Eins, zwei, drei, viele Marx?
Von Klaus MüllerIn diesen Tagen erscheint im Kasseler Mangroven-Verlag der Band von Klaus Müller »Steile Pfade, lichte Höhen – die Mühen der Erkenntnis. Marxistische Wirtschaftstheorie im 21. Jahrhundert«. Der Autor widmet das Buch seinen Lehrern und Förderern Eugen Faude (†), Hans Knop, Günter Fabiunke (†) und Peter Thal in Verehrung und Dankbarkeit. Wir veröffentlichen daraus einen leicht bearbeiteten Auszug aus dem ersten Kapitel. (jW)
Im Juni 2013, vier Jahre nach der Finanz- und Wirtschaftskrise, 23 Jahre nach dem Fiasko eines gesellschaftlichen Experiments im Weltmaßstab, dessen Akteure sich auf die Lehren von Marx und Engels beriefen, erfahren das »Kommunistische Manifest« und der erste Band des »Kapitals« von ungeahnter Seite eine überraschende Würdigung. Die UNESCO erklärt sie zum Weltkulturerbe, übernimmt die zwei großen Publikationen des 19. Jahrhunderts in das Register »Gedächtnis der Welt«, stellt sie damit in eine Reihe mit Goethes literarischem Nachlass, der Gutenberg-Bibel, Beethovens 9. Sinfonie, den Märchen der Brüder Grimm, dem Briefwechsel Gottfried W. Leibniz› und dem Nibelungenlied. Mit gutem Grund: Beide Texte hatten großen Einfluss auf die revolutionären Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts und können in nahezu allen Sprachen der Welt gelesen werden. Vor einem paradoxen Hintergrund – einem Mix aus Ablehnung, Diffamierung, Beschweigen einerseits und weltweiter Resonanz, Respekt, Ehrung andererseits – ist die Zeit gekommen für eine neue Bestandsaufnahme marxistischen ökonomischen Denkens.
Seit der Aufnahme in das Weltkulturerbe sind mehr als zehn Jahre vergangen. Das ist Anlass, zu fragen, in welcher Verfassung sich die marxistische Wirtschaftstheorie befindet und welche Rolle »Das Kapital« im wissenschaftlichen Diskurs spielt. Eine Präzisierung des anspruchsvollen Untertitels »Marxistische Wirtschaftstheorie im 21. Jahrhundert« ist nötig. Das vorliegende Buch spart die marxistische Diskussion aktueller gesellschaftlicher und ökonomischer Fragen weitgehend aus. Probleme wie Klima, Energie, Umwelt, Globalisierung, Inflation, Krisen, Einkommens- und Vermögensverteilung, Wirtschaftspolitik, Wege zum Postkapitalismus und dessen Alternativen usw. sind nicht Gegenstand der Untersuchung. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob Marx’ ökonomische Theorien in der Gegenwart gültig sind und sie helfen, den aktuellen Kapitalismus trotz seiner Veränderungen zu verstehen.
Keine Einigkeit
Vor 50 Jahren ging Ernest Mandel in einem umfangreichen Werk der Frage nach, was mit der Marxschen politischen Ökonomie seit dem Erscheinen des »Kapitals« geschehen ist.¹ Die Frage stellt sich heute, über 30 Jahre nach der Auflösung des sozialistischen Weltsystems, erneut. Die Zerrissenheit der marxistischen politischen Ökonomie ist unübersehbar. Sie begann früh. Marx selbst hat vor den Mühen der Erkenntnis gewarnt: »Es gibt keinen Königsweg für die Wissenschaft, und nur jene haben das Glück, auf ihre leuchtenden Gipfel zu gelangen, die nicht fürchten, beim Erklimmen ihrer steilen Pfade zu ermüden.«² Die drei Bände von Karl Marx’ »Das Kapital« enthalten die beste wissenschaftliche Darstellung der kapitalistischen Ökonomie. Ihre Lektüre ist unverzichtbar, um zu verstehen, was hinter den Kulissen des real existierenden Kapitalismus des 21. Jahrhunderts geschieht. Die Erwartungen dürfen nicht zu hoch angesetzt werden. Zwar sahen Marx und Engels als Folge der kapitalistischen Verhältnisse eine Revolution der Unterdrückten voraus. Sie wollten dazu beitragen, dass die Menschen das Stadium ihrer »Vorgeschichte« überwinden und alle Verhältnisse umwerfen, in denen sie erniedrigt, geknechtet und entwürdigt werden. Das ist eine Aufgabe, die angesichts von Profitgier, Wachstumswahn, Unterdrückung, Hunger, der Verschwendung von Ressourcen, irreparablen ökologischen Schäden, Kriegen, Gewalt, Rassismus und weltweiten Flüchtlingsströmen heute so aktuell ist wie vor 200 Jahren. Marx bleibt aktuell, weil seine Gedanken auf eine Welt zielen, wie sie werden kann.
