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Aus: Ausgabe vom 07.12.2024, Seite 12 / Thema
Marxismus

Schluss mit Hegel

Antiidealistischer Marxismus. Lucio Collettis Kritik des Revisionismus. Zum 100. Geburtstag des italienischen Philosophen
Von Ingar Solty
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Lesenswert trotz der späteren politischen Entwicklung, die Lucio Colletti (1924–2001) das posthume Lob Silvio Berlusconis einbrachte, der Philosoph habe den Mut besessen, den Kommunismus abzulehnen

Anfang der 1970er Jahren wurde der italienische Philosoph Lucio Colletti noch als der »wichtigste lebende italienische marxistische Philosoph« angesehen, »wichtiger noch als Antonio Gramsci und Galvano Della Volpe«, heute ist sein Werk »merkwürdig missachtet«, so der marxistische Rechtswissenschaftler Steve Redhead. Ein Grund für die Tatsache, dass Colletti weitgehend in Vergessenheit geraten ist, dürfte sein, dass er sich zunächst deutlich gegen die Studentenbewegung und »die Ideologie von 1968« wandte, dann zum Ende der 1970er Jahre hin mit dem marxistischen Denken brach – 1979 erschien sein Buch »Tra Marxismo e no« (»Zwischen Marxismus und Nein«) –, anschließend zunächst Unterstützer der Sozialistischen Partei Italiens (PSI) und ihres 1983 zum Premierminister gewählten Vorsitzenden Bettino Craxi wurde und schließlich politisch ganz auf die Gegnerseite wechselte. Für die rechte Forza Italia, die Partei des Medienmoguls Silvio Berlus­coni, einem persönlichen Freund Craxis, zog er 1996 ins Parlament ein, dem er bis zu seinem Tod am 3. November 2001 angehörte.

Ungeachtet seines politischen Werdegangs ist Collettis Werk lesenswert. Sein Beitrag zur Werttheorie, die Verteidigung von Marx gegen seine Kritiker, seine Auffassung vom Marxismus als Wissenschaft sind heute noch relevant und als Teil des marxistischen Erbes, das aus den Universitäten weitestgehend verschwunden ist, für eine wissenschaftlich fundierte antikapitalistische Politik zu bergen.

Von Croce zu Lenin

In seiner Einleitung zur deutschen Ausgabe von »Hegel und der Marxismus« spricht Colletti von der Ehre, seine Arbeit auf Deutsch publiziert zu sehen, »der Sprache der Philosophen, an denen ich mich geformt habe«. Auch Collettis Zugang zum Marxismus war ursprünglich philosophischer Natur. Seine Arbeit ist die Auseinandersetzung mit Platon, den er am »Ursprung der Dialektik« im philosophischen Denken sieht, mit Spinoza, Kant, Jacobi, Hegel, Mandeville und Rousseau. Zugleich vollzog auch Colletti, wie Marx selbst, den Übergang von der Philosophie zur politischen Ökonomie. Er wandte sich gegen Hegel, aber ohne das Philosophische von Marx ganz aufzugeben, was gerade das Fruchtbare an seinem Werk für die radikale Kapitalismuskritik ausmacht.

Sein Weg zum Marxismus erschien Colletti als durchaus typisch. Er wies jedoch im Vergleich zu anderen westlich-marxistischen Größen der 1950er und 1960er Jahre einige Besonderheiten auf. In einem langen Interview, das der britische Historiker Perry Anderson 1974 mit Colletti für die New Left Review führte, bekannte er: »Meine intellektuelle Herkunft ist ähnlich wie die fast aller italienischen Intellektuellen meiner Generation. Ihr Ausgangspunkt in den letzten Jahren des Faschismus war die neoidealistische Philosophie von Benedetto ­Croce und Giovanni Gentile.« Colletti schrieb seine Doktorarbeit über Croces Logik, obwohl er »schon damals kritisch auf den Croceanismus blickte«.

Colletti war Schüler des am Marxismus ausgerichteten und in der Kommunistischen Partei Italiens (KPI) organisierten Philosophen Galvano della Volpe. 1950 nahm er selbst eine Lehrtätigkeit in Philosophiegeschichte an der Sapienza-Universität in Rom auf. Zeitgleich reifte seine Entscheidung, auch selbst der KPI beizutreten. Dies sei aber nicht im Ergebnis einer Auseinandersetzung mit Gramsci gewesen, den er kritisch sah, weil er in seinem Werk den Einfluss des Idealismus auf den Marxismus zu erkennen glaubte, sondern Lenins »Materialismus und Empiriokritizismus« (1909) geschuldet.

