»Eiserne Mauer«
Von Gertrud RettenmaierSeit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 und der seitdem stattfindenden Zerstörung Gazas durch Israel spricht die internationale Öffentlichkeit wieder über Palästinenserinnen und Palästinenser. Über ein Volk, von dem Golda Meir schon 1969 behauptete, es existiere nicht. Wer kennt seine Kultur oder Geschichte? Palästina existiert heute nur in Zusammenhang mit Israel, das Teil des westlichen Staatenbündnisses, Indu‑striestaat und Atommacht ist. Israel gilt als demokratischer Staat, und seine Entwicklung wird von der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung als »Erfolgsgeschichte« bezeichnet, trotz unerfülltem »Wunsch nach Frieden und Sicherheit«. Das westliche Staatenbündnis unter Führung der USA gesteht dem Staat Israel eine Reihe von Besonderheiten zu. Obwohl als säkularer Staat konzipiert, definiert Israel sich als ethnisch-religiös fundierter Staat der Juden und gewährt nichtjüdischen Israelis nicht alle staatsbürgerlichen Rechte. Mit der militärischen Besatzung der Westbank, Ostjerusalems, des Gazastreifens und des Golan, dem Siedlungsbau im Westjordanland, dem Bau der Mauer zum Westjordanland sowie der völligen Abriegelung Gazas von der Außenwelt verstößt der israelische Staat gegen das Völkerrecht. Aus der Sicht der westlichen Unterstützer ist Israel jedoch ein normaler Nationalstaat, der sich im Konflikt mit einer feindlichen Umgebung befindet. Israelische Kriege dienen nach dieser Sichtweise nur der Verteidigung, die Einschränkung von Menschenrechten nur der Sicherheit. In der aktuellen militärischen Eskalation lassen die unterstützenden Mächte zu, dass Israel Gaza vollständig zerstört, Zigtausende Menschen tötet, den Krieg in die Westbank und den Libanon ausweitet und sich innenpolitisch zu einem totalitären System mit offen faschistischer Regierung entwickelt.
Mit Unterstützung Londons
Die Gründung des Staates Israel geht sowohl auf die von Theodor Herzl am Ende des 19. Jahrhunderts gegründete zionistische Bewegung zurück als auch auf die Zusage Großbritanniens. Der britische Außenminister Arthur Balfour erklärt 1917: »Die Regierung seiner Majestät betrachtet mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina und wird ihr Bestes tun, die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern, wobei, wohlverstanden, nichts geschehen soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nichtjüdischen Gemeinschaften in Palästina (…) in Frage stellen könnte.«¹ Die Erklärung erschreckt arabische Palästinenser, die feststellen müssen, dass ihre Bevölkerungsmehrheit von 94 Prozent auf »nichtjüdische Gemeinschaften« reduziert wird. Für die britische Kolonialmacht sind europäische Siedler willkommen, die zur Absicherung ihrer Herrschaft über die palästinensische Bevölkerung und zum Aufbau eines strategischen Vorpostens im Nahen Osten beitragen können. Seine kolonialistische Haltung hat Balfour immer wieder kundgetan. Edward Said fasst sie wie folgt zusammen: »Hier sind die Westler und da die Orientalen. Erstere herrschen, letztere müssen beherrscht werden, was gewöhnlich bedeutet, ihr Land zu besetzen, ihre inneren Angelegenheiten genau zu regeln, ihr ganzes Hab und Gut in den Dienst der einen oder anderen westlichen Macht zu stellen.«²
Daneben gibt es in Großbritannien wie auch in anderen Ländern Europas Interesse, die Auswanderung jüdischer Menschen zu unterstützen, insbesondere wenn sie sozialistischen Bewegungen angehören. Herzl und seine Mitstreiter sehen in einem künftigen jüdischen Staat einen Ausweg aus dem zunehmenden Antisemitismus und den Judenverfolgungen in Europa. Ihre zionistische Idee einer Staatsgründung für ein »Volk ohne Land« kann nur durch Kolonisierung gelöst werden. Das findet in Europa vor dem Ersten Weltkrieg Zustimmung. Herzl verhandelt mit mehreren Kolonialmächten und zieht zeitweise Uganda oder Argentinien in Betracht. Palästina verspricht allerdings, einen größeren Kreis interessierter Juden anzuziehen, die überzeugt davon sind, dass die göttliche Verheißung einer »Rückkehr nach Eretz Israel« durch menschliches Handeln umgesetzt werden sollte.
