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Aus: Ausgabe vom 05.12.2024, Seite 12 / Thema
Siedlerkolonialismus

»Siehe Amerika«

Sklaverei und Ausbeutung. Sowohl in den deutschen Kolonien als auch in den USA kam es zu Genoziden. Zur Geschichte des Siedlerkolonialismus (Teil 1 von 2)
Von Gertrud Rettenmaier
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Generalleutnant Lothar von Trotha, Kommandeur der »Kaiserlichen Schutztruppe für Deutsch-Südwestafrika«, schrieb am 1. Juli 1904 in sein Tagebuch: »Die Eingeborenen müssen vernichtet werden, siehe Amerika« (Angehörige der Herero in Ketten, Aufnahme von 1904)

»We are not Red Indians«, äußerte Jassir Arafat 2004 in einem Interview und drückte damit die Überzeugung aus, das palästinensische Volk könne nicht vernichtet werden. Offenbar drängt sich der Vergleich mit dem Vorgehen der USA gegen die Ureinwohner Nordamerikas auf. Denn im gleichen Jahr wies der israelische Historiker Benny Morris ebenfalls auf die USA hin, kam aber zu einer anderen Schlussfolgerung: »Selbst die große amerikanische Demokratie hätte nicht errichtet werden können, ohne die Indianer zu vernichten (…). Es gibt Fälle, in denen das allgemeine, endgültige Wohl harte und grausame Taten rechtfertigt.«¹ Eine Betrachtung Israels als siedlerkolonialistischer Staat wird in Deutschland stark abgewehrt. Denn sie könnte sowohl die bedingungslose Unterstützung der israelischen Politik durch die Bundesregierung in Frage stellen als auch am Selbstbild der Bundesrepublik kratzen. Denn auch Deutschland hat eine nicht aufgearbeitete siedlerkoloniale Geschichte. In diesem Aufsatz geht es mir darum, Parallelen in der siedlerkolonialen Geschichte Deutschlands, der USA und Israels aufzuzeigen.

Regelloser Ausnahmezustand

Seit über einem Jahrzehnt ist das Paradigma des Siedlerkolonialismus in den Fokus der internationalen historischen Forschung gerückt. Weil in Deutschland die Thematik bisher kaum diskutiert wird, ist es ein großes Verdienst von Jürgen Mackert und Ilan Pappe, in diesem Jahr einen umfangreichen Sammelband mit Grundlagentexten und Analysen zum Thema auch in deutscher Sprache herausgegeben zu haben. Siedlerkolonialismus ist eine Form der Kolonialherrschaft, bei der es nicht primär um die Aneignung von Reichtümern, die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen oder die Nutzung billiger oder versklavter Arbeitskräfte geht, sondern um die exklusive Nutzung eines besetzten Territoriums durch zugezogene Siedler. Diese sind entweder vor Hunger oder Verfolgung geflüchtet, wurden als Gefangene in die Kolonie deportiert oder mit Versprechungen angeworben. Erst die Kolonialmacht macht die Siedelnden zu »Herrenmenschen«, indem sie ihnen militärische, rechtliche und ideologische Unterstützung für die Eliminierung der einheimischen Bevölkerung gibt. Kein kolonisiertes Land ist menschenleer. Das versprochene Land steht erst zur Verfügung, nachdem seine bisherigen Bewohnerinnen und Bewohner entrechtet, vertrieben oder ermordet wurden.

Die gemeinsame Lebenssituation im permanenten Krieg gegen eine feindliche Umgebung formiert die Siedlergesellschaft. Unterschiede werden ausgeblendet, Gemeinsamkeiten der Herkunft, Religion und »Rasse« werden betont, um sich von der einheimischen Bevölkerung abzugrenzen. Erzählungen von göttlichen Aufträgen, jahrtausendealten Rechten und der Zugehörigkeit zu einer von Natur aus überlegenen »Rasse« rechtfertigen die exklusive Nutzung des Landes. Domenico Losurdo weist darauf hin, dass Kolonisten aus der angelsächsischen oder niederländischen Tradition des christlichen Puritanismus sich ebenso wie jüdische Siedler in Israel häufig mit dem auserwählten Volk des Alten Testaments der Bibel identifizieren.²