Doch unter marxistischen Ökonomen besteht keine Einigkeit. Für den Inhalt der Bände trifft zu, was über Marx’ Gesamtwerk gesagt werden kann: Es ist zum Spielball für alle erdenklichen Deutungen geworden. Der Chemnitzer Künstler Osmar Osten hat den Karl-Marx-Kopf zu einer Kugel stilisiert, zum Spielball der Marx-Interpreten.³ Man gewinnt den Eindruck, als befänden sich die marxistischen Ökonomen weit weg von jenen glanzvollen Höhen, die Marx erklommen hatte, gefangen in Schluchten, ohne den Weg zu finden aus dem dunklen Labyrinth der Gedanken zu den hellen Gipfeln der Erkenntnis. Sie behindern sich auf den an Abgründen entlangführenden Pfaden, statt sich gegenseitig zu unterstützen beim mühevollen Aufstieg.
Marx beschäftigt sich im ersten Kapitel von Band 1 des »Kapitals« mit der Ware, ihrem Doppelcharakter (Gebrauchswert und Wert), dem Doppelcharakter der in der Ware dargestellten Arbeit, den Wertformen und dem Fetischcharakter der Ware. Im zweiten Kapitel behandelt er den Austauschprozess und im dritten Kapitel erläutert er die Geldfunktionen und das Geldumlaufgesetz. Im ersten Abschnitt des Buches legt er mit der Wert- und Geldtheorie die entscheidenden theoretischen Grundlagen seiner Politischen Ökonomie. Der französische Marxist Louis Althusser meint, die Grundlegung der Politischen Ökonomie sei überflüssig und könnte ohne Folgen übergangen werden. Er nennt den ersten Abschnitt des »Kapitals« schrecklich und empfiehlt, die seiner Meinung nach schlimmen, schwierigen und unnötigen ersten drei Kapitel zu überspringen und gleich mit der Lektüre des vierten über die Verwandlung von Geld in Kapital zu beginnen.⁴
Aber wie soll man verstehen, was Kapital ist, wenn man nicht weiß, was Geld ist? Und wie soll man begreifen, was Geld ist, wenn man es nicht genetisch-historisch verknüpft mit dem Wert und dem Austausch der Waren? Althussers Lesart des Marxschen Werkes ist der Beginn, das Historische daraus zu verbannen, Marx’ Ausführungen nur strukturalistisch zu deuten und auf das Statisch-Logische zu reduzieren, das seine eigenen genetischen Wurzeln ausblendet; sie ist ein »theoretischer Verrat« (Thomas Metscher), den später die »Neue Marx-Lektüre« wiederholen wird. Der »strukturelle Marxismus« Althussers verfehlt das Ziel einer »Erneuerung«, er läuft, so Werner Seppmann auf eine »Entkernung« des Marxismus, auf die »Entsorgung seiner konstitutiven Elemente« hinaus, ist vor allem »eine Demontage seines praxistheoretischen Fundaments, die Negation einer materialistischen Dialektik und die Beschädigung seiner antikapitalistischen Artikulationsfähigkeit«.⁵
Orthodoxie außen vor
Der Kampf um die Deutungshoheit über das »Kapital« ist im vollen Gange. Unter dem Titel »Ein, zwei, viele Marx« gab die Zeitschrift Oxi einen Überblick über marxistische Denkschulen, ohne die »Orthodoxie« zu erwähnen.⁶ Die Redakteure übersahen absichtsvoll die anders, die traditionell Denkenden in Ost und West. Arroganz und Ignoranz sind die billigsten Methoden, mit denen umzugehen, deren Meinungen man nicht teilt. Marxistische Wirtschaftstheorie ist nicht verschwunden, doch heftig angeschlagen. Trotz Würdigung und dem Bemühen, sie weiterzuentwickeln, wird sie selbst von Marxisten und Möchtegern-Marxisten regelmäßig für tot erklärt.