Collettis vergleichsweise später Eintritt in die kommunistische Bewegung – Giorgio Napolitano, Rossana Rossanda, Pietro Ingrao, Luigi Pintor und andere etwa Gleichaltrige kamen über die antifaschistische Partisanenbewegung zum Kommunismus – habe dazu geführt, dass für ihn weder der Tod Stalins 1953 noch der 20. Parteitag der KPdSU »eine persönliche Katastrophe, der Kollaps eigener Überzeugungen und Sicherheiten« gewesen seien, sondern eine Befreiung. Ihm sei die Situation so erschienen, dass »der Kommunismus endlich werden könnte, wovon ich immer glaubte, dass er es werden sollte – eine historische Bewegung, die zu akzeptieren nie beinhaltete, den eigenen Verstand zu opfern«.

Lange war Colletti jedoch nicht Mitglied der Partei. Nachdem er 1956 zu den Unterzeichnern des »Manifests der 101« gehörte, die nach dem sowjetischen Einmarsch in Ungarn aus der KPI heraus eine distanziertere Haltung zur UdSSR forderten und er – parallel zu den Vorläufern der New Left Review – 1957 die Zeitschrift La Sinistra gründete, trat er 1964 aus, weil er die KPI auf dem nun von ihr eingeschlagenen »italienischen Weg« unweigerlich in den Reformismus marschieren sah. Trotzdem sei die Mitgliedschaft »eine extrem bedeutsame und positive Erfahrung für mich gewesen«, hätte er sein Leben noch einmal zu leben, würde er sowohl »meinen Eintritt als auch meinen Austritt« wiederholen, bekannt er später. Durch die Partei habe »ein Mann wie ich, dessen Hintergrund durch und durch akademisch« war, »das erste Mal realen Kontakt mit Menschen aus anderen gesellschaftlichen Gruppen bekommen«, denen er sonst »jenseits von Straßenbahnen und Bussen niemals begegnet« wäre. Auch sei die Partei wichtig gewesen, »um bestimmte Formen des Intellektualismus zu überwinden und so die Probleme des Zusammenhangs zwischen Theorie und Praxis in einer politischen Bewegung besser zu verstehen«.

In Collettis Parteizeit fällt der parteiinterne Streit um die Kulturpolitik. Austragungsort war die ­Societá, die zentrale kulturpolitische Zeitschrift der Partei. Seit 1955 war der junge Intellektuelle hier stark involviert. Schon ein Jahr später ergaben sich Öffnungen, weil nur noch wenige aktive Professoren nach dem Ungarn-Aufstand und dem sowjetischen Einmarsch in der Partei verblieben. Della Volpe war eine Ausnahme und scharte fortan eine jüngere Generation von radikalen Linken um sich. Societá radikalisierte sich in dem Sinne, dass »marxistische und leninistische Artikel zunehmend dominierten«. Der Partei, die nicht nur Colletti, sondern auch andere vom linken Flügel wie Rossanda, Lucio Magri und Pietro Ingrao zunehmend als postrevolutionär und revolutionär nur noch der Phrase nach ansahen, war dies ein Dorn im Auge. Der Kurs ging in Richtung eines reformistischen »Eurokommunismus« und dem »historischen Kompromiss« mit der Christdemokratie. 1962 stellte die Partei die Herausgabe der Societá ein.

Empirischer Marxismus

Colletti sah seine Aufgabe in der Kritik des Marx­ismusverständnisses in der KPI. Die Interpretation sei – komplementär zum Reformismus – ein »absoluter Historizismus« gewesen, so als wäre der Marxismus »die Fortsetzung und Entwicklung des Historizismus von Benedetto Croce selbst«. Auch die Lektüre Gramscis sei in dieser Weise erfolgt, als wären Gramscis Schriften, so wie sie Palmiro Togliatti präsentierte, die »Erfüllung und Konklusion der Tradition des italienischen hegelianischen Idealismus«.