In einer Siedlerkolonie erfolgt die Landnahme Schritt für Schritt. Indem Siedler in neue Gebiete vordringen, setzen sie deren Bewohner einem regellosen Ausnahmezustand von Gewalt und Entrechtung aus. Der Siedlerstaat bzw. Siedlerorganisationen eliminieren die indigene Bevölkerung systematisch, vertreiben, töten oder internieren sie. Sie zerstören ihre Gemeinschaften und Kulturen, negieren deren Existenz und verwischen deren Spuren. Gleichzeitig prägen sie dem Land ihren eigenen Stempel auf. Sie zwingen überlebende Indigene, ihre Gemeinschaften aufzugeben oder zu verleugnen und sich in der Siedlergesellschaft zu assimilieren. Dabei setzen sie Strategien der räumlichen Abtrennung, des Ausschlusses, des Einsperrens und der Überwachung ein.

In allen Siedlerkolonien sind Siedleregozentrik, Rassismus, Herrschaftsanspruch und kriegerische Durchsetzung durchgängige Muster. Überall pochen die Siedler auf ihre eigenen Bedürfnisse nach Lebensraum, Freiheit und Sicherheit und auf ihre quasi naturgegebenen Rechte. Ihren »Feinden« unterstellen sie nach dem Prinzip der Schuldumkehr Bosheit, besondere Grausamkeit, Unfähigkeit zu Kompromissen und Regellosigkeit und bezeichnen sie als »Unmenschen«, »Barbaren« oder »Terroristen«. Damit legitimieren sie Exzesse und totale Kriege bis zur völligen Vernichtung, jenseits völkerrechtlicher Vereinbarungen oder Menschenrechtsstandards.

Dierk Walter geht bei seiner Analyse von Imperialkriegen³ auch auf die psychische Verfassung der siedlerkolonialen Gesellschaft ein. Sie lebt in ständiger Angst vor Angriffen oder Racheakten, aus denen eigene Gewaltakte oder Phantasien eines gewalttätigen Gegners resultieren. Daraus kann sich eine Eigendynamik bis hin zur unkontrollierbaren, mörderischen Gewalt entfalten, sowohl auf der Seite der Siedler als auch der Widerstand leistenden Indigenen. Widerstand gegen Siedlerkolonialismus leisten Menschen aber bereits, indem sie bleiben, ihre Gemeinschaften am Leben erhalten und auf ihrem Selbstbestimmungsrecht beharren.

Siedlerkolonialismus kann im selben Land oder in räumlicher Nähe mit Sklaverei und Ausbeutung einhergehen. Seine Mechanismen und sein Umgang mit den beherrschten Menschen sind jedoch spezifisch. Historische Beispiele für Siedlerkolonien sind unter anderen die USA, Kanada, Australien, Nordirland, Algerien, Kenia, Südafrika und die deutsche Kolonie Südwestafrika, heute Namibia.

1891 wird in Berlin die Siedlungsgesellschaft für Deutsch-Südwestafrika gegründet, die sich um die Erkundung und der Bereitstellung von Land für deutsche Siedler kümmern soll. Ein »Syndikat für südwestafrikanische Siedlung« nimmt seine Arbeit auf. Es erläutert in einem Bericht Ende 1894, dass es der deutschen Regierung »darauf ankam, deutsche Interessen im Schutzgebiete zu schaffen; andernfalls erschien es fraglich, ob dasselbe für Deutschland erhalten werden konnte«. In der ersten Zeit ist es nicht einfach, interessierte Siedler zu finden. Man wirbt bei Deutschstämmigen in Südafrika und auf der Krim, setzt die Landpreise so niedrig wie möglich an, stellt Kredite und Infrastruktur zur Verfügung. Die Möglichkeit, Burenfamilien aus Kapstadt anzusiedeln, wird verworfen, da eine einheitlich deutsche Siedlergesellschaft entstehen soll, am besten aus Bauern, Handwerkern und Soldaten.

