Das Meer dirigieren
Von André WeikardNora Fingscheidts dritter Langfilm »The Outrun« hat zwei Stars: Hauptdarstellerin Saoirse Ronan und den Wind. Häufig werden beide eins. Klingt okkult, mystisch. Und so hebt »The Outrun« auch an. Die Erzählung spielt in großen Teilen auf den schottischen Orkney-Inseln. Die Erzählstimme raunt etwas von den Seelen der Toten, die hier nach altem Glauben zu Seehunden würden, um endlos im Meer zu treiben. Nur nachts kämen sie ans Ufer, um im Mondlicht zu tanzen. Rona (Saoirse Ronan) ist so eine verlorene Seele. Die junge Frau ist zwar quicklebendig, aber sie hat den Halt in ihrem Leben verloren. Rona treibt ziellos umher, sucht der Taubheit des Alltags zu entkommen durch ekstatische Kicks, Sex, Alkoholexzesse. »The Outrun« ist, eingebettet in eine poetische Erzählung und wundervolle Landschaftsaufnahmen, in Wahrheit ein Film über eine alkoholkranke Frau.
Die kehrt nach zehn Jahren im fernen London in ihre Heimat zurück, eben auf die Orkney-Inseln. Dem Zuschauer wird schnell klar, wovor sie damals in die Metropole geflohen ist. Vor ihrer religiösen Mutter, die auf dem Tischgebet besteht und Sinn in ihrem Bibelkreis findet. Und vor ihrem bipolaren Vater, der oft tagelang nicht aus dem Bett aufsteht und seine Schafzucht so heruntergewirtschaftet hat, dass er allein in einem Container wohnt. Einmal, im Wahn, hat er die Fenster des Hauses zertrümmert, um den Wind hineinzulassen. Rona, noch Kind, dachte damals, er beherrsche tatsächlich das Wetter. Danach holte die Polizei ihn ab.
Rona ähnelt ihrem Vater. Sie sucht die Extreme. Wenn die Wellen an die Inseln branden, hebt sie die Arme und dirigiert die Fluten. Einmal, als sie von einem Traum berichtet, in dem ihr Haar in Flammen stand, reagiert ihr Freund irritiert, glaubt, sie habe einen Alptraum gehabt. Rona aber lächelt. Ihr hat die Vorstellung gefallen, von den Flammen umwallt zu werden.
Rona ähnelt aber nicht nur ihrem Vater, sie ähnelt auch Benni, der Hauptfigur aus Nora Fingscheidts großem Erfolg »Systemsprenger«. War Benni ein unbändiges Kind, das von Wutanfällen überrollt wurde, kämpft die erwachsene Rona gegen ihre Impulsivität an. Im Alkoholrausch wird auch sie zur Gefahr. Sie verletzt sich und andere. Nicht nur mit Worten. Doch auch die wiegen schwer. Etwa zur Mitte des Films fällt der Satz, der das Thema des Dramas auf den Punkt bringt: »Ich glaube nicht, dass ich ohne Alkohol glücklich sein kann.«
Wie Rona sich dennoch Momente des Glücks zurück erkämpft, das zeigt »The Outrun« eindrücklich. Wir sehen eine entfesselt aufspielende Saoirse Ronan in einer Orkney-Hütte zu dröhnender Musik im Teelichtschein tanzen, wie einst in den Londoner Clubs. Wir sehen sie stoisch durch den Wind über die Inseln stapfen. Beobachten sie aber auch im Pub, wo sie sich gnadenlos betrinkt, sehen sie zögern an jedem Supermarktregal, auf dem die Weinflaschen aufgereiht sind und begleiten sie in den Kreis anonymer Alkoholiker, wo sie die Tage seit ihrem letzten Absturz zählt.
Fingscheidt, die mit ihrem Debüt hohe Erwartungen geweckt hat, löst mit der Verfilmung des autobiographischen Romans von Amy Liptrot all diese Erwartungen ein. Ihrem Porträt einer jungen Frau in Flammen ist gelungen, was schon »Systemsprenger« fertigbrachte. Sie hat erneut einen wirklich schweren Stoff, ein bitteres Sozialdrama, derart in Film verwandelt, dass wir als Zuschauer nicht gequält mitleiden, sondern die Protagonistin schätzen lernen, sie zu verstehen glauben, ihr folgen. Rona folgen wir in den Sturm. Und stellen dann fest: Sie ist der Sturm.
»The Outrun«, Regie: Nora Fingscheidt, UK/BRD/Spanien 2024, 118 Min., bereits angelaufen
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