Schatten aus dem Süden
Von Georg FülberthDer Soziologe Dieter Boris, der am 21. November 2024 starb, hätte noch vieles zu sagen gehabt – wahrscheinlich mit einigem Grimm, gerade jetzt, zu Themen, die wieder einmal aus seiner Sicht vorschnell abgehandelt werden, immer aber mit großer Gründlichkeit.
Am 27. Mai 1943 geboren, in Wiesbaden aufgewachsen, begann er ein Studium in Frankfurt am Main, hörte bei den Lehrern der Frankfurter Schule, war aber auch einer derjenigen, die es mit Lust auf Historisch-Konkretes nordwärts zog, nach Marburg und zu Wolfgang Abendroth. Der war da nicht sein einziger Lehrer. Die jungen Leute, die sich dort einfanden, trafen in den Arbeitskreisen des SDS zusammen und suchten sich weitere Themen. Einer von ihnen, Karl Hermann Tjaden, lenkte den Blick auf die Notwendigkeit, den Imperialismus neu zu begreifen. Es war Vietnamkrieg, der Süden rückte in den Blick. Dieter Boris fand dort sein Lebensthema. Dass er bei Heinz Maus mit einer Studie zur politischen Soziologie Karl Mannheims promovierte, war insofern schon eine bereits geräumte Etappe in seinem wissenschaftlichen Lebenslauf.
1972 wurde er Professor in Marburg. Von dort aus brach er, so oft er konnte, zu seinen Forschungsreisen nach Lateinamerika auf. Sein großes politisches Erlebnis, zugleich Gegenstand seiner Untersuchungen, war das Chile der Unidad Popular, der faschistische Putsch, eine Erschütterung, die sein Denken nachhaltig beeinflusste und ihn in eine erste Differenz zu damals gängigen einlinigen Hoffnungen brachte. In Vietnam wurden gerade die USA geschlagen, in Europa musste der Westen zur Kenntnis nehmen, dass seine Rollbackstrategie gegen die DDR und die 1945 geschaffene Nachkriegsordnung gescheitert war. Eine daraus resultierende Erzählung, jetzt werde es immer so weitergehen, stieß bei Dieter Boris auf Skepsis.
Er blieb bei seinem Thema Lateinamerika, zog Studierende an, die er dafür begeistern konnte, und gründete so eine weitere Marburger Schule. Methodische Basis ihrer Untersuchungen war die politisch-ökonomische Strukturanalyse lateinamerikanischer Gesellschaften, niedergelegt in einer Flut von Veröffentlichungen.
An Parteilichkeit fehlte es nicht: Es waren die Arbeiterbewegungen und ihre Interessen, von denen die Forschungsfragen ausgingen. Mit den Linkstendenzen in Lateinamerika seit dem Anfang des Jahrhunderts hat Dieter Boris sich in Büchern von 2007 und 2014 ausführlich befasst, nicht ohne Sympathie, aber ohne Illusionen angesichts einer Zukunft des »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«. Die Enttäuschung der folgenden Jahre war ihm nicht neu und führte ihn zu Fragen nach der politischen Kultur und den Stimmungsschwankungen der Volksmassen. Es musste eben genauer hingesehen werden. So hätte Dieter Boris sich wohl auch zu Bemühungen verhalten, sich den »globalen Süden« antiimperialistisch schönzureden.
Seit er über Argentinien geforscht hatte, wusste er, dass es linken Populismus gibt, und er reagierte scharf gegen die Unterstellung, es gebe nur rechten. Der Verfasser der hier vorliegenden traurigen Zeilen dankt ihm für lehrreiche und freundschaftliche Zurechtweisung.
In seinen späten Tagen kämpfte er gegen Pessimismus. Er fragte, was das Moment Wahrheit an konservativer Fortschrittskritik sein könne, wies sie zurück, nahm sie aber zur Kenntnis, so in seiner Auseinandersetzung mit Reinhart Koselleck. Durch und durch ein Sozialist, mochte er doch keine linke Hagiographie, etwa in einer Rezension zu einer Biographie Felix Weils, in der sichtbar wurde, wie schofel der Mäzen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung von Horkheimer und Pollock behandelt wurde.
Zum Schluss dann wieder eine ganz große Herausforderung: Milei – ein Thema wie gemacht für Dieter Boris. Zusammen mit Patrick Eser veröffentlichte er einen Aufsatz:
»Der rätselhafte Aufstieg des ›Messias‹ Milei. Argentinien als Experimentierlabor des libertären Autoritarismus?«
Die Antwort werden jetzt andere zu geben haben.
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