Collettis Ziel war die Verwissenschaftlichung des Marxismus. Daraus ergab sich seine gegen Hegel gerichtete Haltung. Für ihn gründete Hegels Philosophie auf dem Idealismus, »die Philosophie« sei, nach Hegel, »immer Idealismus« und das »Problem der Philosophie« bestehe, nach Hegel, darin, »das Prinzip des Idealismus zu verwirklichen«. Für Colletti aber war Materialismus synonym mit Wissenschaft. »Der Materialismus und die Wissenschaft sind (…) die Unphilosophie, d. h. die Antithese oder Verneinung der Philosophie.«

Sein Ziel, die Wissenschaftlichkeit des Marxismus auf der Höhe der Zeit zu begründen, macht Colletti in den Augen von Redhead quasi zur italienischen Antwort auf Louis Althusser und dessen Programm eines antihumanistischen Marxismus, zu dem die scharfe Trennung zwischen dem jungen humanistischen Marx und dem, nach Althussers Dafürhalten, eigentlich marxistischen Marx steckt, der 1845 einen »epistemologischen Bruch« vollzogen habe. Zugleich stehen beide in einem Gegensatz zueinander: Althusser frönte einem strukturalistischen Abstraktionismus und Theoretizismus, Colletti hingegen zeichnete sich, wie auch seine Auseinandersetzung mit dem Schicksal der Oktoberrevolution in »Zur Stalin-Frage« zeigt, durch einen stark an der Realhistorie orientierten empirischen Materialismus aus. Robert Gorman sieht in ihm darum auch einen jener heute »eher unbekannten, aber wichtigen Denker, die sich an der Synthese eines revolutionären Marxismus mit der empirischen Wissenschaft versuchten«.

Colletti kritisierte die Partei und ihren Marxismus auch nach seinem Austritt zunächst von links. Das ist die Phase, in der seine Schriften international Verbreitung finden. Den Ursprung des Idealismus und Reformismus im Gewand der sozialistischen Arbeiterbewegung erkannte er im Revisionismusstreit der deutschen Sozialdemokratie. Eine seiner ersten Schlüsselschriften ist die Kritik des evolutionären Sozialismus von Eduard Bernstein. Sie erschien ursprünglich 1968 als Vorwort zur italienischen Ausgabe von Bernsteins »Die Vor­aussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie« (1899). 1971 lag sie auch in deutscher Sprache vor, als Monografie »Bernstein und der Marxismus der Zweiten Internationale«.

Colletti begann seinen Text mit einer Relektüre von Engels’ Einleitung zur ersten Neuauflage von Marx’ »Klassenkämpfe in Frankreich«. Sie gilt, weil Engels hier kurz vor seinem Tod selbstkritisch eigene Position von ihm und Marx revidiert, als dessen politisches Testament. Engels sah durch die Entwicklung des modernen Militärs die alte Revolutionstheorie – die »Revolution« als »Überrumpelung« durch eine »bewusste Minorität« – grundsätzlich in Frage gestellt und dachte über einen parlamentarischen Weg zum Sozialismus nach. Es gehe, schreibt Engels, um die Taktik der »erfolgreichen Nutzung des Stimmrechts«; Wählen war einst »Mittel der Prellerei«, heute »Werkzeug der Befreiung«. Die Bourgeoisie habe faktisch mehr Angst vor dem Sozialismus per Wahlurne als vor der – militärisch leicht niederzuschlagenden – Revolution.

Nach Collettis Dafürhalten begann Bernsteins Revisionismus ein Jahr später mit der Artikelreihe »Probleme des Sozialismus« in Kautskys Zeitschrift Die Neue Zeit. Colletti referiert, wie Bernstein sich gegen die Zusammenbruchstheorie, die Verelendungstheorie, die Theorie von der Polarisierung der Klassen, gegen die Revolutionstheorie wendet, um so einen – auf den Neokantianismus zurückgehenden – »ethischen Sozialismus« zu begründen, der die führende Rolle der Arbeiterklasse grundsätzlich in Zweifel zieht und ihn für alle, auch die sich nach Bernsteins Dafürhalten ökonomisch haltenden »Mittelklassen« des kleinen, auch bäuerlichen Eigentums, als erstrebenswert erklärt. Bernstein knüpft dabei auch an die Agrarfragendebatte in der internationalen Sozialdemokratie an, die sich zum einen um die Konkurrenzfähigkeit des kleinen (Grund-)Eigentums drehte, und woraus die Schlussfolgerung gezogen wurde, dass nach der weitgehenden Organisierung des Industrieproletariats in der Sozialdemokratie nun auch ein politisches Angebot für die ländliche Bevölkerungsmehrheit fällig sei, wobei man die Bauern nicht als Proletarier in spe anprechen solle, sondern, wie von Eduard David, Georg von Vollmar und anderen praktiziert, mit ihren jeweils eigenen Klasseninteressen. Zugleich waren seit der Aufhebung der Sozialistengesetze 1890 viele Intellektuelle in die Partei geströmt, die auch ein Interesse am Sozialismus hätten. Das Projekt Sozialismus war damit nicht mehr die Selbstbefreiung des Proletariats, dessen Interesse sich aus der Klassenlage ergibt, sondern eines der Weltanschauung, die klassenübergreifend ihre »Fans« findet. Auch deshalb konnte Bernstein am Ende erklären, dass ihn das »Endziel« des Sozialismus nicht interessiere, sondern nur die Bewegung und ihre Taktik.