Herzl und andere Führungspersonen der zionistischen Bewegung gehen von einer berechtigten Überlegenheit der westlichen Zivilisation aus, der sie die Juden zuordnen. Ihr Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung Palästinas ist in kolonialistischer Manier von Desinteresse und Herablassung geprägt. Herzl bezeichnet sie schlicht als »nichtjüdische Bevölkerung«. Chaim Weizmann, ab 1921 Präsident der zionistischen Weltorganisation, formuliert als Ziel, Palästina so jüdisch zu machen, wie England englisch ist. Wladimir Zeev Jabotinsky, Gründer der revisionistischen Partei, aus der später die Likud-Partei von Benjamin Netanjahu hervorgeht, vertritt von Anfang an eine harte siedlerkolonialistische Haltung, nimmt allerdings auch den einheimischen Widerstand ernst: »Jede indigene Bevölkerung in der Welt widersetzt sich den Kolonisten, solange sie die geringste Hoffnung hat, sich von der Gefahr, kolonisiert zu werden, zu befreien.«³ Daher sei eine ständige Drohung mit massiver Gewalt notwendig, eine »eiserne Mauer aus Bajonetten«.
Bereits ein halbes Jahr nach der Balfour-Erklärung reist Weizmann mit einer zionistischen Kommission nach Palästina. Die britischen Behörden erkennen die Kommission an und erlauben ihr, eine offizielle Vertretung aller Juden in Palästina zu gründen. Balfour notiert 1919 in einem vertraulichen Memo: »Die vier Großmächte sind dem Zionismus verpflichtet (…). Welche Rücksicht auch immer auf die Ansichten der dort lebenden Menschen genommen werden sollte, die Mächte beabsichtigen nicht, (…) sie bei der Festlegung eines Mandats zu konsultieren.«⁴ Dem entspricht der Text des Völkerbundmandats von 1922 für Palästina. Er nennt ausschließlich das jüdische Volk als Träger nationaler Rechte und mit einer historischen Verbindung zu dem Land. Die britische Kolonialmacht soll der zionistischen Bewegung Privilegien und Hilfen geben, jüdische Vertretungs- und Selbstverwaltungsorgane verankern sowie die jüdische Einwanderung und Ansiedlung fördern und regulieren. Die Jewish Agency erhält den Status einer quasi staatlichen Einrichtung. Dies geschieht zu einer Zeit, als der jüdische Bevölkerungsanteil laut britischer Volkszählung 11,5 Prozent beträgt.⁵
In der Region Palästina leben vor dem Ersten Weltkrieg nach der Zählung des Osmanischen Reichs 722.000 Menschen, davon 83 Prozent Muslime, elf Prozent Christen und fünf Prozent Juden. Die zionistischen Einwanderungswellen lassen den jüdischen Bevölkerungsanteil bis 1931 auf 16,7 Prozent, bis 1946 auf 31 Prozent anwachsen. Bis 1936 wandern die meisten (43 Prozent) aus Polen und der Sowjetunion ein, zehn Prozent kommen aus Deutschland.
Land in Palästina zu kaufen ist bis in die 1930er Jahre nicht schwer. Großgrundbesitzer, die teilweise nicht im Land wohnen oder in die Stadt gezogen sind, verkaufen gerne. Ihre Verkäufe entziehen jedoch vielen Pächtern, Hirten und Landarbeitern die Existenzgrundlage. Der jüdische Nationalfonds erwirbt so viel Land, dass die Preise in die Höhe schnellen und auch Bauern zum Verkauf von Grundstücken motiviert werden. Bald ist der Markt leergefegt. Arabische Interessenten können kein Land mehr erwerben. Eine Bewegung gegen Landverkäufe entsteht.