⁷ Zwar gibt es brillante Einführungen in Marx’ »Kapital«. Bedeutsam ist noch immer die von Karl Kautsky geschriebene, von Friedrich Engels durchgesehen und gebilligt. Erstmals im Jahre 1887 veröffentlicht, erlebte sie mehrere Auflagen und wurde in viele Sprachen übersetzt. Ebenso vortrefflich sind die Darlegungen von Wolfgang Fritz Haug. Holger Wendt hat einen gelungenen »Einstieg für Neugierige« vorgelegt.⁸ »Eine Einführung in die Kritik der politischen Ökonomie à la Michael Heinrich als Einführung in die Kapitallektüre« nennt Michael R. Krätke dagegen einen schlechten Witz, »selbst dann, wenn sich die Sache gut verkauft«⁹ und einiges, was Heinrich sagt, richtig ist. Heinrich opfere die Dialektik der Logik. Dessen »Einführung« geriete so »zur Entführung aus dem Marxismus«.¹⁰
Nach wie vor gibt es (scheinbar) ungelöste oder umstrittene Probleme, wie das der »Transformation« von Werten in Produktionspreise – der »Dauerbrenner«, den einige aber inzwischen für geklärt halten. Zum Beispiel Michael Krätke, der anderes im Marxschen Werk als ungelöst bezeichnet, so die einfache quantitative Wertbestimmung, das Reduktionsproblem, das heißt die Reduktion komplizierter Arbeit auf einfache Arbeit, die »paradoxe Kategorie des Marktwerts«, die Kritik falscher Geldtheorien, das Handelskapital und »Konstruktionsfehler« der Grundrententheorie. Was immer man davon halten mag – mir scheint einiges von dem, was Krätke bemängelt, durchaus gelöst –, fest steht, dass marxistische Ökonomen im 21. Jahrhundert um ihr Selbstverständnis ringen. Die einen biedern sich der herrschenden Lehre an, hoffen auf wohlgefällige Aufnahme in honorige Kreise, fordern, Marx hinter sich zu lassen und über ihn hinauszugehen. Andere versuchen, die Theorie durch eine rettende Kritik zu verbessern, Irrtümer zu korrigieren und Fehler zu tilgen. »Dogmatiker« klammern sich an die orthodoxen Auslegungen und verteidigen sie verbissen.
Die marxistische Wirtschaftstheorie und ihre Vertreter befinden sich im Krisenmodus: Mehrere miteinander rivalisierende Arten sind im Umlauf, das »Kapital«, Marx’ unvollendet gebliebenes Opus magnum, zu interpretieren. Da sind zum einen die »orthodoxen Traditionstheoretiker« im Dunstkreis der Marxistischen Blätter, zu denen sich der Autor zählt, zum anderen die »Neue Marxlektüre« (Helmut Reichelt, Hans-Georg Backhaus, Michael Heinrich, Ingo Elbe und andere), denen mit wenig Mühe Fehldeutungen der Marxschen Texte nachgewiesen werden können. Der Kreis der Herausgeber des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus (HKWM) und das Institut für kritische Theorie um Wolfgang Fritz Haug scheinen einen »pluralistischen Marxismus« zu favorisieren, beabsichtigen, die Marxsche Theorie, wo nötig, zu kritisieren und weiterzuentwickeln. »Nicht nur macht die historische Erfahrung marxistischen Denkens die Anstrengung und den Schmerz des Negativen in Gestalt rücksichtsloser Kritik zur Überlebensbedingung (…), sondern ebenso verlangen die Probleme der Gegenwart und der sich ankündigenden Zukunft die Weiterentwicklung der Theorie.«¹¹
Veraltet und unterkomplex?
