Geopolitik in Syrien
Von Karin LeukefeldKaum war im Libanon die von den USA und Frankreich ausgehandelte Waffenruhe in Kraft getreten, starteten in der nordwestlichen syrischen Provinz Idlib Tausende von Gotteskriegern unter dem Kommando von Haiat Tahrir Al-Scham (HTS) einen Angriff auf Aleppo. Der syrische Ableger von Al-Qaida ist international als Terrororganisation gelistet. Aktuell bewegen sich die Kämpfe Richtung der 140 Kilometer südwestlich von Aleppo gelegenen Stadt Hama. Dem vorrückenden Kommando gehören zahlreiche, aus dem Kaukasus stammende Kampfverbände an, darunter Dschunud Al-Sham. Seit Juni kämpfen an der Seite von HTS in Syrien auch Fremdenlegionäre aus der Ukraine, wie Business Insider aus ukrainischen Medien erfuhr. Die ausländischen Kämpfer waren Berichten zufolge mit »Shaheen«-Drohnen ausgestattet. Diese Kampfdrohnen wurden erstmals auf der Waffenmesse Sofex 2024 in Jordanien vorgestellt und sind mit lasergesteuerten Raketen bestückt.
Die syrischen Streitkräfte wurden zunächst überrascht und ordneten den Rückzug ihrer Einheiten an. In einer Stellungnahme der Syrischen Armee (private Übersetzung, Datum unklar) hieß es, HTS habe »mit Tausenden ausländischen Terroristen, schwerer Bewaffnung und einer großen Anzahl von Drohnen einen Großangriff in Aleppo und Idlib gestartet«. Die Front habe sich über mehr als 100 Kilometer erstreckt, Dutzende syrische Soldaten seien gefallen und verletzt worden.
Erst im Herbst hatte Damaskus eine Reform der Streitkräfte eingeleitet. Ab Oktober wurden Hunderte Soldaten und Offiziere, die in den vergangenen zehn Jahren während des Krieges gedient hatten, nach Hause geschickt. Ab dem Frühjahr 2025 sollte die Armeereform beginnen.
Idlib, Hama und Aleppo verband seit 2020 eine Deeskalationszone, die von der Türkei, Russland, Iran und Syrien im Rahmen der Astana-Gespräche ausgehandelt worden war. Inhalt der Vereinbarung war die Freigabe der Autobahnen M 4 und M 5 durch die Dschihadisten, was diese nicht taten. Vorgesehen war, die Bewegungsfreiheit der Bevölkerung auf beiden Seiten der innersyrischen Frontlinie zu ermöglichen. Seit einem Jahr gab es in Khan Scheikhun durch die Vermittlung Russlands ein Versöhnungszentrum. Seit Anfang 2024 waren zahlreiche Familien aus dem von HTS kontrollierten Teil Idlibs in den von der syrischen Regierung kontrollierten Teil, also die Landkreise Hama und Aleppo, zurückgekehrt, um ihre landwirtschaftlichen Betriebe – u. a. Obst- und Pistazienanbau – und Dörfer wiederaufzubauen.
Die Kämpfer, von westlichen Medien als »Rebellen« oder als »syrische Opposition« bezeichnet, werden von ausländischen Drahtziehern finanziert. Die wiederum nutzen das Vakuum des Machtwechsels im Weißen Haus, um ihre territorialen Interessen auf Kosten anderer zu erzwingen. Die Türkei kontrolliert HTS in Idlib sowie die am Angriff beteiligte »Syrische Nationale Armee« und hat – trotz offizieller Dementi – dem Angriff zugestimmt. Ziel ist eine Pufferzone im Norden des Landes gegen die kurdische Autonomieregierung. Damaskus soll einer türkischen Truppenpräsenz und der Ansiedlung syrischer Flüchtlinge, die in der Türkei sind, dort zustimmen.
Ankara will zudem Druck auf die USA ausüben, auf die Kurden im Nordosten einzuwirken, sich aus der von der Türkei beanspruchten Pufferzone zurückzuziehen und ihre Waffen abzugeben. Die kurdischen Kräfte weigern sich und weiten aktuell – mit Zustimmung der US-Armee – ihren Kampfradius sowohl in Aleppo als auch im Umland der Stadt aus. Im Westen der Stadt liefern sie sich Kämpfe mit den Dschihadisten. Im Osten Syriens haben syrische und irakische Widerstandskämpfer ihre Angriffe auf die von US-Truppen besetzten Ölfelder Omari und Konoco verstärkt. Die US-Truppen haben mit den kurdisch angeführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDK) eine »Verteidigungslinie« aufgebaut.
Das Ziel der ukrainischen Kämpfer – vermutlich auch der Finanziers des Dschihadistenangriffs: Türkei, Israel, USA und NATO –, die mindestens seit Juni an der Seite der Dschihadisten in Syrien kämpfen, ist es Russland in dem Land zu schwächen. Moskau soll gezwungen werden, in der Ukraine Zugeständnisse zu machen und den Krieg zumindest »einzufrieren«. In Syrien hoffen sie weiter auf den Regime-Change in Damaskus. Ein Dringlichkeitstreffen der Außenminister im Astana-Format (Türkei, Iran und Russland) soll vermutlich am Wochenende in Doha, im Golfemirat Katar, stattfinden.
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