Seit der Balfour-Erklärung gibt es palästinensische Proteste. Erste gewaltsame Zusammenstöße ereignen sich 1920 und 1921. Eine gesamtpalästinensische Organisationsstruktur kommt aber zunächst nicht zustande. Die Politik des britischen Hochkommissariats stärkt bestehende Spaltungen. Sie hebt einzelne Fraktionen der palästinensischen Elite heraus und richtet das Amt eines islamischen Großmuftis ein, statt eine arabische Nationalbewegung zu fördern. 1936 führen wachsende Armut sowie Informationen über die Zunahme der jüdischen Einwandererzahl und die Bewaffnung der zionistischen Milizen zu einem Generalstreik, zu Boykottaufrufen und zu einem Bauernaufstand. Die Aktionen werden erfolglos beendet, beweisen aber die wirtschaftliche Bedeutung des arabischen Sektors und die Abhängigkeit des jüdischen Sektors von arabischen Beschäftigten. In der Folge baut die britisch-zionistische Verwaltung den Hafen in der rein jüdischen Stadt Tel Aviv aus, was zum Bedeutungsverlust des palästinensischen Hafens im benachbarten Jaffa führt. Die zionistische Gewerkschaft Histadrut propagiert »jüdische Arbeit«, um palästinensische Arbeitskräfte zu ersetzen. Während der Auseinandersetzungen vollzieht sich die räumliche und ideelle Trennung zwischen beiden Bevölkerungsgruppen. Sowohl auf der zionistischen wie der palästinensischen Seite rücken die Menschen näher zusammen und beginnen sich als zusammengehörig wahrzunehmen, während sie sich von der »feindlichen« anderen Seite mehr und mehr abgrenzen. Die britisch-zionistische Seite greift auf alte kolonialrassistische Klischees von kulturell rückständigen, unvernünftigen und gewalttätigen »Orientalen« zurück.
Großbritannien präsentiert 1937 den ersten Teilungsplan für das Land. Der sogenannte Peel-Plan schlägt vor, den Norden des Landes und einen großen Teil des Küstengebietes, das fruchtbarste Land Palästinas, in dem 225.000 Palästinenser leben, dem jüdischen Staat zuzuteilen. Daraufhin radikalisiert sich der Widerstand. Die Kolonialmacht kämpft mit 100.000 Soldaten und ihrer Erfahrung aus anderen Kolonialkriegen gegen die einheimische Bevölkerung. Auf den Besitz von Waffen, ja bereits einer einzigen Patrone, folgt die Todesstrafe. Palästinenser werden als Schutzschilde auf Panzer und Lokomotiven gebunden, Häuser gesprengt, Familien und Ortschaften kollektiv bestraft, Anführer in andere britische Kolonien deportiert. Die zionistischen Milizen beteiligen sich. Sie werden mit Waffen versorgt und trainiert. 1939 ist die palästinensische Bevölkerung entwaffnet, die Zionisten sind stärker militärisch gerüstet als je zuvor.
Um die palästinensische Seite zu beruhigen, verfügt die britische Regierung über eine Beschränkung der Einwanderungszahlen. In Europa steigt indessen die Zahl jüdischer Menschen, die vor der Verfolgung durch die Nazis fliehen und denen die USA und andere Staaten die Aufnahme verweigern. Vor diesem Hintergrund greifen die zionistischen Militäreinheiten die Mandatsmacht an und fordern die staatliche Unabhängigkeit von Großbritannien. Die geschwächte Kolonialmacht übergibt das Mandat an die neu gegründeten Vereinten Nationen. Nach dem faschistischen Völkermord an den europäischen Juden ist die internationale Unterstützung für einen jüdischen Staat mit einem aufnahmefähigen Territorium sehr groß.
Al-Nakba
Die UN beschließen 1947 mit den Stimmen der USA und der UdSSR einen Teilungsplan für Palästina, der dem jüdischen Staat 56 Prozent der Fläche Palästinas zuweist. In dem Israel zugewiesenen Teil leben fast gleich viele arabische wie jüdische Menschen. Der Teilungsplan schlägt Maßnahmen vor, die das Zusammenleben von Juden und Arabern in beiden Gebieten regeln und die Bevölkerung schützen sollen. Die zionistischen paramilitärischen Einheiten beginnen jedoch sofort mit der ethnischen Säuberung. Mit Massakern, Überfällen, Zerstörungen und Drohungen vertreiben sie etwa 300.000 Menschen und stellen so in der dicht besiedelten Region am Mittelmeer eine jüdische Bevölkerungsmehrheit her. David Ben-Gurion proklamiert 1948 den Staat Israel ohne festgelegte Staatsgrenzen. Die benachbarten arabischen Staaten greifen Israel an, sind aber militärisch unterlegen. Jordanien erhält die Hoheit über das Westjordanland und Ostjerusalem, Ägypten über den Gazastreifen. Israel setzt die Vertreibungen fort und erweitert während des Krieges sein Staatsgebiet auf 76 Prozent von Palästina. Insgesamt werden etwa 750.000 Menschen Opfer der Nakba, der Katastrophe. Sie fliehen nach Jordanien, Syrien, Libanon sowie in das Westjordanland und nach Gaza. Um das Überleben der Geflüchteten zu sichern, gründen die Vereinten Nationen 1949 das Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge, UNRWA. Israels wichtigster internationaler Unterstützer ist seitdem die Regierung der USA. Die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet sich 1952, den jüdischen Opfern des Hitlerfaschismus eine »Wiedergutmachung« zu leisten. Diese wird hauptsächlich in Form von pauschalen Zahlungen und Warenlieferungen an den Staat Israel geleistet, welche die seitherige enge wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit begründen.
