»Drahtzieher dieser Angriffe ist die Türkei«
Interview: Justus JohannsenTausende von Milizionären haben am Sonnabend in einer überraschenden Offensive einen großen Teil der syrischen Stadt Aleppo eingenommen. Wie erleben Sie die aktuelle Situation vor Ort?
Da die syrische Armee ohne jeden Widerstand und ohne einen einzigen Schuss abzugeben geflohen ist, konnten sich die von der Türkei unterstützten Dschihadisten von Haiat Tahrir Al-Scham problemlos Aleppo nähern und die Stadt einnehmen. Somit wurden die Bewohner Aleppos schutzlos der HTS, Nachfolgeorganisation der Dschabhat Al-Nusra, ausgeliefert. Bisher ist es der HTS nicht gelungen, in die mehrheitlich kurdisch bewohnten Viertel von Aleppo, Şexmeqsûd und Eşrefiye, einzudringen. Ihre Kämpfer haben mehrmals versucht, von Osten her einzudringen, wurden aber von den Demokratischen Kräften Syriens, SDK, zurückgeschlagen. In Şexmeqsûd wurden einige Zivilisten, darunter Minderjährige, von HTS-Scharfschützen in der Nähe des Krankenhauses getötet, und es gibt Berichte über weitere Ermordungen sowie Entführungen von Zivilisten. Die russische Luftwaffe hat verschiedene Orte in der Umgebung von Aleppo angegriffen und dabei viele HTS-Mitglieder getötet.
Was ist der Grund für die erneute Eskalation?
Auf der einen Seite haben internationale Kräfte wie die USA und Israel das Ziel, den Einfluss der Hisbollah und des Iran im Nahen Osten zu schwächen. Nach Gaza und Libanon ist nun Syrien an der Reihe. Der Westen Aleppos beherbergt viele vom Iran unterstützte Milizen. Es ist unvorstellbar, dass HTS die Region Aleppo ohne internationale Unterstützung so einfach hätte einnehmen können. Auf der anderen Seite ist der Drahtzieher, dieser Angriffe der türkische Staat, der seinen Misak-ı-Millî-Pakt verwirklichen will. Dieser beinhaltet das Ziel, das Gebiet von Aleppo bis Mossul und Kirkuk zu erobern. Gleichzeitig wollen sie die autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien, früher bekannt als Rojava, zerstören. Deshalb haben sie dschihadistische Söldner von Dschabhat Al-Nusra beziehungsweise HTS sowie die von der Türkei befehligte »Syrische Nationalarmee«, SNA, ausgerüstet und unterstützt.
Und die syrische Armee?
2011, als Syrien vom sogenannten Islamischen Staat, Dschabhat Al-Nusra und anderen dschihadistischen Kräften angegriffen wurde, unterstützten Russland und Iran Damaskus. Doch nun haben beide ihre Unterstützung für das Regime in Damaskus verringert, so dass die Armee nicht die Kapazitäten hat, sich den neuen Angriffen zu widersetzen.
Fliehen die Menschen aus Aleppo und wenn ja, wohin?
Nachdem HTS Aleppo und seine Umgebung besetzt hat, sind viele Menschen aus anderen Orten nach Şexmeqsûd und Eşrefiye geflohen, um einen Unterschlupf zu finden. Sie wissen, dass die SDK sie beschützen und gegen HTS kämpfen werden. Die Region Şehba um Tel Rifat wurde von der SNA angegriffen und besetzt. Die dortige kurdische Bevölkerung ist bereits 2018 von der Türkei aus ihrer Heimat Afrin vertrieben worden und verharrt seitdem in Flüchtlingslagern und den umliegenden Dörfern. Da die Söldner für ihre Greueltaten an der Zivilbevölkerung bekannt sind, haben die SDK einen Militärkonvoi nach Şehba geschickt, um die Bevölkerung zu schützen. In den sozialen Medien kursieren Videos, die von SNA-Mitgliedern verbreitet wurden, auf denen zu sehen ist, wie sie Krankenschwestern des Krankenhauses in Tel Rifat foltern. Auch kam es zu Ermordungen und Entführungen. Die Menschen mussten all ihr Hab und Gut zurücklassen und unter den harten Wetterbedingungen stundenlang in der Kälte ausharren, bis ein Fluchtkorridor geöffnet wurde. Inzwischen sind sie in sicheren Gebieten der Autonomen Verwaltung von Nord- und Ostsyrien angekommen.
Wie ist die aktuelle humanitäre Lage?
Die Geschäfte, die unsere Nachbarschaft mit Lebensmitteln des täglichen Bedarfs versorgen, haben ihre Produkte früher vom Markt im Zentrum von Aleppo bezogen, der jetzt unter der Kontrolle von HTS steht. Unser Stadtteil befindet sich unter einem strengen Embargo. Es droht eine humanitäre Krise. Wir erwarten von der internationalen Gemeinschaft, dass sie ihrer Verantwortung gerecht wird und die türkische Besetzung beendet.
Sozdar Efrîn lebt im kurdischen Stadtteil Aleppos Şexmeqsûd und arbeite für die Hawar News Agency
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