Die Autoren der Gruppe »Exit!« Robert Kurz (†), Anselm Jappe, Roswitha Scholz, Claus Peter Ortlieb und andere behaupten, der Begriffsapparat des Marxismus sei »hoffnungslos veraltet«; sie distanzieren sich vom traditionellen »Arbeiterbewegungsmarxismus«, wollen die ökonomischen Kategorien abstrakte Arbeit, Ware, Wert, Geld und Markt einer radikalen Kritik unterziehen, oft aus mathematisch-naturwissenschaftlicher Sicht, und werfen dem Traditionsmarxismus vor, diese Kategorien nutzen statt überwinden zu wollen. Es käme darauf an, sie »zu historisieren und damit ihre Überwindung überhaupt erst denkbar zu machen«. Wie auch die von ihnen vertretene Wert(abspaltungs)kritik¹² laufen Kritik und Anspruch ins Leere, denn Kritik und Überwindung der Warenproduktion sind im Marxschen Werk und im »Traditionsmarxismus« angelegt. Auch sie setzen auf eine Zukunft ohne Ware, Wert und Geld. Indem »Exit!«-Autoren mit dem Kapitalismus auch die Marxsche Theorie entsorgen wollen, schießen sie über das Ziel hinaus. Die Konzepte über Prosumer, Commons, also sich selbst versorgende Gemeinschaften, weisen vielleicht über den Kapitalismus hinaus, bestätigten obendrein das dialektische Gesetz von der Negation der Negation, der Wiederherstellung ursprünglicher Verhältnisse auf höherer Ebene. Doch es ist eine Illusion, zu erwarten, dass die Märkte, Ware und Geld in absehbarer Zeit verschwinden werden.¹³ Und es ist keineswegs gesagt, dass sie verschwinden müssen. Kann es nicht eine Marktwirtschaft ohne kapitalistische Profitlogik geben? Eine Marktwirtschaft, die, wie junge Welt-Autor Stefan Siegert schreibt, »ihre Dynamik demokratisch in den Dienst der Interessen jener übergroßen Mehrheit der Bevölkerung (stellt), die in allem seit Jahrhunderten global leer ausging«?¹⁴
Die Theorie weiterzuentwickeln, sie dem Neuen anzupassen, erfordert zunächst zu prüfen und zu benennen, was an ihr wert ist, bewahrt zu werden. Zugleich ist Vorsicht geboten und zu vermeiden, Marx und Engels popularisierende Vereinfachungen, Verzerrungen und Ambivalenzen zu unterstellen, wo diese nicht vorhanden sind, nur um eigene, eigenwillige Interpretationen scheinbar zu rechtfertigen.
Die europäische Marx-Renaissance ist eine der bemerkenswerten kulturellen Erscheinungen der neueren Zeit. Bücher mit hohem Anspruch erscheinen: »Über Marx hinaus«, »Auf den Schultern von Marx«. Ihre Verfasser wollen Defizite der bisherigen Rezeptionsgeschichte aufzeigen und Fehler bloßlegen, die Marx unterlaufen wären. Sie wollen die Begrenztheit und immanenten Widersprüche seiner Theorien begründen. Sie wollen auf den Schultern von Marx weiter sehen als er. Derartige Intentionen müssen möglich sein. Geraten aber ist, solche offenen Versuche kritisch zu begleiten, zumal ihre Initiatoren gegen Fehlinterpretationen nicht immun sind und zum Teil fragwürdige Urteile abgeben. Behauptet wird, »das Marxsche Œuvre« sei »nur sehr bedingt – oder vielleicht überhaupt nicht – geeignet, die ungeheure Komplexität der globalen Arbeitsverhältnisse auf den Begriff zu bringen«.¹⁵ Ist die Resignation angebracht? Sollte die Arbeitswerttheorie entsorgt werden, wodurch – geschähe es – das gesamte Marxsche politökonomische Theoriesystem in sich zusammenfiele? Die Fragen verweisen auf eine paradoxe Lage: Mit dem Aufwind, den die Marxschen ökonomischen Theorien erleben, mehren sich zugleich Bestrebungen, sie als überholt abzutun und ihnen allenfalls einen gehobenen Platz im Museum des ökonomischen Denkens zuzuweisen.
