Umsonst gebuddelt?
Von Ralf WurzbacherEinen bahntechnischen Benefit sollte »Stuttgart 21« niemals bringen, dafür einen für Immobilienhaie. 2022 sprach der frühere DB-Chef Heinz Dürr in einem Interview Klartext: »Mir ging’s aber nur drum, wenn der Sackbahnhof wegkommt, dass dann Stuttgart 125 Hektar Land kriegt im Zentrum.« Eigentlich sollte das Ding längst weg und Platz geschaffen sein für das sogenannte Rosensteinquartier – mit Tausenden Wohnungen und Renditen der Sorte Wolkenkuckucksheim. Aber: Nach geltender Rechtslage darf auf dem irgendwann verwaisten Gleisfeld gar nicht gebaut werden. Als einem der ersten dämmerte das im Juli Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU). Die Idee von »S 21« werde qua Gesetz unmöglich gemacht, beklagte er.
Wie das? Vor rund einem Jahr trat eine Neufassung des Paragrafen 23 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG) in Kraft. Nach dessen Wortlaut dürfen Eisenbahnflächen nur noch in Fällen eines »überragenden öffentlichen Interesses« einem anderen als bahnbetrieblichen Zweck zugeführt, sprich »entwidmet« werden. Und als ein solches gilt Wohnungsbau nach verbreiteter Auffassung wohl gerade nicht. Dumm gelaufen, denn schon 2001 hatte die Stadt der DB das ganze Areal für 460 Millionen Euro mit dem Ziel abgekauft, es zur Goldgrube für Spekulanten zu machen. Peter Pätzold (Bündnis 90/Die Grünen) hatte daran schon 2013 seine Zweifel. Einem Entwidmungsverfahren würde »höchstwahrscheinlich nicht stattgegeben« und das Kalkül, »blühende Landschaften« zu bekommen, nicht aufgehen, sagte er seinerzeit. Wohlgemerkt fand er das prima, und man sollte annehmen, dass ihm die inzwischen erfolgte Verschärfung des AEG gefallen muss.
Aber Menschen wandeln sich, im besonderen Grünen-Politiker. Am Montag trat Pätzold, inzwischen Stuttgarter Baubürgermeister, bei einer Anhörung im Verkehrsausschuss des Bundestags als von der CDU-CSU-Fraktion geladener Sachverständiger auf – mit der Mission, die Neuregelung wieder zu kippen. Die Union hat nämlich einen Gesetzentwurf ins Parlament »zur Änderung der Freistellungsvoraussetzungen« von Paragraf 23 eingebracht, der quasi die alte Ordnung wiederherstellen soll. Tatsächlich muss man sich fragen, ob sich die damals noch intakte Ampel der Tragweite ihres Vorgehens wirklich bewusst war, dass sie also »S 21« nebenbei buchstäblich den Boden entzogen hat. Jedenfalls hat der Südwestrundfunk (SWR) beim Eisenbahnbundesamt (EBA) nach dessen Rechtsauslegung gefragt, mit dem Ergebnis: »Bebauungen wie Wohnprojekte sind auf ehemaligen Gleisflächen nicht mehr ohne weiteres möglich.« Die Folge: Seither hat das EBA als zuständige Behörde Freistellungsanträge für aktuell nicht mehr betriebene Bahnflächen in über 150 Fällen zurückgewiesen.
Das freut nicht nur das »Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21«, sondern etliche Bahn-, Verkehrs- und Umweltschutzverbände. Für sie sind »leichtfertige Entwidmungen« eine wesentliche Ursache des desolaten Zustands der Schieneninfrastruktur im allgemeinen und der DB im speziellen. Innerhalb von 30 Jahren wurden hierzulande mehr als 5.000 Streckenkilometer, 67.000 Weichen und fast 9.000 industrielle Gleisanschlüsse aus dem Verkehr gezogen. Das alles folgte der Linie, kurzfristig die Bilanzen aufzuhübschen, und hat wegen der Veräußerung und anderweitigen Nutzung der fraglichen Flächen dazu geführt, dass ein Bahnbetrieb vielerorts gar nicht mehr möglich ist. »Wo einmal eine Umgehungsstraße oder ein Haus auf einer ehemaligen Bahntrasse gebaut wurde, kann in Zukunft kein Zug mehr fahren«, brachte es Dirk Flege vom Verein »Allianz pro Schiene« vor dem Verkehrsausschuss auf den Punkt.
Dort sprach ebenso Werner Sauerborn vom Aktionsbündnis vor. Mit Paragraph 23 sei »ein entscheidender eisenbahnrechtlicher Rahmen geschaffen für eine Trendumkehr der bisherigen Bahnpolitik Richtung Verkehrswende«, erklärte er. Das war natürlich auch auf »S 21« gemünzt. Das Projekt ist kosten- und umsetzungstechnisch komplett aus den Fugen geraten, dabei aber in puncto Kapazitäten so begrenzt, dass es zur Abwendung eines Totaldesasters vor allem eines braucht: Platz. Oder wie Sauerborn anmerkte: »Kopfbahnhofgleise sind bahnbetrieblich unverzichtbar.« Bleibt abzuwarten, wie die Sache ausgeht. Mit einem Kanzler Friedrich Merz (CDU) könnte schon bald das Richtfest steigen.
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