»Es ist unser Land«
Von John McAulayNur wenige Meter von der Autobahn 34 in Israel entfernt, ist ein kleines Lager errichtet worden. Beim Vorbeigehen könnte man das Gewirr von Zelten, Fertigbauten, Kleidung, Kisten und willkürlich angeordneten Möbeln leicht mit einem Obdachlosenlager verwechseln. Doch die Anwesenheit einer orthodoxen jüdischen Frau mit traditioneller Kopfbedeckung und zweie Jungen mit seitlichen Locken erzählt eine andere Geschichte: Sie warten darauf, die ersten Israelis zu sein, die den Gazastreifen neu besiedeln.
An diesem warmen Nachmittag mitten in der Woche im November kümmern sich Seagal und ihre beiden Kinder um das Lager. »Es gibt ein paar Familien, die hier ständig schlafen. An den Wochenenden sind es bis zu fünf Familien«, erklärt sie. Ihr Mann ist derzeit bei der Arbeit, kommt aber am Abend zurück, um hier zu übernachten. Seagal und die Kinder sind damit beschäftigt, zwischen der behelfsmäßigen Küche und dem großen Tisch, an dem das Abendessen serviert wird, hin und her zu laufen und Tomaten und Karotten zu schneiden, um einen einfachen Salat zuzubereiten, bevor die Sonne untergeht und es dunkel wird.
Seit Anfang Juli kampiert diese Gruppe ultranationalistischer Israelis in der Nähe der nördlichen Grenze des Gazastreifens. Von den Behörden jedes Mal zum Umzug gezwungen, schliefen sie zunächst in einem nahegelegenen Wald, bevor sie sich unter einer Eisenbahnbrücke niederließen. »Wir haben die Bahngesellschaft um Erlaubnis gebeten, und sie hat uns erlaubt, hier so lange zu bleiben, wie wir wollen«, sagt Seagal. »Jetzt brauchen wir nur noch die Erlaubnis der Regierung, die Grenze zu überqueren und dort zu leben.«
Hand in Hand
Dies könnte eher früher als später geschehen. Zwar gab es im Gazastreifen in der Vergangenheit eine Reihe israelischer Siedlungen, doch seit deren Auflösung im Jahr 2005 galt die Idee einer Rückkehr in das palästinensische Gebiet als Wunschtraum, den nur die radikalsten Aktivisten der Siedlerbewegung und extremistische Politiker am Rande für möglich gehalten hatten. Das hat sich nun geändert, begünstigt durch den Kontext des Krieges und die Anwesenheit ultrarechter Mitglieder im israelischen Kabinett von Premierminister Benjamin Netanjahu.
Die beiden politischen Schlüsselfiguren, die diese Bewegung vorantreiben, sind der Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, Vorsitzender der jüdischen Machtpartei, und der Finanzminister Bezalel Smotrich, Vorsitzender der religiösen zionistischen Partei. Seit dem Anschlag vom 7. Oktober 2023 haben sie sich zunehmend ermutigt gefühlt und die Umsiedlung der Bevölkerung des Gazastreifens als notwendige Maßnahme für die Sicherheit Israels dargestellt. Auch einige Hardliner vom regierenden Likud haben ihre Unterstützung für den Vorschlag bekundet. Netanjahu hat in der Vergangenheit erklärt, dass »Israel nicht die Absicht hat, den Gazastreifen dauerhaft zu besetzen«. Die Weigerung des Premiers, einen Plan für die Zeit nach dem Gazakrieg vorzulegen, hat jedoch die Spekulationen darüber, was mit der Enklave geschehen wird, angeheizt.
Auch die öffentliche Wahrnehmung dazu hat sich in letzter Zeit geändert. Im Gespräch erklärt Mairav Zonszein, leitende Analystin bei der International Crisis Group, warum die Vorschläge von Ben-Gvir und Smotrich an Dynamik gewinnen. »Viele Menschen unterstützen diese Politik, weil es keinen politischen Willen gibt, etwas anderes zu tun«, sagt sie. »Es gibt keinen alternativen Ansatz für den Palästina-Konflikt, der politisches Kapital oder irgendeine Art von Unterstützung in der Bevölkerung hat, es gibt nichts, was das Vakuum füllen könnte.« Im Gegensatz dazu erschien der ultranationalistische Vorschlag von Ben-Gvir und Smotrich vielen Israelis als »der einzige kohärente, klare und politisch starke Ansatz« in der Palästinenserfrage, auch wenn sie immer damit noch »etwas am Rande« lägen, so Zonszein.