Deutscher Genozid

Um Siedler zu gewinnen, gilt es zunächst ein gewisses Maß an »Ruhe und Sicherheit« im Siedlungsland herzustellen. Daher setzt die Kolonialregierung 1893 alles daran, dem »Aufstand« und »den Räubereien der Witboois vollständig ein Ende zu machen.« Die deutsche Kolonialtruppe verübt im Nama-Dorf Hornkranz ein Massaker, dem vor allem Frauen, Kinder und Alte zum Opfer fallen.⁴ Um nach und nach mehr Siedler aufnehmen zu können, besetzen die deutschen Truppen in den darauf folgenden Jahren immer mehr Land und drängen die einheimische Bevölkerung in wasserarme und eher unfruchtbare Landesteile. Als sich die Ovaherero 1904 zur Wehr setzen und Siedler angreifen, setzt die Kolonialmacht zum vernichtenden Schlag an. Sie schickt 15.000 deutsche Soldaten mit General Lothar von Trotha an der Spitze nach Namibia, damit sie das Leben und Eigentum der deutschen Siedler nachhaltig sichern. Von Trotha schreibt am 1. Juli 1904 in sein Tagebuch: »Die Eingeborenen müssen vernichtet werden, siehe Amerika.« In Deutschland wird deutscher Siedlungsraum als dem deutschen Staat nützliche Alternative zur Auswanderungsbewegung nach Nordamerika propagiert. Für den Aufbau der Siedlerkolonie ist das Beispiel Nordamerikas naheliegend, denn es ist allgemein bekannt, dass die USA durch den Kampf gegen die »Indianer« erfolgreich war. Um 1890 tourt die »Buffalo-Bill-Show« durch deutsche Städte. In diesen Wildwestshows, den Vorläufern der Westernfilme, wird der Cowboy, Pionier und Revolverheld als Ikone des freien Amerikas inszeniert.

Am 2. Oktober 1904 lässt Lothar von Trotha seinen Befehl zur Vernichtung der Ovaherero öffentlich verlesen. Daraufhin lässt er sie einkesseln, massakrieren oder in die Wüste treiben. Im April 1905 folgt ein entsprechender Vernichtungsbefehl gegen die Nama. Der Krieg dauert bis 1908. Soldaten treiben die Kriegsgefangenen in Konzentrationslager, wo viele an Unterernährung und schrecklichen Lebensbedingungen sterben. Ein Teil der Gefangenen wird zur Arbeit auf Baustellen, im Hafen, in Minen oder auf Farmen gezwungen. Die deutschen Truppen verüben einen Genozid, dem schätzungsweise 80.000 Ovaherero und 20.000 Nama zum Opfer fallen. Ihr Land wird konfisziert und an weiße Siedler vergeben.⁵ 1913 leben etwa 15.000 Deutsche in Namibia auf großzügigen Farmflächen. Die überlebenden Einheimischen haben keine andere Wahl, als ihre traditionelle Lebensweise aufzugeben und für die Deutschen zu arbeiten. Deutschland muss die Kolonie im Ersten Weltkrieg an Großbritannien abgeben und Namibia kommt unter südafrikanische Verwaltung. Südafrika bekämpft noch in den 1920er Jahren den Widerstand von Nama-Gruppen und zwingt Namibia bis zur Unabhängigkeit 1991 unter ein grausames Apartheidregime. Heute noch befinden sich 70 Prozent des nutzbaren Landes in Namibia im Besitz von Weißen, einer kleinen Minderheit der Bevölkerung. Die verbliebenen Deutschstämmigen pflegen die alten deutschen Kolonialbauten, die deutschen Traditionen sowie Gräber und Denkmäler der »Südwester«.

Die überlebenden Ovaherero und Nama haben trotz Völkermord, Vertreibung und Armut nicht aufgegeben. Sie pflegen ihre Traditionen und ihre Erinnerung, um Heilung zu erreichen. Heute sind sie repräsentiert durch traditionelle Autoritäten. Als Nachkommen der Opfer des Völkermords fordern sie, bei Verhandlungen zwischen Deutschland und Namibia einbezogen zu werden. Von Deutschland, das »Entwicklungshilfe« zur »Versöhnung« angeboten hat, verlangen sie die Anerkennung des Genozids und Reparationen.

