Tote Seelen
Von Jürgen RothEgal, ob ich vormittags, nachmittags oder abends ins Seven Bistro komme, er ist da.
Hemingway beschrieb mal, welch heiliger Moment es ist, eine beinahe leere, geputzte Bar zu betreten. Du hockst dich an die linke kurze Flanke des Tresens, orderst ein Bier und schaust. Das Schauen ist das einzige, worum es geht.
Im Hinterzimmer, exakt auf der Sichtachse, sitzt er auf einem Kunstledersessel, der Japanenser oder Chineserer, wie hingemalt nach vorne gebeugt vor einem der Spielautomaten, er hängt vor der Maschine gleich einer Rückbildung dessen, was wir den Menschen nennen, gekrümmt, das klassische Stoppmuster, graue Fransenhaare, Augenringe bis zu den Wangenknochen, er stiert, dann steht er auf, tigert schlurfend herüber zu mir, haut auf die Tasten eines anderen Glücksgeräts, blickt hektisch nach links, nach rechts, nach unten, sein Kopf zuckt unter dem Kapuzenpulli, erneut drischt er auf einen blinkenden Knopf ein, getrieben von der Sucht nach einer Erfüllung, die sich nie einstellen wird, seine Augen flackern wild und sind zugleich starr, erloschen, tot, eine, mit Adorno ungefähr zu reden, atomisierte Existenz, die nichts davon wahrnimmt, was als Welt gelten könnte, als eine Welt, deren Verlust der Fremde nicht mehr registriert.
Die Geldgesellschaft dort, wo sie ist: im Bodensatz, nein – weiter, tief unten, in der Hölle des Kapitalismus. Zwischendurch bestellt der Fernöstliche einen Kaffee und schüttet den halben Zuckerstreuer hinein, um sich zu dopen. Der verkokste, schmerztablettenbegierige Wirt hält es, da er gerade in einer Downphase ist, für eine Beleidigung, dass ich gerne einen Wodka hätte.
Fauchend schweigt dich Erbärmlichkeit an, eine Erbärmlichkeit, die der Barmherzigkeit bedarf. Notdürftige Seelen. Hoffentlich schmeißt jemand endlich die Atombombe, damit niemand mehr merkt, dass er nichts mehr merkt.
Nachher saß ich draußen, rauchte unterm Vordach eine, und es regnete ganz sanft. Mein Freund Lerd rief an und sagte, der Strobel Adam sei gestorben, mit siebenundachtzig, Lerds Lehrmeister in der Metzgerei, die dann der Neukam wurde, und es sei »gut so«, dass der kranke alte Mann gegangen sei, »des war doch zuletzt alles scheiße«.
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