Die wichtigste Frage ist daher, was mit den Palästinensern geschehen wird, die den Gazastreifen immer noch ihr Zuhause nennen, auch wenn ihr Wohnsitz zerstört wurde. Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden im Laufe des Krieges 1,9 Millionen der 2,2 Millionen Einwohner der Enklave vertrieben und zwei Drittel der Gebäude im Gazastreifen beschädigt oder zerstört. Und das, während die Bomben weiterhin auf ein Gebiet niedergehen, das bereits in Trümmern liegt.
Die Geräusche dieser Zerstörung sind auch innerhalb Israels zu hören. In dem Lager, das Seagal und die anderen Siedleraktivisten errichtet haben und das nur zwei Kilometer von der nördlichen Grenze des Gazastreifens entfernt ist, übertönt der ständige Strom des Schwerverkehrs am Nachmittag jedes andere Geräusch. Wenn man sich jedoch nur einige hundert Meter von der nahegelegenen Autobahn entfernt, wird der unaufhörliche Lärm von Maschinengewehren und Explosionen deutlich. Nachts, wenn der Verkehr gering ist, sei er manchmal vom Lager aus zu hören, erklärt Seagal. »Aber wir nehmen es nicht mehr wahr.«
Koloniale (Alp-)Träume
Der nördliche Gazastreifen ist das Gebiet, das derzeit am stärksten von der jüngsten israelischen Offensive betroffen ist, rund 400.000 Menschen halten sich hier auf. Der israelische Brigadegeneral Itzik Cohen schien Anfang November die wahren Absichten Israels im Norden der Enklave zu enthüllen, als er in einer Pressekonferenz behauptete, dass das Militär der »vollständigen Evakuierung« von Dschabalija, Beit Hanun und Beit Lahija näher komme. Hier werde ein »gesäuberter Raum« geschaffen, und es bestehe »keine Absicht«, den Bewohnern die Rückkehr in ihre Häuser zu gestatten. Das israelische Militär distanzierte sich schnell von diesen Äußerungen. Ein Sprecher versicherte, sie seien aus dem Zusammenhang gerissen worden und spiegelten nicht »die Ziele und Werte« der Armee wider.
Seagal ist dennoch zuversichtlich: »Wir hoffen, dass die Regierung uns zunächst in den Norden lässt«, sagt sie, während sie damit beschäftigt ist, einige Stühle, die im Lager verstreut sind, um den Tisch herum zu schieben. Aber das ist nicht das Endziel für sie und den Rest der Siedlerbewegung, denn Seagal erwartet, dass die jüdische Präsenz schließlich auf den gesamten Streifen ausgeweitet wird. »Später, wenn wir mehr Territorium gewonnen haben, wollen wir weiter nach Süden ziehen.«
Und die Palästinenser? »Wenn sie in Frieden zusammenleben wollen, dann können wir das tun«, argumentiert Seagal. Ihre Idee ist es, dass jüdische Siedlungen mit palästinensischen Städten und Dörfern koexistieren, ähnlich wie im Westjordanland oder im Gazastreifen vor 2005. Aber wenn das nicht möglich ist, schließt sie eine Vertreibung der Palästinenser aus dem Gazastreifen nicht aus. »Ansonsten können sie gehen. Sie können nach Spanien, Frankreich oder in die Niederlande gehen«, fügt sie hinzu.
Diese Position ist der von extremistischen Politikern nicht unähnlich. Ben-Gvir spricht sich seit Monaten dafür aus, die »freiwillige Auswanderung« der Palästinenser aus dem Streifen als »korrekte, gerechte, moralische und humane Lösung« des Konflikts zu fördern. Smotrich hat sich ebenfalls für diesen Ansatz ausgesprochen und in einem Interview behauptet, dass, »wenn es 100.000 oder 200.000 Araber in Gaza gibt und nicht zwei Millionen, der ganze Diskurs über den ›Tag danach‹ anders aussehen wird«.