Wider die Zusammenbruchstheorie

Colletti nahm nun aber nicht Rosa Luxemburgs Kritik an Bernstein (»Sozialreform oder Revolution«) zum Ausgangspunkt. Er interessierte sich eher für Kautskys Versuche, Bernsteins Revisionismus abzuwehren. Dabei war er kein Freund von Kautskys Marxismus, im Gegenteil. Colletti erkannte die »Zusammenbruchstheorie« als das Zentrum von Bernsteins Marx-Revision. Er wies darauf hin, dass eine solche bei Marx selbst gar nicht existiere – ebenso wenig wie eine »Verelendungstheorie«. Dies sei vielmehr das Ergebnis des schematischen (Vulgär-)Marxismus in der Zweiten Internationale, für den Kautsky und Die Neue Zeit standen.

Bernstein behauptete, den Marxismus von Ideologie zu befreien und auf den Boden der historisch-empirischen Wirklichkeit zu stellen. Dies wollte auch Colletti, wenn er am Marxismus der Zweiten Internationale die (hegelianisch-)teleologische Folklore einerseits und andererseits Kautskys mechanistischen historischen Materialismus kritisierte, der das, was Marx die »historische Tendenz« nannte, in ein »unvermeidliches Naturgesetz« (des kapitalistischen Zusammenbruchs) verwandelt hatte. Auch darum war es Colletti möglich, Bernstein zu attestieren, dass er »Engels, Kautsky und all den anderen zuvor(kam)« in der Erkenntnis der veränderten Bedingungen. Es war die Zeit des neuen »Organisierten Kapitalismus« der nationalstaatlichen Bourgeoisien mit Trusts, Konzernen und Verbänden, der Überakkumulation, des Protektionismus und der zwischenimperialistischen Rivalitäten starker Staaten: »Das Bewusstsein, vor eine neue Situation gestellt zu sein, war sein Vorteil und seine Stärke.«

Mit diesem Satz wird Colletti heute von Anhängern Bernsteins zitiert, etwa von Tom Strohschneider. Es komme aber eben, so Colletti, auf die »Beurteilung des historischen Augenblicks« an. Die Revision des Marxismus hätte sich also gegen den Vulgärmarxismus der Zweiten Internationale – gegen ihre »Teleologie«, gegen ihren Attentismus – richten müssen, richtete sich aber statt dessen in antimarxistischer, reformistischer Richtung gegen Marx und dessen Methode. Diese sei aber richtig gewesen; Bernstein hingegen habe mit seinen Antworten falschgelegen. »(V)om wissenschaftlichen Standpunkt aus« betrachtet, sei Bernstein »unbedeutend«. Er habe letztlich gegen die »Zusammenbruchstheorie« und den ihr zugrunde liegenden Ökonomismus in voluntaristischem Geist opponiert, der einseitig die Akteure, die Bewegung, die »Freiheit in der Handlung« betone. Letztlich seien beide, Kautskys Strukturdeterminismus, in dem keine Handlung mehr vorkommt, und Bernsteins Voluntarismus, der die Marxsche Werttheorie, ja Kapitalismusanalyse aufgibt, zweierlei Formen der »Metaphysik«. Dies sei, so Colletti, »der ganze subalterne Charakter des zwischen positivistischem Szientismus (à la Kautsky) und Neukantianismus (à la Bernstein) geteilten Marxismus«. Die richtige Antwort sei der doppelte Bruch mit sowohl Kautskys »orthodoxem« (Vulgär-)Marxismus als auch Bernsteins Antimarxismus:

