Zum Vorteil des Kapitals
Von Kristian StemmlerMit Kundgebungen und Autokorsos haben Tausende Syrer in deutschen Städten am Sonntag den Sturz des syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad gefeiert. Während bei den Kundgebungen Euphorie vorherrschte, reagierte die Politik auf die Ereignisse eher zurückhaltend. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nannte den Sturz des syrischen Präsidenten eine »gute Nachricht«, erklärte aber auch, die Hoffnungen vieler Menschen auf einen Neuanfang in Syrien seien mit »Sorgen« gemischt.
Die unklare Zukunft Syriens hielt Politiker der Union nicht davon ab, über die baldige Rückkehr von syrischen Geflüchteten zu spekulieren. So erklärte der CDU-Außenpolitiker Jürgen Hardt, er rechne damit, dass sich viele Syrer für die Rückreise in ihre Heimat entscheiden werden. Dies wäre ein Gewinn für Syrien, aber auch für die deutschen Sozialkassen, sagte Hardt im ZDF-»Morgenmagazin«. Unionsfraktionsvize Andrea Lindholz (CSU) hatte zuvor in der Rheinischen Post gefordert, die weitere Aufnahme syrischer Flüchtlinge zu stoppen. Die BRD habe die »humanitären Verpflichtungen übererfüllt«, sagte sie. Unionsfraktionsvize Jens Spahn schlug im RTL/N-TV-»Frühstart« gar vor, jedem Rückkehrwilligen ein Startgeld von 1.000 Euro anzubieten und mit Charterflügen zurückzubringen.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erließ am Montag einen sofortigen Entscheidungsstopp für Asylanträge von Syrern. Die Lage in dem Land sei unübersichtlich, sagte ein Sprecher der Behörde dem Spiegel. Jede Entscheidung stünde »auf tönernen Füßen«. Betroffen sind laut der Behörde 47.270 Asylanträge von Syrern, über die noch nicht entschieden wurde, darunter rund 46.000 Erstanträge. Auf bestehende Entscheidungen hat die neue Lage vor Ort dagegen aktuell keine Auswirkungen. Derzeit leben etwa 975.000 Syrer in der BRD.
Politiker von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der Partei Die Linke warnten davor, von syrischen Geflüchteten eine baldige Rückkehr in ihre Heimat zu erwarten. Grünen-Politiker Anton Hofreiter erklärte den Funke-Medien, derartige Überlegungen seien jetzt fehl am Platz. Es sei derzeit vollkommen unklar, wie es in Syrien weitergeht. SPD-Politiker Roth warnte im Spiegel vor einer »populistischen Debatte mit dem Tenor: Jetzt müssen alle sofort wieder zurück«. Der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Nils Schmid, geht nicht davon aus, dass syrische Flüchtlinge zum jetzigen Zeitpunkt in ihr Heimatland zurückkehren können. Schmid sagte dem MDR, dazu sei die Lage dort noch viel zu zerbrechlich.
Clara Bünger, migrationspolitische Sprecherin der Linke-Gruppe im Bundestag, bezeichnete die Forderungen, wieder nach Syrien abzuschieben, als »völlig deplaziert«. Diese offenbarten nur die wahren Interessen derer, die sie erheben: »Ihnen geht es nicht um Freiheit und Gerechtigkeit für die Menschen in Syrien, sondern allein um ihren rechten Fiebertraum, Hunderttausende zu deportieren«, erklärte Bünger in einer Mitteilung vom Montag.
Dass es bei den Forderungen nach einer Rückkehr aber nicht einfach um rassistische Phantasien, sondern um ökonomische Fragen geht, deuten Äußerungen wie die von Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, das der Bundesagentur für Arbeit angeschlossen ist, an. Der Wirtschaftswissenschaftler rechnete vor, dass der Anteil der Syrer an den Gesamtbeschäftigten in fast allen Berufsgruppen bei unter einem Prozent liege. Nach Angaben der Arbeitsagentur sind in der Bundesrepublik 222.610 syrische Staatsbürger sozialversicherungspflichtig beschäftigt, dazu kommen noch rund 65.000 sogenannte Minijobber, was einer Beschäftigungsquote von 51,9 Prozent bei Männern und 18,9 Prozent bei Frauen entspricht.
Vom Standpunkt des Kapitals aus ist also ein Großteil der hier lebenden Syrer überflüssig – besonders zu einer Zeit, in der selbst in Kernbereichen der deutschen Wirtschaft massenhaft Stellen abgebaut werden. Laut Weber könnte die Bundesregierung die Rückkehr von syrischen Geflüchteten in deren Heimat sogar zu ihrem strategischen Vorteil ausnutzen, könnten diese doch zukünftig als »Ansprechpartner für deutsche Belange« in Syrien dienen.
Siehe auch
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
Ähnliche:
- 03.07.2024
Rebellion der Söldner
- 17.05.2023
Verhandlungsmasse Flüchtling
- 11.12.2020
Seehofer fischt im trüben
Regio:
Mehr aus: Inland
-
»Der Konzern fordert Sonderrechte«
vom 10.12.2024 -
Blockiert
vom 10.12.2024 -
Eine Stimme für ein Papier
vom 10.12.2024 -
»Streichplanphantasien«
vom 10.12.2024 -
Lotsversetzer erhalten Ausgleich
vom 10.12.2024 -
»Unser Protest zeigt, dass wir etwas ändern können«
vom 10.12.2024