Im Sechstagekrieg von 1967 gelingt es Israel, das Westjordanland, Ostjerusalem, Gaza, die Golan‑höhen und den Sinai zu erobern. Damit kontrolliert Israel das gesamte historische Israel vom Mittelmeer bis zum Jordanfluss. Ein Angriff durch Ägypten und Syrien im Oktober 1973 bringt Israel in Bedrängnis und führt schließlich zur Rückgabe des Sinai.⁶ Die anderen Gebiete bleiben unter militärischer Besatzung. Die israelische Armee begegnet den Palästinensern in den besetzten Gebieten von Anfang an mit massivem Gewalteinsatz. Sie schränkt die Menschen in ihrer Bewegungsfreiheit, ihrer Bildung und ihren persönlichen Entscheidungen ein. Palästinenser erhalten nur beschränkte Mengen Wasser und haben ohne explizite Zustimmung kein Recht, Land zu erwerben, Gebäude zu errichten oder Güter zu exportieren. Seit 1967 legt Israel planmäßig jüdische Siedlungen in den besetzten Gebieten an und verdrängt die palästinensische Bevölkerung. Die Armee beschlagnahmt Land, vertreibt Bewohner, zerstört Häuser und Dörfer. Auf den Hügeln des Westjordanlands wachsen israelische Städte wie Festungen in die Höhe. Ein System moderner Zufahrtsstraßen, die von Palästinensern nicht genutzt werden dürfen, verbindet diese miteinander. Das Land wird mehr und mehr zerstückelt. Ende 1990 leben bereits rund 100.000 Siedler in der Westbank, bis 2024 steigt ihre Zahl auf etwa 520.000 in der Westbank und 230.000 in Ostjerusalem. Palästinensern wird jegliche politische Betätigung verboten und mit brutaler Gewalt und außergerichtlichen Internierungen unterbunden. 1980 annektiert Israel Ostjerusalem und trennt es von der Umgebung ab. Um die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) zu vertreiben, führt Israel 1982 Krieg gegen den Libanon.
Intifada und Osloer Verträge
1987 beginnt ein Massenaufstand in den besetzten Gebieten, die erste Intifada. Im ganzen Land protestieren die Menschen, die Armee schießt scharf gegen Demonstranten. Ein großer Teil der Bevölkerung beteiligt sich an Massenstreiks und Steuerboykotten. Die israelische Regierung versucht es mit Verhandlungen. 1991 lädt sie ausgewählte palästinensische Vertreter aus Jordanien zu einer Konferenz in Madrid ein und bietet eine »klar begrenzte Selbstverwaltung« an. Die PLO unter Jassir Arafat bringt sich mit Geheimverhandlungen in Oslo als Akteur ins Spiel und wird anerkannt. Es kommt zu den Osloer Verträgen, in welchen die PLO als legitime Vertretung der Palästinenser anerkannt wird. Die PLO erkennt wiederum den israelischen Staat an und verzichtet auf Gewalt. Dafür verspricht Israel, nach fünf Jahren einen Friedensprozess in Gang zu setzen. Vorläufig darf die PLO eine »Interims-Selbstregierungs-Autorität« etablieren. Sie erklärt sich bereit, »als Polizeitruppe im Dienste Israels für die Sicherheit ihrer Besatzungsmacht zu agieren«⁷. Israel verweigert weitere Verhandlungen über die Gründung eines palästinensischen Staats, aber die palästinensische »Autonomieregierung« (PA) übernimmt auf einer Fläche von 40 Prozent des Westjordanlands und in Gaza die Verantwortung für Erziehung, Bildung, Gesundheit und die innere Sicherheit. Der israelische Staat behält weitgehende Rechte in den besetzten sogenannten Autonomiegebieten: Er erhebt die Steuern und Zölle und kann damit die »Autonomieregierung« in dauerhafter Abhängigkeit von ihren Zuweisungen halten. Er behält die Kontrolle über die Einwohnerinnen und Einwohner mit der Verfügung über die Aufenthaltsrechte und die Ein- und Ausreisen. Die Armee darf außerdem jederzeit intervenieren, wenn sie dies mit der Sicherheit des israelischen Staates begründet. Der Siedlungsbau schreitet voran. 1987 gründet sich die nationalreligiös ausgerichtete Hamas. Sie lehnt das Ergebnis der Oslo-Vereinbarungen ab, setzt auf Widerstand und wird bald von immer mehr Menschen unterstützt.