Marx’ werttheoretische Intentionen seien bis heute unverstanden geblieben, sagt Hans-Georg Backhaus.¹⁶ Von wem? Als Selbstkritik akzeptiere ich die Aussage. Bezieht sie sich, was angenommen werden kann, auf die Traditionsmarxisten, widerspreche ich dezidiert. Ein krasses Fehlurteil! Doch es gibt sie: den unlogischen Gebrauch der Begriffe, das tatsächlich oder nur vermeintlich Ungelöste im Marxschen Original, sich widersprechende Deutungen der Marxschen Lehre durch Marxisten. Dieter Wolf und Michael R. Krätke hatten sich unabhängig voneinander vor Jahren vorgenommen, die weißen Flecken aufzuarbeiten. Doch die über Jahre hinweg von ihren Verlagen angekündigten Bücher sind leider bis heute nicht erschienen. Die Gründe sind mir nicht bekannt.
Ich werde mich in diesem Buch einigen der scheinbar oder tatsächlich ungelösten Probleme der Marxschen ökonomischen Theorie zuwenden. Ziel ist es, Unaufgearbeitetes aufzugreifen und die Diskussion fortzusetzen. Mein Anspruch ist es nicht, fix und fertige Lösungen zu präsentieren. Im Mittelpunkt stehen kontroverse Interpretationen ausgewählter Themen der drei Kapital-Bände, wie man sie unter marxistischen Ökonomen findet, nicht die bürgerliche Marx-Kritik. Die Irritationen beginnen bei der Frage, welcher Methoden der Forschung und Darstellung sich Marx im »Kapital« bedient. Ausschließlich eine logische oder logisch-systematische Methode – so die Autoren der »Neuen Marx-Lektüre«, aber auch Dieter Wolf, der sich von ersteren distanziert und ihnen eine Verstümmelung des »Kapitals« vorwirft.¹⁷
Offene Fragen
Logische Methoden gebe es nicht, so andere. Das »Kapital« beruhe auf der Anwendung der historischen Methode oder einer logisch-historischen Methode. Auch die Auffassung wird nicht von allen geteilt. Richtig sei, so Wolfgang Fritz Haug, dass Marx die dialektische Methode anwende. Kein Wunder bei solchem Durcheinander, dass die Kontrahenten sich missverstehen. So betont Wolf, dass Haug sowohl die logische als auch die historische Methode verwerfe,¹⁸ während Backhaus Haug einen konsequenten Vertreter der »logisch-historischen« Methode nennt.¹⁹
Weitere Fragen, über die keine Einigung erzielt wird: Geht es im ersten Abschnitt des ersten Bandes des »Kapitals« um die einfache oder um die kapitalistische Warenproduktion? Hat Marx den Begriff der abstrakten Arbeit widerspruchsfrei begründet? Gibt es, wie Marx schreibt, »individuelle« Werte? Entsteht der Wert erst im Austausch? Was ist die Relativität der Zeit? Wie ist der Zusammenhang zwischen »individuellem«, »gesellschaftlichem« Wert, Marktwert und Marktpreis? Bestimmt der Wert den Preis oder der Preis den Wert? Kann man die Wertgröße bestimmen, die Verausgabung der abstrakten Arbeit und des Wertes messen? Welche Bedeutung besitzt der Kompliziertheitsgrad der Arbeit für die Wertgröße? Gibt es einen Wert außerhalb der Warenproduktion? Widerspiegeln die Abschreibungen die Minderungen des Gebrauchswerts? Wirkt das Wertgesetz, wenn es ständig verletzt wird, weil im Normalfall die Preise vom Wert abweichen? Was