»Dem deterministischen Objektivismus gelingt es nicht, das ideologische Moment, das revolutionäre politische Programm mit einzubeziehen. Von der Wissenschaft ausgeschlossen, bietet sich die Ideologie andererseits als eine Welt der ›ethischen Freiheit‹ neben der Welt der natürlichen ›Notwendigkeit‹ an und lässt damit den neukantianischen Dualismus von Müssen und Sollen wieder aufleben.« Tatsächlich sei »das, was Bernstein und viele andere als einen Fehler und die Schwäche des ›Kapitals‹ bezeichnet haben – das gleichzeitige Vorhandensein von Wissenschaft und Ideologie – ganz im Gegenteil seine tiefste Originalität und seine größte Stärke«.

Werttheorie und Fetischismus

Die Bernstein-Kritik führte Colletti auf das Terrain der Werttheorie und Wertformanalyse. Bernsteins Irrtum, der sich aus seiner Bezugnahme auf die bürgerliche Marx-Kritik von Werner Sombart und anderen ergebe, sei, dass bei Marx die Kategorien »abstrakte Arbeit« und »Wert« als »rein geistige, vom Forscher (in diesem Fall von Marx) hervorgebrachte Verallgemeinerungen verstanden« würden, weil »Werte« und »Produktionspreise« nie zusammenträfen. Auch die Verteidigung von Marx durch zeitgenössische Marxisten wie Maurice Dobb oder den Ökonomen Paul Sweezy, die sich auf den Standpunkt stelle, dass »jede Abstraktion immer nur eine Annäherung an die Wirklichkeit bleibt«, weshalb das »bloße Wiederholen dieser Feststellung keine Kritik an der Werttheorie bedeutet«, sei nicht zielführend. Vielmehr sei die Marxsche Werttheorie nicht positivistisch zu begreifen, sondern mit Bezug auf Marx’ Fetischismustheorie. Der »Zusammenfall der Werttheorie mit der Theorie des Fetischismus oder der Entfremdung – bei Marx« sei »nicht nur der große prinzipielle Unterschied zur klassischen politischen Ökonomie, für die die Theorie der Entfremdung absolut unverständlich ist«; er veranschauliche auch »den Standpunkt (…), von dem aus Marx die Geburt und das Schicksal der politischen Ökonomie als Wissenschaft erklärt«. Die Entstehung der ökonomischen Reflexion habe »für ihn voraus(gesetzt), dass in den Augen der Menschen ihre Verhältnisse durch die Verallgemeinerung von Warenproduktion und dem ihr angehörenden Fetischismus in der modernen Gesellschaft dunkler und komplizierter werden«.

Es gelte, die »organische Einheit von Werttheorie und Theorie des Fetischismus« zu verstehen. Es sei die Notwendigkeit aller Gesellschaften, »den Komplex ihrer eigenen Arbeitskraft« – inklusive der Arbeitszeit – »unter die verschiedenen Aufgaben (zu) verteil(en)«, und gleichzeitig eine gesellschaftliche Formspezifik, »wo die Arbeitszeit, die für die verschiedenen produktiven Tätigkeiten benötigt wird, sich als den Produkten selbst innewohnende Qualität erweist, d. h. als ›Wert‹ von ›Dingen‹, weil eine bewusste und geplante Teilung der (gesellschaftlichen) Arbeit fehlt. Diese Verwechslung des Gesetzes der Arbeitszeit (von dem keine Gesellschaft absehen kann) mit seiner fetischistischen Realisierung in der Welt des Kapitals und der Waren oder, genau und mit modernen Worten ausgedrückt, die Verwechslung von Planungsprinzip und Wertgesetz ist die Basis für den heutigen Revisionismus.«

In seinem 1969 auf Italienisch erschienenen Buch »Hegel und der Marxismus« setzte Colletti die Verteidigung der Werttheorie gegen jene Kritiker im Nachgang von Eugen von Böhm-Bawerk fort, die Marx der Metaphysik verdächtigen: der Grenznutzenökonom Joseph Schumpeter und die keynesianischen Ökonomen Joan Robinson und Gunnar Myrdal. Sein Buch verfolge, so Colletti, zwei Ziele: erstens, eine »Rekonstruktion der Hegelschen Philosophie«, und zweitens, »die unterschiedliche Interpretation aufzuzeigen, die Marx im Vergleich zu seinen Deutern und Anhängern (…) über das Hegelsche Denken gegeben« habe.