Bei Verhandlungen in Camp David im Jahr 2000 stellt der israelische Premierminister Ehud Barak auf Druck der Siedlerbewegung weitergehende Forderungen: die Anerkennung der israelischen Kontrolle über das Jordantal, den Luftraum und die Wasserressourcen, die Akzeptanz der israelischen Siedlungen, die Abtretung weiterer Landflächen sowie die Zustimmung zur Annexion Ostjerusalems. Das ist für die palästinensische Seite unannehmbar. Als Arafat die Zustimmung verweigert, gelingt es der US-Regierung, ihm die Schuld am Scheitern der Verhandlungen zuzuschieben. Es kommt zur zweiten Intifada mit zahlreichen Selbstmordattentaten. Die israelische Armee antwortet mit Bombardierungen und großflächigen Zerstörungen. 2002 stürmen israelische Truppen die Autonomiebehörde und belagern Arafats Hauptquartier. Im selben Jahr startet Israel den Bau von Sperranlagen zwischen dem Staatsgebiet und dem besetzten Westjordanland. Eine sechs Meter hohe Mauer wird errichtet, welche die bedrohlichen Palästinenser aussperren soll. Der Bau wird auch dazu genutzt, die Grenze Israels weiter nach Osten zu verschieben und zusätzliche Flächen in israelischen Besitz zu bringen.
Die USA und die EU drängen auf Anerkennung und Legitimierung der Autonomieregierung in den besetzten Gebieten. Auf ihre Initiative finden 2004 Lokalwahlen und 2006 Parlamentswahlen statt. Wahlsiegerin der letzteren ist die Hamas. Sie ist zu einer gemeinsamen Regierungsbildung mit der Fatah von Mahmud Abbas bereit. Die USA unterstützen jedoch einseitig nur die Fatah. Diese übernimmt im Westjordanland die Autonomiebehörde und arbeitet mit Israel zusammen. In Gaza setzt sich die Hamas nach gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Fatah durch und übernimmt die Verwaltung.
Bereits 1995 hat Israel einen Grenzzaun rund um den Gazastreifen errichtet und ihn damit vom Westjordanland abgetrennt. 2005 verfügt die israelische Regierung über den Abzug der 9.000 jüdischen Siedler und zieht sich militärisch aus Gaza zurück. Im Anschluss riegelt sie den Gazastreifen vollständig von der Außenwelt ab. Sie schränkt die Ein- und Ausreise sowie die Ein- und Ausfuhr von Gütern massiv ein und übt damit Druck auf die Bevölkerung aus. Um Abhilfe zu schaffen, entwickelt die Hamas-Regierung ein Tunnelsystem. Es ermöglicht neben der ergänzenden Versorgung auch den Import von Waffen. Israel reagiert mit Bombardierungen. 2008, 2012, 2014 und 2021 führt die israelische Armee verheerende asymmetrische Kriege gegen die Hamas und die Bevölkerung in Gaza. Sie geht dabei nach der im Libanon-Krieg von 2006 angewandten »Dahiya-Doktrin« vor. »Was im Viertel Dahiya geschah, wird in jedem Dorf geschehen, aus dem Israel beschossen wird (…). Wir werden dort mit disproportionaler Gewalt vorgehen und großen Schaden und Zerstörung anrichten«, so Generalmajor Gadi Eisenkot 2008.⁸
Seit dem 7. Oktober 2023 werden die Bebauung und Infrastruktur des Gazastreifens komplett zerstört, inklusive aller Versorgungs- und Bildungseinrichtungen.⁹ Bis November 2024 werden über 43.000 Getötete und 98.000 Verletzte gezählt. Eine unbekannte Zahl von Menschen ist unter Trümmern verschüttet. Die obdachlos gewordenen Menschen werden gezwungen, wieder und wieder vor Bombenangriffen zu fliehen. Ihr Alltag besteht darin, Wasser und Lebensmittel zu finden, Verwundeten zu helfen und Tote zu begraben. Im Westjordanland rücken mehr als je zuvor bewaffnete Siedler gegen Dörfer in dünn besiedelten Arealen vor. Der israelische Staat beschlagnahmt das Land für Farmen und militärische Zwecke. In dicht besiedelten Städten, in denen Geflüchtete von 1948 leben und wo der Widerstand besonders stark ist, zerstört die Armee Straßen, Wasserleitungen und die Stromversorgung. Hauszerstörungen, Tötungen und Gefangennahmen finden in einem bisher unbekannten Ausmaß statt. An über 500 teils flexiblen Checkpoints werden die Menschen mit willkürlichen Kontrollen schikaniert. Wieder trägt Israel den Krieg auch nach Libanon, im Kampf gegen die propalästinensische Hisbollah.