Einige Mitglieder der Siedlerbewegung gehen sogar noch weiter: Die langjährige Anführerin Daniella Weiss forderte Mitte Oktober während einer nationalistischen Konferenz nahe der Grenze die vollständige Auslöschung der Enklave. Infolge des Angriffs vom 7. Oktober hätten die Palästinenser »ihr Recht« verloren, im Gazastreifen zu leben, behauptet sie. »Sie werden nicht hier bleiben, sie werden in andere Länder gehen, wir werden die Welt davon überzeugen«, versprach sie und fügte hinzu, dass sie durch Israelis ersetzt werden würden. »Die Juden werden nach Gaza gehen, und die Araber werden aus Gaza verschwinden.« An der Veranstaltung nahmen sowohl Ben-Gvir und Smotrich als auch andere hochrangige Minister und mehrere Likud-Mitglieder teil.
Es war bereits die dritte große Konferenz in diesem Jahr, auf der für die Rückkehr des jüdischen Volkes in den Gazastreifen geworben wurde. Sie wurde von Hunderten von Menschen besucht, darunter auch einige der Siedleraktivisten aus dem Lager nahe der Grenze. »Es war erstaunlich, so viele Menschen mit dem gleichen Ziel zusammen zu sehen«, sagt Seagal. Obwohl jüdische Ultranationalisten gerne zu solchen Konferenzen kommen, sei es schwierig, sie zu halten. Seagal und die anderen haben versucht, Israelis anzulocken, damit das Lager wächst, und haben Festveranstaltungen mit Musik und Aktivitäten für Kinder organisiert. »Ihr hättet letzte Woche hier sein sollen, da haben wir zu Dutzenden gesungen, gegessen und uns amüsiert«, sagt sie. Denoch seien die meisten Familien nur ein paar Nächte geblieben, räumt sie ein.
Doch die Unterstützung hat auch andere Formen angenommen. Seagal zeigt auf die vielen verschiedenen Möbel, aus denen das Lager besteht, und erklärt, dass die meisten davon von Menschen aus dem ganzen Land gespendet wurden. »Sie haben uns auch Lebensmittel und Geld gespendet«, fügt sie hinzu. Bis vor kurzem hing oben an der Eisenbahnbrücke ein großes Transparent, das den Zweck des Lagers erklärte. Als sie es sahen, »hielten jeden Tag viele Leute an« und zeigten ihre Unterstützung. »Als wir noch im Wald schliefen, war es zwar sehr schön, aber niemand konnte uns sehen«, erklärt Seagal. »Dieser Weg ist besser.«
Die Bewegung hat so die Aufmerksamkeit von Politikern des rechten Flügels auf sich gezogen. »Wir hatten Mitglieder der Knesset, die zu uns gekommen sind, um mit uns zu sprechen«, sagt sie mit einem Anflug von Stolz. »Sie haben gesagt, dass wir ihnen Hoffnung geben.« Als Beispiel nennt sie den Besuch der ultrarechten Abgeordneten Limor Son Har-Melech. In den vergangenen Monaten hat sie für Schlagzeilen gesorgt, weil sie Justizbeamte, die israelische Soldaten wegen krimineller Handlungen im Gazastreifen strafrechtlich verfolgen, als »niedrigste Verräter« bezeichnete und behauptete, der Streifen sei »seit jeher Eigentum unserer Vorfahren, und wir werden nicht ruhen, bis wir ihn wieder besiedeln«.
Nationalistischer Vorposten
Ein paar Stunden später, nachdem die Sonne untergegangen ist, trifft Seagals Ehemann im Lager ein und wird vom Rest seiner Familie begeistert begrüßt. Amos Azaria ist Professor für Informatik an der Universität von Ariel, der größten jüdischen Siedlung im Westjordanland, einer richtigen Stadt im Herzen des palästinensischen Gebiets. Er ist auch derjenige, der für die Organisation und Förderung der Unterstützung der Lagerbewegung verantwortlich ist. Bevor die Familie beschloss, ganz an die Grenze zu ziehen, lebte sie in Ariel. Jetzt haben sie das Ziel, sich dauerhaft im Gazastreifen niederzulassen.
