Schwächelnder Golfstrom
Von Wolfgang PomrehnEuropas Zentralheizung, der Golfstrom, kühlt ab. Schon seit längerem. Seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts hat er an Kraft verloren. Bisher konnten Klimamodelle diese Entwicklung allerdings nicht richtig simulieren. Nun haben die Klimawissenschaftler Gabriel M. Pontes und Laurie Menviel einen Dreh gefunden und berechnet, dass die Strömung in den kommenden Jahrzehnten noch einmal um ein Drittel schwächer werden könnte. Vor allem, wenn die Treibhausgasemissionen nicht bald eingestellt werden. Andernfalls wird sich das globale Klima auf über zwei Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau erhitzen. Die entsprechende Studie wurde kürzlich in Nature Geoscience veröffentlicht.
Ozeanographen und andere Klimawissenschaftler sprechen gewöhnlich nicht vom Golfstrom, sondern von der atlantischen meridionalen Umwälzzirkulation, meist mit dem englischen Akronym AMOC (Atlantic Meridional Ocean Circulation) betitelt. Der Golfstrom ist nur ein kleiner Teil der AMOC, die im wesentlichen von Süd nach Nord und zurück, das heißt, entlang der Meridiane verläuft und den ganzen Atlantik umfasst. 20 Millionen Kubikmeter Wasser pro Sekunde fließen durchschnittlich entlang der nordamerikanischen Ostküste, bevor sie sich südlich von Labrador gen Nordosten wenden. Der größte Strom des Planeten, der Amazonas, transportiert für gewöhnlich nur ein Hundertstel dieser Menge.
Angetrieben wird diese Strömung vor allem dadurch, dass die Erde in den Tropen mehr Energie von der Sonne erhält als an den Polen. Diese Energie wird von der Atmosphäre und mehr noch von den Ozeanen umverteilt. Das Wasser erwärmt sich also in Tropen und Subtropen, im Falle der AMOC vor allem in der Karibik, dehnt sich entsprechend aus und fließt daher an der Oberfläche nach Norden. Dabei ist in der warmen Karibik die Verdunstung besonders stark, weshalb das Wasser sehr salzig und damit bereits dichter als in anderen Teilen der Weltmeere ist. Im nördlichen Nordatlantik gibt es dann seine Wärme an die Luft ab, wodurch seine Dichte weiter zunimmt. Im Winter wird zudem der Salzgehalt und damit die Dichte noch weiter erhöht, da an der Oberfläche gefrierendes Wasser das Salz im verbleibenden Wasser zurücklässt. Aufgrund der größeren Dichte sinkt das Wasser ab und fließt schließlich in mehreren tausend Meter Tiefe zurück bis in den tiefen Süden. Die AMOC hat also zwei Motoren: die starke Erwärmung in der Karibik und das Absinken des sehr salzigen, kalten Wassers im hohen Norden.
An dieser Stelle kommt der Klimawandel ins Spiel. Schon in den 1980er Jahren haben Wissenschaftler begonnen, sich Gedanken über die Folgen der Eischmelze auf Grönland zu machen. Denn je mehr Eis dort auftaut, desto mehr wird das salzige Meerwasser durch das zufließende Süßwasser verdünnt. Dadurch nehmen Salzgehalt und Dichte ab, wodurch der Antrieb für das Absinken geringer wird. Daten aus ferner Klimavergangenheit zeigen, dass die große ozeanische Umwälz- und Wärmepumpe dadurch tatsächlich abgewürgt werden kann. In den 1980ern haben dänische, deutsche und Schweizer Paläoklimatologen im grönländischen Eis und in den Sedimenten des Nordatlantiks Spuren sehr abrupter Klimaschwankungen während der letzten Eiszeit identifiziert und ein mehrfaches Zusammenbrechen der AMOC nachgewiesen. Ursachen waren seinerzeit riesige Flotten von Eisbergen, die auf den Nordatlantik hinausgetrieben und dort geschmolzen waren, womit sie das salzige Wasser verdünnt hatten.
Kann sich ähnliches unter den heute anderen Bedingungen wiederholen? Nun, eine AMOC-Abschwächung wird bereits beobachtet, und das grönländische Eis verliert seit 1996 Jahr für Jahr an Masse. Von September 2023 bis August 2024 waren es 80 Milliarden Tonnen, wie Martin Stendel und Ruth Mottram vom Dänischen Meteorologischen Institut auf der Plattform Carbon Brief schreiben. Das entspricht 80 Kubikkilometern Süßwasser, die das Salzwasser des nördlichen Nordatlantiks verdünnt haben.
Da die Klimamodelle diese Prozesse bisher nicht genau genug simulieren, um verlässliche Rückschlüsse auf die künftige Entwicklung der Meeresströmungen zu erlauben, haben sich Pontes und Menviel von der University of South Wales in Australien einen Dreh überlegt, wie die physikalischen Realitäten besser abgebildet und damit die Prognosen genauer werden können. Sie haben einfach die historischen Daten über die Einträge von Süßwasser in den nördlichen Nordatlantik als Randbedingungen in ihr Modell eingespeist, anstatt den Eisverlust zu simulieren. Und siehe da: Nun stimmte die simulierte AMOC der letzten 70 Jahre mit den beobachteten Daten überein. Dann haben sie für eine globale Erwärmung von zwei Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau den Süßwasserzufluss abgeschätzt, diesen der Simulation als Randbedingung vorgegeben und kommen zu der erwähnten Abschwächung von einem weiteren Drittel.
Nun ist die AMOC aber ein nichtlineares System, das sich zuerst graduell verändert, dann aber sehr schnell abbrechen kann. Das liegt an der Rückkoppelung zwischen Strömung und Salzgehalt: Je stärker die Strömung, desto mehr Salz wird in den hohen Norden gepumpt, desto stärker ist dort das Absinken. Wird die Strömung schwächer, gelangt weniger Salz in den Norden, wodurch weniger Wasser absinkt und die Strömung noch schwächer wird. Irgendwann gibt es einen Punkt, an dem sie ganz abreißt. Das Problem ist allerdings, dass sich derartige nichtlineare Vorgänge mit ihren abrupten Veränderungen schon aus mathematischen Gründen nur sehr schwer simulieren und damit vorhersagen lassen. Immerhin haben die beiden australischen Wissenschaftler aber mit ihrer Studie festgestellt, dass die Abschwächung der AMOC im südwestlichen Südatlantik zu einer raschen Zunahme der Salinität, also des Salzgehalts, führt. Die dort bereits beobachtete Zunahme des Salzes sei als ein Warnsignal für größere Veränderungen im Nordatlantik zu sehen. So warnen Pontes und Menviel in einem Beitrag auf der Plattform The Conversation eindringlich: »Eine derart schnelle Abnahme der Umwälzströmung in den kommenden Jahrzehnten wird auf Klima und Ökosysteme massive Auswirkungen haben.« So sei von härteren Wintern in Nordeuropa und mehr Trockenheit in den tropischen Regionen der Nordhalbkugel auszugehen.
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