Colletti richtet sich hier vor allem gegen Georg Lukács und formuliert eine allgemeine Kritik des »dialektische(n) Materialismus«, dem er vorwirft, gar »kein Materialismus« zu sein. Besonders wendet er sich gegen den Begriff der »Verdinglichung«, den Lukács 1923 in »Geschichte und Klassenbewusstsein« erarbeitet hatte und der eine besondere Rolle im linksradikalen, gegen die Arbeiterbewegung gerichteten Hegelianismus in der Philosophie des bei der »Neuen Linken« beliebten Herbert Marcuses spielte. Lukács und Marcuse hätten, im Gegensatz zu Marx, an das Erbe der Linkshegelianer angedockt, anstatt mit ihm zu brechen. Diese hätten Hegels Philosophie – auch den Satz von der Vernunft und der Wirklichkeit – auf einen »Widerspruch zwischen den ›Prinzipien‹ und den ›Folgerungen‹« gebracht. »Die Prinzipien seien revolutionär, die Folgerungen konservativ.« Darum bestünde die Aufgabe eines linken Hegelianismus darin, die revolutionäre Konsequenz von Hegels Prinzipien zur Entfaltung zu bringen. Dies sei jedoch – mit Ausnahme von Ludwig Feuerbach und Marx – unter Aufgabe materialistischer Wirklichkeitsforschung passiert. Lukács und in seinem Gefolge Marcuse seien – als Vertreter des »dialektischen Materialismus« – »der von den Linkshegelianern eingeschlagenen Richtung« gefolgt. Marcuse habe in »Vernunft und Revolution« auf dem Standpunkt gestanden, »Hegels Philosophie« sei »die Philosophie der Revolution, da die Identität zwischen Wirklichem und Vernünftigem so zu verstehen« sei, »dass die Vernunft sich verwirklichen« müsse und, so zitiert Colletti Marcuse, dass »die unvernünftige Wirklichkeit so verändert werden (muss), dass sie mit der Vernunft zur Übereinstimmung gelangt«. »Der Unterschied« zwischen Hegel und Hegel-Idealismus im Marxismus liege »nur darin, dass – während Hegel (…) eine Liquidierung des materiellen Standpunkts« betrieben habe und »den absoluten Idealismus« verwirklicht habe, es beim »dialektischen Materialismus« umgekehrt vor sich gehe, »indem die idealistische Metaphysik als eine höhere Form des Materialismus ausgegeben und der tatsächliche Materialismus, d. h. die moderne Wissenschaft, hingegen als Metaphysik bekämpft« werde.

Der zu rettende Kern

Colletti richtete sich damit sowohl gegen den bürgerlichen Positivismus und Empirismus, der, wo er materialistisch ist, unkritisch auf den Status quo bezogen bleiben muss, als auch gegen den Idealismus, die Metaphysik im Hegel-Marxismus. Die Kritik an Letzterem und auch Collettis ablehnende Haltung gegenüber Hegel selbst ist jedoch zugleich kompatibel mit einer partiellen Rehabilitierung Hegels, soweit bei ihm die »Dialektik der Materie« erscheint. Bei all seiner Ablehnung der Hegelschen Philosophie als System identifizierte Colletti an einer Stelle das für einen kritischen Marxismus konstitutive Hegelsche Erbe. Er folgt dabei Engels und Lenin, die im zweiten Kapitel des zweiten Buches von Hegels »Wissenschaft der Logik« den »zu rettenden ›Kern‹ der Hegelschen Philosophie« erblickten, verstanden als »den Einbruch eines unverfälschten Realismus im Gegensatz zu der ›Hülle‹ des Systems und der ›Mystik der Idee‹«. Entscheidend sei die Definition des dialektischen Charakters der Bewegung, die Hegel zu der Behauptung geführt habe, »dass alle Dinge an sich selbst widersprechend sind«.

Auf dieser Grundlage wandte sich Colletti gegen den bürgerlichen Positivismus, der Marx der Metaphysik verdächtigt, weil er die Transformation vom Wert zum Preis nicht empirisch nachweisen und erklären kann: Erst mit einem aus dieser Hegelschen »Wissenschaft der Logik« entspringenden Grundverständnis von der »Struktur der Hypostasierungsvorgänge« lasse sich begreifen, dass »die Ware und mehr noch selbstverständlich der Staat sowie das Kapital (…) wirkliche Hypostasierungsprozesse« darstellten. Was für den »Doppelcharakter der Ware« gelte, die, wie Marx schreibt, »ein sinnlich übersinnliches Ding« sei, gelte auch für den Wert, der zugleich »eine eingebildete und doch soziale Existenzweise« sei.

