»Die Stadt produziert aktiv Armut«
Interview: David BieberSie sind Teil einer Gruppe von Forschenden, die mit Menschen aus Bulgarien und Rumänien in den von Armut gebeutelten Duisburger Stadtteilen Hochfeld und Marxloh sprachen. Was wollten Sie von diesen Menschen erfahren?
Das Ziel war, Diskriminierungserfahrungen von bulgarischen und rumänischen Migranten in segregierten Stadtvierteln in Duisburg zu untersuchen. Dafür haben wir die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt, die Wohnsituation, die Sozialleistungen und die Wechselwirkungen zwischen diesen Bereichen berücksichtigt. Wir arbeiteten mit Initiativen zur Unterstützung von Migranten wie »Stolipinovo in Europa« aus Marxloh zusammen und stellten Personen aus Migrantengemeinschaften ein, die im Projekt als Forscher und Sozialberater tätig waren. Wir boten kostenlose Sozialberatungen an zur Unterstützung bei einer Vielzahl von Themen, darunter arbeitsbezogene Probleme, Zugang zu Sozialleistungen, Gesundheitsversorgung und Fälle von Polizeigewalt.
Mit welchen Erwartungen haben Sie diese Erhebung gestartet, und wie sind Sie vorgegangen?
Die Migration aus Südosteuropa ist ein hochpolitisches Thema auf städtischer Ebene. In Duisburg wird es seit einem Jahrzehnt zur Mobilisierung von Wählerstimmen instrumentalisiert, vor allem durch Narrative von »Sozialleistungsmissbrauch« und »No-go-Vierteln«. Diese Themen werden genutzt, um von den fehlenden Investitionen in die Infrastruktur, die öffentlichen Dienstleistungen und die fast nicht vorhandene, sozial gerechte Wohnungspolitik abzulenken. Für diejenigen von uns, die in diesen Vierteln arbeiten und leben, waren diese Probleme bereits offensichtlich. Unser Ziel war es, stichhaltige Beweise für die Mechanismen der Ausgrenzung und die aktive Produktion von Armut durch die städtischen Behörden zu erbringen.
Wie hoch ist der Anteil der Erwerbslosen unter den von Ihnen Befragten, und wo sind die abhängig beschäftigten Menschen vor allem tätig?
Ich glaube nicht, dass wir von »Arbeitslosigkeit« im formalen Sinne sprechen können. Die meisten Menschen, mit denen wir gearbeitet haben, waren in Bereichen wie Reinigung, Bau, Auslieferung, Lagerhaltung und Verpackung tätig. Diese zeichnen sich durch Praktiken aus, die zwar formal gesetzeskonform sind, aber zahlreiche Schlupflöcher ausnutzen, um den Profit zu maximieren, oft auf Kosten extremer Arbeitsausbeutung. Fast alle Arbeiter, mit denen wir sprachen, waren bei einem Subunternehmen beschäftigt. Von den 20 Reinigungskräften bei Thyssen-Krupp Steel, die wir befragten, war nur eine direkt angestellt. Wegen der befristeten Beschäftigung und der mangelnden Bereitschaft der Subunternehmer, Vollzeitverträge anzubieten, sind die Beschäftigten auf Zusatzleistungen angewiesen. Der Zugang zu diesen Leistungen wird jedoch unnötig erschwert, so dass viele in Armut, Obdachlosigkeit und Not geraten.
Welche Erkenntnisse konnten Sie über die Arbeitsbedingungen gewinnen?
Viele hatten befristete Verträge mit einer sechsmonatigen Probezeit. Sie garantieren weder Mindest- noch Höchstarbeitszeiten, während die tatsächliche monatliche Arbeitszeit oft bei 60 bis 70 Stunden liegt. Obwohl in den Verträgen formal der Mindestlohn eingehalten wird, wird dies durch verschiedene informelle Praktiken unterlaufen: Überstunden werden häufig nicht bezahlt, Sozialversicherungsbeiträge werden einbehalten, Abzüge für Arbeitskleidung und Transportkosten werden vorgenommen, Reisekosten werden nicht erstattet, und es gibt keine Bestimmungen für Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder Urlaubsgeld. In einigen Fällen wurden die Verträge nicht einmal registriert, so dass die Arbeiter trotz ihrer Beschäftigung keinen Zugang zur Sozialversicherung haben. Eine gängige Praxis besteht darin, Verträge mit verkürzten Arbeitszeiten auszustellen und den Restbetrag »unter der Hand« zu bezahlen.
Während unserer Feldarbeit in Marxloh haben wir zahlreiche Berichte über Arbeitsunfälle und gefährliche Arbeitsbedingungen dokumentiert, die zu schweren Verletzungen und langfristigen Gesundheitsproblemen wie Rückenschmerzen, gebrochenen Rippen und Lungenkrankheiten geführt haben.
Welche Schlüsse ziehen Sie aus Ihrem Forschungsprojekt?
Die mit Migranten aus Südosteuropa verbundene Armut ist kein »importiertes« Problem, wie die Behörden oft behaupten. Statt dessen wird sie aktiv von der Stadt produziert, vor allem durch administrative Kontrolle und polizeiliche Praktiken, wie die Errichtung von Barrieren für Sozialleistungen, die Durchführung regelmäßiger Wohnungsräumungen und Polizeirazzien. Verschärft wird dies noch durch das mangelnde Interesse an der Durchsetzung von Arbeitsvorschriften oder an der Bestrafung betrügerischer Chefs und Vermieter.
Polina Manolova ist Soziologin an der Universität Duisburg-Essen
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