»Gaza gehört uns. Für immer«
Die israelische Regierung steht 2024 offen zu ihrem Ziel, ganz Palästina für Israel zu erobern. Premier Benjamin Netanjahu präsentiert wiederholt eine Karte des sogenannten Großisraels »from the river to the sea«. Der rechtsextreme Finanzminister Bezalel Smotrich propagiert die Reduzierung der Bevölkerung in Gaza von zwei Millionen auf 100.000 bis 200.000 und eine Wiederbesiedlung durch Israelis.¹⁰ Im März 2024 erobert die israelische Armee das Areal der früheren israelischen Siedlung Netzarim südlich von Gaza-Stadt und etabliert den »Netzarim-Korridor«. Er trennt das südliche Gaza vom Nordteil ab und wird genutzt, um Vertriebene von einer Rückkehr in den Nordteil abzuhalten. Netanjahu erklärt den Korridor zur Dauerbefestigung. Am 1. Oktober 2024 berichtet die Times of Israel, die Armee habe auf Palästinenser geschossen, die sich dem Korridor näherten. Die etwa 400.000 Menschen im Norden Gazas werden seit Anfang Oktober 2024 wieder bombardiert, weitgehend von der Versorgung mit Nahrungsmitteln und Trinkwasser abgeschnitten und so zur Flucht Richtung Süden gezwungen. Das UN-Nothilfebüro OCHA berichtet, dass Tausende im Norden des Gazastreifens um ihr Leben kämpfen, nachdem mehr als 40 Tage kaum Lebensmittel oder andere Hilfsgüter die Region erreicht haben.¹¹
In ganz Gaza gibt es keinen sicheren Ort mehr und keine Möglichkeit, Hunger und Elend zu entkommen. Israelische Politiker befürworten den sogenannten Generalplan, nach dem Gaza menschenleer gemacht werden soll. Die Propagandisten einer Wiederbesiedlung Gazas treten in Israel immer selbstbewusster auf. Gemeinsam mit der Likud-Partei und einer Reihe von Regierungsmitgliedern lädt die militante Siedlerorganisation Nachala im Oktober 2024 zu einer Veranstaltung nahe der Grenze zu Gaza ein, bei der die Wiederbesiedlung konkretisiert werden soll. Das Motto ist: »Gaza gehört uns. Für immer.« Ende Oktober beschließt die Mehrheit der israelischen Abgeordneten in der Knesset, die Arbeit der UNRWA zu verbieten. Damit entziehen sie geflüchteten Palästinenserinnen Hilfe, Bildung und Versorgung und jedes Recht auf Rückkehr.
Anmerkungen:
1 Zit. n. Rashid Khalidi: Der hundertjährige Krieg um Palästina. Unionsverlag, Zürich 2024, S.34
2 Edward Said: Orientalismus. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2009, S. 49
3 Zit. n. Rashid Khalidi (Anm. 1), S. 21
4 Zit. n. ebd., S. 51
5 Alle Zahlenangaben nach Gudrun Krämer: Geschichte Palästinas. C.-H.-Beck-Verlag, München 2015
6 Für Details siehe: Michael Lüders: Krieg ohne Ende?Goldmann-Verlag, München 2024
7 Helga Baumgarten: Kein Frieden für Palästina. Promedia-Verlag, Wien 2021, S. 94
8 Zit. n. Khalidi (Anm. 1), S. 270
9 Siehe die Dokumentationen von Forensic Architecture, https://forensic-architecture.org/location/palestine
10 Jüdische Allgemeine, 31.12.2023
11 https://unric.org/de, 20.11.24
Teil I »Siehe Amerika« zur Geschichte des Siedlerkolonialismus im heutigen Namibia und in Nordamerika erschien in der Ausgabe vom 5. Dezember 2024.
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
Ähnliche:
- 24.10.2024
Blinken unter Freunden
- 10.08.2024
Erste Entspannung in Nahost
- 06.08.2024
Nibelungentreue zu Israel