Besonders allergisch reagierte Colletti darum auch auf Althussers Bemerkung, man könne das »Kapital« auch ohne die ersten 150 Seiten lesen, in denen Marx seine Fetischismustheorie und Wertformanalyse entwickelt. »Die Marxsche Kritik an Hegels Dialektik und seine Kapitalanalyse gehören zusammen«, schreibt Colletti. »Mangelt es an Verständnis für die erste Kritik, wird auch die zweite Kritik unbegreiflich.« Der Streit darüber, ob Marx nun – im Vergleich zu seinen Vorgängern der Arbeitswertlehre Adam Smith und David Ricardo – die bessere politische Ökonomie hervorgebracht habe, die insbesondere den Ursprung des Profits aus dem Kapital als soziales (Herrschafts-)Verhältnis erklären könne, oder ob er eine fundamentale »Kritik an ökonomisch-politischen Institutionen der modernen bürgerlichen Gesellschaft« formuliert habe, sei also falsch gestellt, weil es um beides gehe. Marx verweise letztlich auf die »völlig neuen Dimensionen der ›gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse‹«: Kapital, Mehrwert, Profit, Zins, Staat usw. seien, weil sie Verhältnisse abbildeten, notwendig »unbestimmte Abstraktionen« und nicht mit Seins-Kategorien zu begreifen. Wenn man nun aber »diesen Schritt nach vorn« nicht vollziehe, dann sei es »unvermeidlich, dass man bei der ›Wert‹- und Staatstheorie auf der anderen Seite verharrt«, die diesen Verhältnissen inhärente Eigenschaften beimesse. Damit aber bewege man sich, »wenn nicht vor dem und jenseits des ›Marxismus‹, so doch ganz gewiss vor und außerhalb von Marx«.

Ingar Solty schrieb an dieser Stelle zuletzt am 19. Oktober 2024 über die Arbeiterin und Schriftstellerin Marie Frank: Das Herz schlägt links.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (10. Dezember 2024 um 10:56 Uhr)
    Wie glaubwürdig ist die Ankündigung in der Überschrift »Lucio Collettis Kritik des Revisionismus« bei einem Philosophen, der selbst bis zu den Knien im revisionistischen Sumpf steckt? Was nützen all die schönen Worte, die er vielleicht irgendwann mal geschrieben haben mag, wenn er in entscheidenden Momenten der Geschichte auf der falschen Seite steht? Der 20. Parteitag der KPdSU, an dem von Chruschtschow die Weichen für die von Gorbatschow vollzogene Zerstörung der Sowjetunion gestellt wurden, war nicht nur für die Imperialisten ein Hoffnungsschimmer, auch Colletti empfand das als eine »Befreiung«.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (7. Dezember 2024 um 16:11 Uhr)
    Auch dieser Artikel lässt mich eher ratlos zurück. »Colettis Ziel war die Verwissenschaftlichung des Marxismus.« Soll das ernsthaft heißen, dass der Marxismus keine wissenschaftlich begründete Theorie ist, mit der man sich ernsthaft beschäftigen sollte? »Antiidealistischer Materialismus« – sind Idealismus und Materialismus nicht absolut gegensätzliche philosophische Sichtweisen auf die objektive Realität? Welchen Nutzwert außer absoluter Wirrnis soll es haben, diese Gegensätze zu einem ungenießbaren begrifflichen Brei der Art »idealistischer Materialismus« zusammenzumischen? Der dialektische Materialismus sei gar kein Materialismus. Was soll denn da ausgekehrt werden, die dialektische Methode oder das materialistische Verständnis von der Entwicklung der Welt? Oder doch vielleicht beides, damit man zum Schluss beim Weltverständnis eines Silvio Berlusconi andocken kann? Wäre es nicht besser, wir würden uns mehr mit dem beschäftigen, was wir bei Marx, Engels und Lenin lernen können, wenn wir verstehen, sie zu konstruktiv zu lesen und ihre Methoden schöpferisch auf unsere Zeit anzuwenden? Coletti hilft uns dabei eher wenig.

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