»Völlige Vernichtung«

Ab dem 17. Jahrhundert bricht über die Menschen in Nordamerika eine Katastrophe herein. Sie beginnt mit Krankheiten. Den Erregern von Pocken, Masern, Typhus, Diphtherie und Influenza ist das Immunsystem der Indigenen nicht gewachsen. Seuchen töten Millionen. Dadurch gibt es zunächst verlassene Ortschaften, in die Europäer leicht vordringen können. Die Zahl europäischer Siedler wächst rasch. Sie beanspruchen das Land der Einheimischen, die sich erbittert dagegen wehren. Zur Unterstützung der ersten Siedler transportiert die englische Kolonialmacht Strafgefangene und Vertragsarbeiter als Arbeitskräfte nach Amerika, die nach einigen Jahren selbst Land erwerben können. Viele andere kommen aus Europa dazu: religiös oder politisch Verfolgte, Oppositionelle, Opfer von Hungersnöten, Angeworbene und Abenteurer. Von 1600 bis 1800 wandern etwa eine Million Europäer nach Nordamerika ein, im 19. Jahrhundert viele Millionen mehr.

Europäische Siedler suchen nicht nur Land zur Selbstversorgung, sondern wollen auch reich werden. Lukrativ sind der Handel mit Holz und Fellen, der Anbau von Tabak und Getreide für den Weltmarkt und ab Ende des 18. Jahrhunderts der Anbau von Baumwolle für die englische Textilindustrie. Durch den Einsatz der Baumwollentkörnungsmaschine können größere Mengen geerntet werden, und auf dem Weltmarkt steigt die Nachfrage.⁶ Die USA werden zum größten Baumwollerzeuger der Welt. Aus dem revolutionären Haiti weichen Pflanzer in die USA aus, wo riesige Plantagenflächen und afrikanische Versklavte verfügbar sind. Einwanderer, die Land besetzen und Indigene vertreiben, können sich auf die Unterstützung durch die britische Kolonialmacht und später die US-Bundesarmee verlassen. Die Briten haben bereits 1636/37 in Connecticut und Massachusetts an der Ostküste den ersten Genozid an Indigenen verübt, um Siedlern Platz zu machen.

Vertreibung und Landraub

Von 1775 bis 1783 erkämpfen die Siedler der ersten 13 englischen Kolonien die Unabhängigkeit vom Mutterland und gründen die Vereinigten Staaten von Amerika. Noch während des Unabhängigkeitskriegs erklärt George Washington 1779 den Irokesen den totalen Krieg, um ihren Angriffen auf Siedlungen ein Ende zu setzen. Seine Devise ist »die völlige Vernichtung und Verwüstung ihrer Ansiedlungen und die Ergreifung so vieler Gefangener jeden Alters und Geschlechts als möglich«⁷. Um Gewinne aus dem Land erwirtschaften zu können, werden Millionen versklavte Menschen aus Afrika importiert. Landraub und Sklaverei begründen gemeinsam den Reichtum, die Macht und die Industrialisierung der USA. Die US-Bundesregierung kauft dem napoleonischen Frankreich die Gebiete zwischen dem Mississippi und den Rocky Mountains ab und verdoppelt dadurch ihr Territorium. Es folgen die Annexionen mexikanischer Landesteile und die Gründung der Bundesstaaten Florida, Texas und Kalifornien.

Zunächst versucht man mit allen Mitteln, die Menschen zur freiwilligen Abgabe ihres Landes zu motivieren. Warenkredite locken sie in Schuldenfallen, Alkohol erzeugt Abhängigkeiten, falsche Versprechungen, Drohungen und militärischer Druck tun ein übriges. Wo keine Verträge zustande kommen, gibt es Krieg und Massaker. Dörfer und Ernten werden vernichtet.

