Solschenizyn
Von Helmut HögeAls Mitte der siebziger Jahre Alexander Solschenizyns Hauptwerk »Der Archipel Gulag« auf deutsch erschien, wurde er sogleich von der Springerstiefelpresse vereinnahmt, die ja schon immer gewusst hatte, dass die Kommunisten allesamt Verbrecher sind.
Für uns Linke, die 1967/68 den Höhepunkt der antiautoritären Studentenbewegung und in den siebziger Jahren dann ihren Zerfall in unterschiedliche Gruppen und Kollektive erlebten, waren Solschenizyns Bücher damit tabu. Nichtsdestotrotz schenkten alle möglichen westdeutschen Eltern ihren studentischen Kindern die drei Bände des »Archipel Gulag«. Diese sollten damit von ihrer Neigung zum Kommunismus geheilt werden. Aber so einfach ging das nicht. Erst als in den achtziger Jahren der »stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse« wirkte, freundeten sich die Linken langsam mit der »sozialen Marktwirtschaft« an und sogar mit der elenden »Plusmacherei«.
1987 meinte der Bewegungshistoriker Hans-Dieter Heilmann, der 1962 in den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) eingetreten war: »So ist das eben – damals waren wir zu zwölft. Und heute sind wir wieder zwölf.« 1989 fingen wir beide in einer LPG als Rinderpfleger in der Vormast an. Nach den Märzwahlen 1990 kauften wir wie blöd und für fast nichts DDR-Bücher aus den abgewickelten Betrieben, deren Bibliotheken aufgelöst wurden.
Ein ebenfalls abgewickelter Leipziger Philosoph eröffnete zusammen mit seinem Freund ein Antiquariat in Kreuzberg, wo ich oft hinging. Der Laden lief gut: »Wir können unseren Frauen damit das Studium finanzieren«, meinte er in den Neunzigern. Zwanzig Jahre später klagte er: »Niemand kauft mehr Bücher. Inzwischen müssen unsere Frauen uns finanzieren.«
In den Neunzigern eröffneten viele Antiquariate, und ich sichtete ihre Bücherbestände. Dabei fiel mir auf, dass überall reihenweise Solschenizyns »Gulag«-Bände standen – alle ungelesen. Das waren die elterlichen Belehrungsgeschenke für ihre linken Söhne und Töchter gewesen, die diese in ihre Bücherregale gestellt und nie angerührt hatten. Ich kaufte mir für ein paar Mark die drei Bände – und war begeistert von diesem Autor und seiner Ironie, mit der er die Schrecken der Arbeitslager schilderte. Der Humor lässt sich fallen, bis auf das Schwarze unter dem Fingernagel, die Ironie erhebt sich und ist subversiv. Daraufhin las ich auch noch die anderen Bücher von Solschenizyn – sie kosteten alle nichts.
1963 hatte er in seiner Erzählung »Matrjonas Hof« den Anfang mit einer neuen, nicht mehr heroisch-sozialistischen »Dorfliteratur« gemacht, im Jahr darauf wurde er dafür für den Leninpreis vorgeschlagen. Schon in seinem zuvor veröffentlichten Lagerbericht »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch« war es ihm darum gegangen, dass man gute handwerkliche Arbeit leisten sollte – auch und gerade unter den widrigsten Umständen. Ein weiterer Lagerbericht handelte dann von einer dreiköpfigen Brigade in einem kleinen Gulag-Luxuslager bei Moskau, die an einer abhörsicheren Telefonanlage für Stalin arbeitete. Sie bestand aus dem Mathematiker Solschenizyn, dem Sprachwissenschaftler Lew Kopelew und dem Ingenieur Dimitri Panin. Solschenizyn hat ihre intellektuelle Zwangsarbeit in seinem Buch »Der erste Kreis der Hölle« beschrieben, Kopelew in »Aufbewahren für alle Zeit!« und Panin in den »Notebooks of Sologdin«. Aus seinem altrussischen Arbeitsbegriff folgte für Solschenizyn später: »Es geht nicht darum, immer mehr zu verdienen, sondern immer weniger zum Leben zu brauchen.«
Nachdem Solschenizyn 1970 den Nobelpreis für Literatur bekommen hatte, geriet ein Jahr später sogar sein auf viele Bände angelegtes »Rotes Rad« über den Ersten Weltkrieg und die Revolution auf die Spiegel-Bestsellerliste. Auch die ersten drei dieser Bände las ich mit Begeisterung. Nach dem Ende von Sowjetunion und DDR, stellte der Verlag leider die Übersetzung des vierten Bandes ein. Und Solschenizyn gab die Arbeit am »Roten Rad« angeblich »aus Altersgründen« auf.
Wegen des im Ausland veröffentlichten »Archipel Gulag« war er 1974 ausgewiesen worden. Zunächst nahm ihn bekanntlich Heinrich Böll auf. Über mehrere Stationen ließ er sich schließlich in Vermont nieder. 1994 kehrte er nach Russland zurück. Ab seinem Aufenthalt in den USA wurden seine Reden und Schriften immer reaktionärer und nationalistischer. 1995 bekam er ein eigenes Fernsehmagazin, das jedoch wegen schwindender Popularität bald wieder eingestellt wurde. 1999 übte er zu meiner Freude Kritik am NATO-Krieg gegen Jugoslawien: »Unter den Augen der Menschheit ist man dabei, ein großartiges europäisches Land zu zerstören, und die zivilisierten Regierungen applaudieren.« Solschenizyn traf sich mehrmals mit Putin, und nach seinem Tod 2008 suchte seine zweite Frau die Nähe des Präsidenten. Der Moskauer Verlag Wremja bringt derzeit das Gesamtwerk Solschenizyns heraus.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Norbert L. aus Marseille (9. Dezember 2024 um 21:57 Uhr)Interessanter Kommentar zu Solschenizyn. Der »Iwan Denisowitsch« war das einzige seiner Bücher, das ich komplett gelesen habe (Anfang der 1970er Jahre), und ich fand es nicht aufregender, als eine Beschreibung meiner gerade beendeten Bundeswehrzeit ausgefallen wäre. Schikanieren und Triezen von Insassen – kannte man alles schon aus eigenem Erleben. Bis auf die Temperaturen beim morgendlichen Antreten – die sind in Russland wohl doch etwas niedriger als in D’land. Ansonsten war da nicht viel neues im Osten. Wann kommt endlich mal ein interessanter Guantanamo-Roman heraus? Das wäre für die Heutigen doch aktueller und zugänglicher.
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