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Aus: Ausgabe vom 06.12.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

In die Prärie

Jacqueline O’Mahony nimmt sich in ihrem Roman »Sing, wilder Vogel, sing« Irlands Großer Hungersnot an
Von Jürgen Schneider
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Irische Familie in Zeiten des »Großen Hungers« 1845 bis 1852 (Illustration von 1900)

Vor einigen Tagen schrieb mir ein Freund aus Irland, die in dem Land breit geübte Solidarität mit Palästina habe sehr viel zu tun mit dem irischen Trauma der Großen Hungersnot. Sie wird in Irland als »Great Famine« bezeichnet und suchte die Grüne Insel zwischen 1845 und 1852 heim. Ausgelöst wurde sie von dem Pilzerreger Phytophthora infestans, der eine Kartoffelfäule bewirkte. Die Monokultur des Anbaus der Lumper-Kartoffel sollte verheerende Folgen haben. Zwischen 1845 und 1851 starben mehr als eine Million Menschen. Wer nicht verhungerte, erlag der Ruhr, Fieberanfällen oder dem Typhus. Im gleichen Zeitraum wanderten eine Million Iren in die USA, nach Kanada, Australien oder England aus. Jeder sechste Auswanderer, der die Strapazen der Atlantiküberquerung auf sich nahm, starb auf einem der »Sargschiffe«. Tausende kamen nach ihrer Ankunft während der Quarantäne ums Leben. Die englische Regierung betrieb eine Laissez-faire-Politik und steigerte den Export von Kartoffeln, Vieh und Getreide aus Irland nach England und beförderte die Enteignung der pauperisierten irischen Parzellenbauern. James Conolly, einer der Anführer des Osteraufstands von 1916 gegen die britische Herrschaft, schrieb: »Die Vorsehung schickte die Kartoffelpest, doch der Hunger war das Werk Englands.« James Joyce lässt in seinem Roman »Ulysses« den Protagonisten Leopold Bloom eine Kartoffel als mehrdeutiges Symbol mit sich führen, und der Figur Stephen Dedalus erscheint im Delir eine Alte, auf der Brust die Todesblume der Kartoffelfäule.

Die irische Schriftstellerin Jacqueline O’Mahony nimmt ein Ereignis während der Hungersnot zum Ausgangspunkt ihres Romans »Sing, wilder Vogel, sing«: Die Tragödie von Doolough in der irischen Grafschaft Mayo, die sich am 30. März 1849 zutrug und der eine unbekannte Anzahl von Menschen zum Opfer fiel. Die Menschen starben am Ufer des Schwarzen Sees (so die Übersetzung des irischen Namens Dúloch). Eine schmutzige Masse in Lumpen machte sich auf Anweisung auf den zwölf Meilen langen Fußweg zu den Inspektoren des Grundherrn. Sollten diese zu dem Schluss kommen, dass sie Mangel litten, würde man ihnen Unterstützung gewähren. Als die Hungerleidenden an dem ihnen genannten Ort eintrafen, hatten sich die Inspektoren jedoch »für den Abend empfohlen« und zum zehn Meilen entfernten Jagdsitz Delphi Lodge des Grundherrn begeben. »Geht hierhin; geht dahin; esst Dreck; verreckt im Dreck«, ruft William, der mit seiner Frau Honora den langen Marsch angetreten hat. In Eiseskälte endlich am Jagdsitz angekommen, werden sie erneut abgewiesen. Ein Lakai rückt lediglich einen Laib Brot heraus. Dann kommt der Schnee. William und Honora machen sich auf den Rückweg. Honora bringt ein Kind zur Welt, das jedoch zu schwach ist, um am Leben zu bleiben. Als die ebenfalls geschwächte Honora wieder zu sich kommt, hat William das Kind bereits verscharrt. Und bald wird er selbst entkräftet sterben. In Doolough will Honora nicht bleiben.