»Wenn wir jemals gezwungen werden, das Kriegsbeil gegen irgendeinen Stamm zu erheben, werden wir es erst niederlegen, wenn dieser Stamm ausgelöscht oder über den Mississippi hinausgetrieben ist«, kündigt Thomas Jefferson an.⁸ In den 1830er Jahren vollzieht Präsident Andrew Jackson die ethnische Säuberung in den Bundesstaaten östlich des Mississippi, wo Ackerbau betreibende Völker leben. Als erste werden 20.000 Choctaw in die kargen Prärielandschaften des Westens getrieben. Die benachbarten Cherokee haben sich teilweise auf kulturelle Anpassung eingelassen, beharren jedoch darauf, ihre Gemeinschaft zu erhalten, und führen juristische Auseinandersetzungen um die Anerkennung ihrer Nation. Das höchste Gericht gesteht ihnen diese zu. Bodenspekulanten, Baumwollhändler und Pflanzer jedoch stehen hinter einer Bundesregierung, die kurzen Prozess macht. Soldaten treiben auch die Cherokee gewaltsam aus ihren Dörfern, zerstören Häuser und Felder. Etwa 4.000 Menschen sterben während des 1.600 Kilometer langen »Trail of Tears« in die westlichen Prärien. 1836 beklagt der Cherokee John Ross in einem Brief an den Kongress: »Unser Besitz darf vor unseren Augen geplündert werden. Gewalt darf uns angetan werden, sogar unser Leben darf man uns nehmen – und niemand hört unsere Beschwerden an. Wir sind kein Volk mehr, wir sind unmündig. Wir sind aus der Familie der Menschheit ausgestoßen.«⁹ In Florida geschieht den Seminolen dasselbe. Bis 1844 werden insgesamt 70.000 Menschen in den Westen getrieben. 1850 gibt es keine indigenen Gemeinschaften mehr auf dem fruchtbaren Land östlich des Mississippi.

Im dichtbesiedelten Kalifornien hat die Kolonisierung unter spanischer und mexikanischer Herrschaft den Indigenen schon zugesetzt. Mitte des 19. Jahrhunderts geschieht eine weitere Katastrophe: Es wird Gold gefunden. Von überall her strömen Goldschürfer ins Land, dringen bis in die abgelegensten Regionen vor und berauben die Indigenen ihrer Lebensgrundlagen. Der Staat legalisiert die von Siedlern, Goldsuchern und privaten Milizen ausgehende Gewalt und verfügt über Umsiedlungen, wenn weiße Landbesitzer Bedarf anmelden. An vielen Orten finden Massaker statt. Die betroffenen Menschen wehren sich nach Kräften, so dass viele Bürger um ihre Sicherheit und ihr Eigentum bangen. Eine Regionalzeitung kommentiert 1862: »Nichts außer der Ausrottung wird sie davon abhalten, ihre Verwüstungen zu begehen. Es ist ein falscher Begriff von Menschlichkeit, die Leben dieser roten Teufel zu retten.«¹⁰

Nachdem das Land östlich der Rocky Mountains vergeben ist, schieben Siedlertrecks die »Frontier« in zunehmendem Tempo nach Westen vor. Als »Frontier« wird der flexible Grenzbereich zwischen bereits erobertem und noch »freiem« Land bezeichnet. Es folgt der Bau von Eisenbahnlinien. Als die Europäer vorrücken, müssen die bereits zuvor vertriebenen Indigenen erneut weichen und in karge Gegenden umsiedeln. Die nomadischen Reitervölker des Westens – sie existieren seit etwa 150 Jahren als solche, mit ursprünglich aus Europa stammenden Pferden – fordern die Siedler heraus. Ihnen begegnet die US-Bundesarmee unter Abraham Lincoln mit überlegenen Waffen und besonderer Brutalität. Lincoln weist seinen Frontkommandeur an, »die Sioux vollständig zu vernichten (…). Zerstören Sie alles, was ihnen gehört, und treiben Sie sie in die Plains hinaus, es sei denn, (…) Sie können sie gefangen nehmen«.¹¹ Verrohte Bundessoldaten verüben Massaker und machen Dörfer dem Erdboden gleich. Das letzte Massaker findet 1890 am Wounded Knee statt. Ihm fallen 300 wehrlose Sioux, darunter auch Kinder, zum Opfer. Den Todesstoß versetzt den auf Bisonjagd ausgerichteten Gemeinschaften die Ausrottung der Bisonherden durch weiße Jäger, die das Leder verkaufen. Im Jahr 1900 zählen die USA insgesamt 76 Millionen Einwohner. Unter ihnen sind noch 237.000 Indigene, die in Reservaten auf 2,3 Prozent der Fläche leben. Knapp neun Millionen Einwohner sind Nachfahren der afrikanischen Versklavten.