Amos begründet die Argumente für das Lager. »Die Idee war zu zeigen, dass wir eine Siedlung halten können und bereit sind, so schnell wie möglich einzuziehen«, erklärt er. Ende Februar war bereits eine Gruppe ultranationalistischer Israelis in den Gazastreifen eingedrungen, hatte den Militärkontrollpunkt ungehindert passiert und einen symbolischen Außenposten errichtet, bevor sie von der Armee wieder vertrieben wurde. Er hofft, dass sich ein ähnliches Experiment in Zukunft wiederholen lässt, nur dass die Siedler dieses Mal nicht vertrieben werden.
Die jüdische Präsenz im Gazastreifen begann 1970, als nach der Besetzung des Gebiets durch Israel nach dem Sechstagekrieg die ersten Siedlungen gebaut wurden. Im Laufe der nächsten Jahrzehnte wuchs die Zahl dieser zivilen Gemeinschaften, bis sie rund 8.500 Siedler beherbergten. Alle 21 Siedlungen wurden 2005 von der Armee im Zuge eines einseitigen Rückzugs aus der Region zwangsevakuiert. Ein Großteil der israelischen Rechts- und Siedlerbewegung ist der Ansicht, dass diese Entscheidung ein strategischer Fehler war, der es der Hamas ermöglichte, an die Macht zu gelangen.
Das sehen auch Amos und Seagal so. Einer der Hauptgründe, warum sie die Wiederansiedlung im Gazastreifen unterstützen, ist »die Erhöhung unserer Sicherheit«. Aber es sei auch eine Strafe für die Palästinenser als Reaktion auf den Angriff vom 7. Oktober, denn »sie müssen einen Preis für ihre Taten zahlen«. Und dann ist da natürlich noch die messianische Ansicht, dass der Gazastreifen Teil des historischen Israels ist. »Es ist unser Land aus der Bibel«, behauptet Seagal. »Wir würden unsere Kinder nicht weggeben, warum sollten wir also unser Land weggeben?«
Es gibt Tausende von Menschen, die wie sie denken. In einem kürzlich geführten Interview erklärte Siedlerführerin Weiss, dass ihre Bewegung inzwischen von über 700 Familien unterstützt wird, die wie Seagal von einem Umzug in die Enklave träumen. Sie gestand auch, dass sie vor kurzem die Grenze zum nördlichen Gazastreifen überquert habe, um mögliche Standorte für künftige jüdische Gemeinden auszukundschaften. Es würden Vorbereitungen getroffen, versprach sie, auch wenn die Bewegung »noch ein paar Schritte von Immobilien entfernt« sei.
Einige Wohnungsbaugesellschaften reiben sich jedoch bereits die Hände über diese Aussicht. Im Dezember vergangenen Jahres veröffentlichte die Firma Harey Zahav, die sich auf den Bau von Siedlungen im Westjordanland spezialisiert hat, in den sozialen Netzwerken ein Bild eines zerstörten Gebiets im Gazastreifen in der Nähe des Mittelmeers, das von Skizzen neuer Häuser für Israelis überlagert wurde. In der Anzeige wurde hinzugefügt: »Wacht auf, ein Strandhaus ist kein Traum.« Auch Soldaten, die im Gazastreifen stationiert sind, preisen den Bau von Siedlungen aus den zerstörten Eingängen zerstörter Gebäude in Videos an.
Der Bau von Häusern wird einige Zeit in Anspruch nehmen, und bis dahin müssen die Siedler möglicherweise unter schlechten Bedingungen leben. In der Tat dient der lange Aufenthalt in dem ungemütlichen Lager gerade dazu, sie auf diese Härten vorzubereiten. Sie haben weder Wasser noch Strom, müssen sich mit dem Lärm der Autobahn abfinden und haben kaum Privatsphäre. »Das Leben ist jetzt schon schwierig, und wir wissen, dass es noch schwieriger sein wird, wenn wir auf der anderen Seite der Grenze sind«, sagt Seagal. »Wir werden das alles ertragen, bis wir es zu unserem Zuhause machen.«
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Christel H. aus Aschersleben (7. Dezember 2024 um 17:56 Uhr)Man könnte verzweifeln, ob solcher Ansichten und Vorstellungen. Was geht in den Köpfen dieser Israelis vor? Dass sie Empathie für die vertriebenen Palästinenser empfinden, kann man wohl ausschließen. Die Politik Netanjahus und seiner Spießgesellen fällt bei der israelischen Bevölkerung offenbar auf fruchtbaren Boden und zeitigt schlimmste Auswüchse.
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