O’Mahonys traditionell verfasster Roman entwickelt einen eigentümlichen Sog. Honora verlässt das leere Dorf, trinkt Wasser aus den Flüssen, isst Gras oder die Blumen auf den Feldern und sucht sich ein Schiff, das nach Amerika auslaufen würde. Sie will als blinde Passagierin nach New York schippern. Das gelingt ihr mit Hilfe von drei Schicksalsgenossinnen auch. Doch »New York bedeutete Dunkelheit, Dreck, eisige Kälte und enge Straßen, die sie erstarren ließen«. Honora findet eine Anstellung als Hausmädchen. Der ihr zustehende Lohn wird jedoch einbehalten. Zusammen mit Mary, einer ihrer drei Mitreisenden, die ebenfalls als Hausmädchen arbeitet, flieht sie gen Westen. Mary will zu Ignatius, einem Bekannten in Bolt, der ihnen Geld zukommen lässt, damit sie die weite Reise bewältigen können. In Bolt angekommen, stellt sich Ignatius als Widerling und die von ihm angebotene Bleibe als Bordell heraus. Honora will auch dort auf keinen Fall bleiben. Ein Cowboy namens Prosper verhilft ihr zur Flucht. Die beiden sind zwei Monate unterwegs, sie heiratet ihn, kann aber seine Prosperitätsvorstellung nicht teilen, dass das ihnen zugeteilte Land niemandem gehört. »Auf dem Land leben noch Indianer, Miss«, hatte ein Beamter des Katasteramtes ihr erklärt und versprochen, diese so schnell wie möglich zu vertreiben. Das I-Wort muss nicht irritieren, denn es ist im Alltag erkennbar, dass der Verzicht auf die Bezeichnung »Indianer« nicht gleichzeitig zu einem respektvollen Umgang mit dem Kulturgut der Stammesnationen und indigenen Communitys führt.

Honora sinniert: »Wie kann es unser Land sein, wenn man es den Indianern wegnimmt? Die Engländer haben uns unser Land weggenommen und behauptet, es gehöre ihnen, aber dass man etwas sagt, macht es noch lange nicht wahr, macht es nicht rechtens.« In der Hütte, die der Cowboy für sie baut, fühlt sie sich nicht frei: »Besitz, Eigentum: das hat nichts mit Freiheit zu tun.« Sie gehörte Prosper, »sein Name war ihr Brandzeichen. Er besaß sie, genauso wie der Großgrundbesitzer in Irland das Land und die Menschen darauf besessen hatte.« In Joseph alias Blue Horse vom Stamm der Cayuse findet sie einen Mann, der ähnliche Erfahrungen gemacht hat wie sie. O’Mahony bezieht sich auf die Verbindung zwischen Iren und Indigenen in den USA. 1847 hatten die Choctaw während der Hungersnot Geld geschickt, und 2020 waren aus Irland 2,5 Millionen Euro für die Hopi und Navajos gespendet worden, die unter der Covid-19-Pandemie besonders gelitten hatten.

Die Cayuse hatten einen langen Krieg geführt und verloren; sie mussten ihr Land verlassen und dorthin ziehen, wohin der weiße Mann es ihnen befahl. Joseph nahm sich jedoch ein Pferd und ritt in die Prärie. Er wollte aufbrechen können, wohin er wollte. Joseph hatte wie Honora, deren Muttersprache Irisch war, Probleme mit dem englischen Idiom, beide mussten im Steinbruch des Englischen wühlen, suchen nach dem, was sie brauchten, aber nie finden würden. Honora wird klar: Nicht auf den Ort kam es an, den man verließ, sondern auf den Akt des Verlassens selbst, der nie endete. »Eins würde in ihrer beider Leben immer wahr und beständig sein: Sie waren von ihrer Heimat fortgegangen und würden nie aufhören fortzugehen; sie würden immer in Bewegung sein.«

Jacqueline O’Mahony: Sing, wilder Vogel, sing. Aus dem irischen Englisch von Pociao und Roberto de Hollanda. Diogenes-Verlag, Zürich 2024, 365 Seiten, 24 Euro

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