Während im US-amerikanischen Bürgerkrieg um die Abschaffung der Sklaverei gerungen wird, werden die vertriebenen Indigenen des Westens in Reservaten konzentriert, wo sie ihre traditionelle Lebensweise aufgeben müssen und kaum ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Gemeinschaften, die Widerstand leisten, werden kollektiv bestraft, aus dem Reservat getrieben und dem Hungertod überlassen. Anführer kommen ins Militärgefängnis. Die Reservate sind keine Schutzzonen. Die Regierung führt Passagierscheine ein, um das Verlassen des Reservats zu kontrollieren und einzuschränken. Armut und die Abhängigkeit von Unterstützung dienen als weiteres wirksames Druckmittel. Um gemeinschaftliches Wirtschaften zu unterbinden, wird auch in den Reservaten das Land in Parzellen geteilt und in Privatbesitz umgewandelt. Traditionelle Kulturpraktiken und Zeremonien werden kriminalisiert und verfolgt, Schulen dienen der Umerziehung und »Zivilisierung«. Besonders grausame Erziehungsmethoden praktizieren ausgelagerte Internatsschulen. Familien werden gezwungen, ihre Kinder dort hinzuschicken. Trotz aller Repressalien gelingt es vielen Indigenen, ihre Traditionen zu erhalten und Formen des gemeinschaftlichen Widerstands zu entwickeln.

13 Millionen Opfer

Die aktuelle Forschung geht von insgesamt 13 Millionen indigenen Opfern der Kolonisierung Nordamerikas seit 1492 aus. In den USA existieren heute noch mehr als 300 Reservate. Ihren Bewohnerinnen und Bewohner werden bis heute keine verfassungsmäßig garantierten bürgerlichen Freiheitsrechte gewährt. Sie werden wie Eingebürgerte behandelt, denen der Kongress per Dekret Freiheitsrechte zugestehen oder entziehen kann. In den Reservaten kommt es zu Auseinandersetzungen. In den 1970er Jahren gehen paramilitärische Einheiten gegen Aufständische vor. Seit fast 50 Jahren befindet sich der Indigene Leonard Peltier als Mitglied des American Indian Movement in Haft, der ohne Beweise wegen Mordes verurteilt wurde.

Die Ideologie der amerikanischen Siedlerkolonialisten spricht Bände. Nach Möglichkeit negieren sie die Existenz einer indigenen Bevölkerung und erzählen von der Urbarmachung einer menschenleeren Wildnis. Im Zuge von Kriegen und Grausamkeiten gegen Kolonisierte greifen sie auf rassistische Diffamierungen zurück. Rassismus dient der Rechtfertigung in einer Gesellschaft, die gleichzeitig Menschenrechte und Demokratie proklamiert und grausame Vernichtungskriege führt. Man spricht den »Feinden« das Menschsein ab, ordnet sie einer niedrigeren »Rasse« von Nicht-ganz-Menschen zu, die man als wilde Tiere oder Ungeziefer bekämpfen kann. Sozialdarwinisten gehen von einem natürlichen Recht des Stärkeren aus und behaupten, inferiore »Rassen« seien ohnehin zum Aussterben verurteilt. Man bezeichnet die »Wilden« als »Indianer«, sich selbst als »Amerikaner« – die Bewohner Amerikas.

