Die Stadt, die es nicht gibt
Von Norman PhilippenDie 80er Jahre, da kann man sich, mit Rainald Grebe gesprochen, noch so oft die Milch aufschäumen oder einen Dreierpasch würfeln, sind vorbei. In Prenzlauer Berg wie in Hongkong. Die großen Tage der Kinowelt auch. Wenn auch »City of Darkness: Walled in« (Originaltitel: »Twilight of the Warriors: Walled in«) der erfolgreichste je in Hongkong gemachte Film ist, so sieht es nicht danach aus, als würde der Hongkong-Film als solcher wieder ans glorreiche Gestern anschließen können. Dort wie hier und überall siegt der vermeintlich individuelle Filmkonsum über das Kollektiverlebnis Kino, sind die Besucherzahlen der Filmtheater stetig rückläufig. Wenn ein Film 1,6 von zirka 7,3 Millionen Hongkongern ins Kino zieht, muss es dafür zugkräftige Argumente geben.
Als Erklärung kann durchgehen, dass die Verfilmung der Graphic Novel »Twilight of the Warriors: Walled in« nach zwanzig Jahren Hin und Her tatsächlich realisiert werden konnte. Die wahnwitzigen, von einer exzellent geführten Kamera eingefangenen Kampfchoreographien Kenji Tanigakis oder das digital animierte, detailstrotzende Setting sind unbedingt Gründe. Nicht zuletzt wohl auch die bestens bediente Sehnsucht nach einem verlorenen Kosmos, in dem ein erfolgreicher kollektiver Kampf gegen den »Kult der Individualisierung« (Émile Durkheim) und die allseits grassierende, atomisierende Abschottung in den egoistischen Privatismus noch möglich(er) schien.
Es ist die sagenumwobene Kowloon Walled City, der bis 1993 abgeräumte Hongkonger Stadtteil, dem Erfolgsregisseur Soi Cheangs (»Dog Bite Dog«, »Limbo«) Hommage noch mehr zu gelten scheint als der Blütezeit des Hongkong-Actiongenres. Der Ort hatte einst die höchste Bevölkerungsdichte der Welt: 33.000 Menschen auf einer Fläche von knapp 2,7 Hektar (das wären 1,3 Millionen Menschen auf einem Quadratkilometer). Dieser Mikrokosmos wildwüchsiger Verschachtelung heruntergekommener Hochhäuser ist mehr als nur ein Refugium für Dropouts der Hongkonger Mehrheitsgesellschaft, in dem Kriminalität, Prostitution und Gesetzlosigkeit fröhliche Urständ feiern, sondern auch ein Ort starker sozialer Bindungen gemäß dem Motto »Hilfst du anderen, helfen sie dir«. Dafür sorgt der Friseur- und Kung-Fu-Meister Tornado (Louis Koo) mit seinen Mannen, die zwar allesamt Kriminelle sind – wie er selbst, aber bei Bedarf herzlich hilfreich sein können. Ganz im Gegenteil zu den von Mr. Big (Sammo Hung) angeführten Triaden, die die Stadt außerhalb der Walled City beherrschen.
So zunächst auch der vom chinesischen Festland geflohene Herumtreiber und Einzelkämpfer Chan Lok Kwan (Raymond Lam), der von den Triaden um einen gefälschten Pass betrogen wird und ihnen deswegen statt Geld aus Versehen eine Großpackung Kokain klaut. Als er auf der Flucht in Kowloon landet und mit seinem Egoismus das dortige soziale Gefüge zu stören droht, nimmt Tornado ihn rasch unter seine Fittiche, besorgt ihm Jobs und Unterkunft und gibt Mr. Big zu verstehen, dass Chan unter seiner Obhut steht. Da die böse Bande nicht nur Tornados Ziehsohn tot sehen, sondern sich auch gleich ganz Kowloon zwecks lukrativen Weiterverkaufs des Baugrundstücks unter die Nägel reißen will, scheint der Showdown so unvermeidlich wie der bereits angekündigte Abriss der Walled City.
Dass der finale Kampf weder von den Gesetzen der Physik noch irgendeinem Gedanken an Realismus beschränkt wird und sogar – wie im Genre nicht unüblich – übernatürliche Elemente aufbietet, schadet dem Sehvergnügen nicht.
So erfolgreich wie zu Hause in Hongkong wird »City of Darkness: Walled in« hierzulande nicht laufen. Schon zur Rettung des Kollektiverlebnisses Kino aber lohnt sich der Erwerb eines Tickets. Und wem wegen bereits zu fortgeschrittener Individualisierung der schleichende Kinotod schnuppe ist, denke einfach ans eigene Vergnügen und sehe sich die vermutlich beste, in jedem Fall bombastischste Filmadaption eines Comics des Jahres trotzdem an.
»City of Darkness: Walled in«, Regie: Soi Cheang, China 2024, 126 Min., bereits angelaufen
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