war zuerst da: der Wert oder das Geld? Ist die Wertformanalyse ein ausschließlich logisch-theoretisches Konstrukt oder eine empirisch-logisch relevante Darstellung der Geldgenese? Muss das Geld eine Ware sein? Wie misst das Geld den Wert? Ist Geld gleich Kredit? Ist der Profit arbeitswerttheoretisch begründeter Mehrwert oder Preisaufschlag? Risiko und Produktionsmittel – Quellen des Profits? Woher kommt das Geld für den Mehrwert? Passen Ausbeutung und Tauschgerechtigkeit zusammen? Wie ändert sich der Wert der Ware Arbeitskraft und wie hängt er zusammen mit Reallohn und Profit? Wie kann es im Handel und anderen Dienstleistungen Ausbeutung geben, wenn dort kein Mehrwert produziert wird? Ist das Transformationsproblem, die Umrechnung der Werte in Produktionspreise, gelöst? Gibt es ein Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate? Was ist der Unterschied zwischen der Organischen und der Wertzusammensetzung des Kapitals? Wie beeinflusst die Kapitalzusammensetzung die Profitrate? Enthält die Marxsche Grundrententheorie einen »Konstruktionsfehler«? Was wird aus der absoluten Rente, wenn die organische Zusammensetzung des Kapitals in der Landwirtschaft, der extraktiven Industrie und im Bauwesen steigt? Sind Aktien und Wertpapiere tatsächlich fiktives Kapital? Kann sich die kapitalistische Wirtschaft gleichgewichtig entwickeln? Bedarf es dazu externer Voraussetzungen (der »nichtkapitalistischen Räume« Rosa Luxemburgs)? Heben Monopole das Wertgesetz auf? Wie hängen monopolistische Marktpreise und monopolistischer Wert zusammen? Was sind die Quellen des Monopolprofits? Warum tauchen in der marxistischen Wirtschaftstheorie keine Oligopole auf? Fragen über Fragen, über die sich weiter zu diskutieren lohnt.
Anmerkungen:
1 Ernest Mandel: Marxistische Wirtschaftstheorie, Frankfurt/M. 1970
2 Zit. n. Thomas Kuczynski (Hg.): Karl Marx, Das Kapital, Erster Band, Neue Textausgabe (NTA), Hamburg 2017, S. 13; vgl. auch Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 23, S. 31
3 Matthias Zwarg: Die Welt im Rückwärtsgang, Freie Presse, 20.7.2024, S. 9
4 Louis Althusser et al.: Das Kapital lesen, Münster 2015, S. 663
5 Werner Seppmann: Das Elend der Philosophie. Über Louis Althusser, Kassel 2019, S. 11
6 Oxi 5/2018, S. 18–19
7 Michael R. Krätke: Kritik der politischen Ökonomie, Hamburg 2017, S. 91
8 Holger Wendt: Politische Ökonomie, Ein Einstieg für Neugierige, Essen 2021
9 Krätke (wie Anm. 7), S. 78
10 Wolfgang Fritz Haug: Zur Kritik monetaristischer Kapital-Lektüre. Teil II: Logik und Praxis bei Heinrich, Das Argument 46 (2004), Nr. 258, H. 6, S. 865 f.
11 Wolfgang Fritz Haug: Marktwert. In: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Band 8/II, Hamburg 2015, S. I
12 Die Vertreter der These von einer Wertabspaltung behaupten, Marx habe die häusliche, vor allem weibliche »Reproduktionsarbeit« von der Wertproduktion abgetrennt. Sie werde bei ihm unentgeltlich geleistet. Richtig fordern sie deren Einbeziehung in die Wertbestimmung, übersehen dabei jedoch, dass Marx das längst getan hat.