Auch das Land wird umgedeutet. Viele Orte, Landschaften, Flüsse und Berge erhalten Namen in der Sprache der Siedler. Teilweise werden indigene Bezeichnungen angeeignet, abgewandelt und in die eigene Gründungsmythologie integriert, die von der »Entdeckung«, »Nutzbarmachung« und Kultivierung des Landes erzählt. Die Erzählungen, Deutungen und Sprachen der Indigenen werden eliminiert. Die Aneignung der »Wildnis« ist gleichzeitig die Vernichtung alles in ihr befindlichen Menschlichen, das sich von der christlich fundierten kapitalistischen Weltauffassung unterscheidet und das Selbstverständnis der Siedler in Frage stellen könnte.

Theodore Roosevelt, der erste »Cowboypräsident« der USA mit eigener Ranch im Westen, bringt seine Sichtweisen in dem vierbändigen Werk »The Winning of the West« zu Papier. Er äußert Stolz auf die umfassende und schnelle »Rassenexpansion«, zu der die Siedler nach seiner Überzeugung moralisch berechtigt sind. Schließlich diene der »Rassenkampf« gegen den »barbarischen Feind« der »Zivilisation« und sei im »Interesse der Menschheit«. Frederick Jackson Turner, ein bedeutender US-amerikanischer Historiker, verklärt 1893 die Eroberung des Westens und die Erfahrung der »Frontier« zur Grundlage US-amerikanischer Identität und eines unverwechselbaren amerikanischen Charakters. Der französische Politiker und Historiker Alexis de Tocque­ville, der sich intensiv mit den USA beschäftigt, preist die individuelle Freiheit der nordamerikanischen Bürger und schreibt dem Krieg eine charakterbildende Wirkung zu: »Der Krieg erhebt fast immer den Geist eines Volkes.« Ein zentraler Bestandteil des US-amerikanischen Selbstverständnisses ist ein Begriff von Freiheit im Sinne von individueller Selbstregierung und ungestörter Nutzung des Privateigentums. Domenico Losurdo zeigt in seiner Analyse liberalen Denkens auf, wie Mitglieder der (besitzenden) US-amerikanischen »Gemeinschaft der Freien« ihre Freiheit gleichermaßen gegenüber Europa und dessen Aristokraten verteidigen wie gegenüber Versklavten, Knechten, Indigenen oder Armen. Ein Beispiel ist der Sklavenhalter Thomas Jefferson, für den die USA »ein Reich der Freiheit« sind, das die Selbstregierung garantiere.

Anmerkungen:

1 Beide Zitate nach A. Dirk Moses: Imperium, Widerstand und Sicherheit: Das Völkerrecht und die »transformative Besetzung« Palästinas. In Jürgen Mackert/Ilan Pappe (Hg.): Siedlerkolonialismus, Baden-Baden 2024, S. 443

2 Domenico Losurdo: Freiheit als Privileg, Köln 2010

3 Dierk Walter: Organisierte Gewalt in der europäischen Expansion, Gestalt und Logik des Imperialkrieges, Hamburg 2014

4 Online dokumentiert unter: https://forensic-architecture.org/location/namibia

5 Siehe für detaillierte Informationen: Marion Wallace; John Kinahan: Geschichte Namibias, Basel/Frankfurt/M. 2014

6 Siehe zu den USA allgemein: Aram Mattioli: Verlorene Welten. Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas, Stuttgart 2017. Zur Entwicklung des Baumwollanbaus in den USA: Sven Beckert: King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus, München 2014

7 Zit. n. Walter (Anm. 3). S. 140

8 Zit. n. Mackert/Pappe: Das Paradigma des Siedlerkolonialismus. In: Siedlerkolonialismus (Anm. 1), S. 29

9 Zit. n. Beckert (Anm. 6), S. 116

10 Zit. n. Mattioli (Anm. 6), S. 214

11 Zit. n. ebd., S. 250

Gertrud Rettenmaier schrieb an dieser Stelle zuletzt am 15. November 2024 über die Berliner Kongo-Konferenz: Verabredung zum Überfall

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