Weltwahn
Von Arnold SchölzelEs war nur eine Frage der Zeit, bis beim laufenden dritten deutschen Rennen um einen »Platz an der Sonne« die Expansions- in Annexionspolitik umschlägt. Das öffentliche Nachdenken der Außenministerin Annalena Baerbock über deutsche Soldaten in der Ukraine war das erste Signal. Die Soldaten sind zwar längst dort, aber in den Kriegsmedien noch nicht sichtbar. Das Poltern Roderich Kiesewetters über Lithiumvorräte in der Ukraine war dafür unüberhörbar. Es lautet übersetzt: Die gehören uns. Der CDU-Mann hat ebenso wie sein Partei- und Fraktionschef kein Regierungsamt, da lässt sich leichter Klartext sprechen.
Die Bundestagsdebatten am Freitag über den Antrag der FDP zur Ukraine – »Zeitenwende mit Leben füllen« – und den der CDU/CSU – »Nordkoreas schädliche Außenpolitik einhegen« – setzten das fort. Die Papiere enthalten jene Mischung aus Größenwahn und Gier, die in besonderem Maß die Geschichte deutscher imperialistischer Staaten seit 125 Jahren geprägt hat. Das kostete allein in zwei Weltkriegen zig Millionen Tote, diesmal riskiert das realitätsvergessene Maulheldentum, das am Freitag im deutschen Parlament zu erleben war, die Existenz der Menschheit.
Da verlangen zum Beispiel Friedrich Merz und Co. ernsthaft, Russlands und Chinas Politik gegenüber Nordkorea zu durchkreuzen, u. a. durch »weitere Präsenz der Bundeswehr« im Indopazifik, und »diese Präsenz auch zur Sanktionsüberwachung zu benutzen«. Warum nicht gleich wieder wie Anno 1900 ein internationales Expeditionskorps entsenden, damit die Chinesen 1.000 Jahre lang keinen Deutschen mehr scheel ansehen?
Die gleiche Haudraufmentalität einer regelbasierten Zivilisation bestimmt auch das FDP-Papier. Fraktionschef Christian Dürr will endlich die Ukraine-Ernte in die Scheune fahren und halluziniert im Plenum, der Kanzler und andere »Taurus«-Verweigerer bedienten »indirekt das russische Narrativ«, wer weitreichende Waffensysteme liefere, »der könnte sogar einen Atomkrieg in Europa provozieren«. Denn in Russland ist alles Bluff, besonders Staat und Militär. Und die erste Mittelstreckenrakete der Geschichte im Kampfeinsatz, die »Oreschnik«, die ohne atomare Sprengköpfe verheerende Wirkung erzielt – nicht drüber reden, sondern Kiew endlich ermöglichen, den Moskauer Kreml punktgenau zu treffen.
Sevim Dagdelen hatte recht, als sie dazu meinte: »Sie haben den Verstand verloren.« Im übertragenen Sinn ist das nun wieder einmal eingetreten. Vielleicht bekommen die Russland- und Nordkorea-Besieger ihren Alltag individuell noch in den Griff, außenpolitisch lösen sie alles auf, was sie bändigte und zurückhielt. Das »Mehr Verantwortung im Krieg gegen Russland übernehmen« ist ein Synonym für: Trump überlässt uns Osteuropa, schenken wir ihm etwas für den Feldzug gegen China. Das war eine Wahnvorstellung im Bundestag. Die Welt wird sich das weniger bieten lassen als bei den letzten beiden Malen.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (6. Dezember 2024 um 20:06 Uhr)Sevim Dagdelen liegt falsch! Die hatten nie einen Verstand, den sie hätten verlieren können.
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