13 Jürgen Leibiger: Eigentum im 21. Jahrhundert. Metamorphosen, Transformationen, Revolutionen, Münster 2022, S. 312
14 Stefan Siegert: In der langen Reihe der Zukunft, junge Welt, 23./24.7.2022, Beilage, S. 5
15 Marcel van der Linden; Karl-Heinz Roth: Über Marx hinaus, 2. Aufl., Hamburg 2011, S. 24
16 Hans-Georg Backhaus: Dialektik der Wertform, Untersuchungen zur marxschen Ökonomiekritik, 3. Aufl., Freiburg/Wien 2018, S. 16
17 Dieter Wolf: Zur Methode in Marx’ Kapital unter besonderer Berücksichtigung ihres logisch-systematischen Charakters. Zum »Methodenstreit« zwischen Wolfgang Fritz Haug und Michael Heinrich. In: Ingo Elbe, Tobias Reichardt, Dieter Wolf: Gesellschaftliche Praxis und ihre wissenschaftliche Darstellung, Beiträge zur Kapital-Diskussion, Hamburg 2008, S. 66
18 Ebd.
19 Backhaus: Dialektik der Wertform (wie Anm. 16), S. 169
Klaus Müller: Steile Pfade, lichte Höhen – die Mühen der Erkenntnis. Marxistische Wirtschaftstheorie im 21. Jahrhundert. Kassel: Mangroven-Verlag 2024, 462 Seiten, 25 Euro
Klaus Müller schrieb an dieser Stelle zuletzt am 8. August 2024 über die verschiedenen Gestalten der Ausbeutung
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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
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Eine methodentheoretische Spezifik bei Marx ist seine Unterscheidung von Forschungs- und Darstellungsmethode, auch hier wieder in Anknüpfung an Kant und Hegel. Auf dem Wege der Forschung gilt es, nach dem inneren Zusammenhang, dem roten Faden auf der Ebene des Wesens, nicht in den sinnlichen Erscheinungen zu suchen. Er verfolgt den klassischen methodentheoretischen Ansatz über Wesen und Erscheinung. Wenn dann auf dem Wege der Forschung der rote Faden der wirklichen Zusammenhänge gefunden wurde, kann dieser auch entsprechend dargestellt werden. Dabei ist die »Darstellungsmethode« ein durchaus eigenständiges, methodentheoretisches Vorgehen.
So behauptet Müller, Althusser habe die Grundlagen seiner Politischen Ökonomie, die Marx in den ersten drei Kapiteln des Kapitals legt, als schrecklich und überflüssig erklärt, die daher ohne Verlust zu überspringen wären. Mit dieser Behauptung begründen Seppmann, Metscher und Müllern ihr vernichtendes Urteil, der strukturale Marxismus Althussers begehe »theoretischen Verrat« an Marx, entkerne den Marxismus, entsorge seine konstitutiven Elemente und beschädige seine antikapitalistische Artikulationsfähigkeit.
Liest man bei Atlhusser nach, stellt man fest, dass der Vorschlag, die ersten drei Kapitel zunächst zu überspringen, eine Leseempfehlung für theoretisch ungeschulte Leser darstellt. Althusser fürchtet, dass diese von der Abstraktion in den ersten Kapiteln, in denen Marx seine Grundbegriffe einführt, abgeschreckt werden könnten. Er schlägt vor, die einleitenden Kapitel erst nach dem Lesen der leichter zugänglichen folgenden Kapitel nachzuholen. Marx selbst war mit seiner Darstellung in den Anfangskapiteln nicht zufrieden, wie sein Briefwechsel mit Engels zeigt, und hat sie daher für die verschiedenen Auflagen des Kapitals immer wieder umgeschrieben. Die Rezeptionsgeschichte des Kapitals ist voller Belege dafür, welche Schwierigkeiten die Werttheorie der ersten Kapitel bereiten kann. Die »Neue Marxlektüre«, die seit Jahrzehnten fast vollständig in den ersten Kapiteln festhängt, ist nur ein aktuelles Beispiel dafür.
Althusser forderte auf, das gesamte Kapital zu lesen, es sorgfältig zu studieren, auch die ersten Kapitel. Er meinte, sowohl Theoretiker als auch Proletarier könnten das Kapital erst verstehen, wenn sie es mindestens fünf bis sechs Mal gelesen hätten, alle drei Bände und auch die Theorien über den Mehrwert.
Auch Seppmann, Metscher und Müller sollten erst lesen, ehe sie urteilen.