himmel über Moskau. Aber vielleicht ist dir die Stadt viel zu laut und zu westlich. Dann fahren wir gleich weiter … nach Sibirien, an den Jenissej zum Beispiel …«
Antje Leetz: Der schwarze Stein aus Tschechows Garten. Meine schmerzliche Liebe zu Russland. Edition Schwarzdruck, Gransee 2024, 315 Seiten, 25 Euro
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