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Aus: Ausgabe vom 10.12.2024, Seite 12 / Thema
Literaturgeschichte

Solange man Ungeheuer bekämpft

In Peter Hacks’ »Omphale« stehen Frieden und Emanzipation im Zentrum. Gemessen an den Bedingungen sozialistischer Wirklichkeit aber
Von Olaf Brühl
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»Mit jedem Keulenschlag / Erschlag ich eine Möglichkeit in mir« – Herakles und Omphale wechseln die Geschlechterrollen (Deckengemälde von 1509, Siena)

Am 9. November 2024 fand in Berlin die 17. Wissenschaftliche Peter-Hacks-Tagung statt, die sich schwerpunktmäßig mit dem Drama »Omphale« beschäftigte. Wir dokumentieren im folgenden den Vortrag »Die beiden Omphalen« von Olaf Brühl. (jW)

Die Geschichte der beiden »Omphalen« von Peter Hacks¹ beginnt in Wahrheit mit dem größten Theatererfolg der DDR-Geschichte, nämlich mit der Bearbeitung der attischen Aristophanes-Komödie »Der Frieden«, die Hacks für eine Inszenierung am Deutschen Theater Berlin vorgelegt hatte und deren umjubelte Premiere am 14. Oktober 1962 unter Regie von Benno Besson und mit Musik von Andre Asriel stattfand. In »Der Frieden« ist der Frieden in den Brunnen gefallen, und darum ist Krieg. André Müller sen., jahrzehntelang Diskussionspartner und zuverlässiger Gesinnungsgenosse von Hacks, protokolliert Anfang Juni 1995 während eines Besuches bei ihm Folgendes: »Das wichtigste Gespräch führen wir über Ulbrichts Kulturpolitik. Ich rufe in Erinnerung, auch die damalige Kulturbürokratie habe ihn, Hacks, immer nur verurteilt und verprügelt, obwohl er doch schon damals so sehr erkennbar für Ulbricht war. Hacks erwidert: ›Es stimmt schon, denn wir haben es ja beide erlebt, aber inzwischen weiß ich: Ich bekam meine Prügel zu Recht. Erinnere dich: Es gab damals, nach der Mauer, eine unter Künstlern und Wissenschaftlern weit verbreitete Meinung, der auch wir anhingen, ich jedenfalls besonders, dass nach dem Mauerbau künstlerische Freiheiten zugelassen werden müssten und dass die Partei in ideologischen Fragen großzügiger sein solle. Heute wissen wir: Das war zu dieser Zeit die Hauptgefahr, die verschärfte ideologische Auseinandersetzung mit dem Imperialismus stand auf der Tagesordnung. Der riesige Erfolg des ‚Friedens‘ beruhte aber genau darauf, dass ich in ihm ausdrückte: Jetzt können wir schwelgen, essen, saufen, lieben. Wie habe ich am Schluss gedichtet? – ‚Der Krieg ist vorbei!‘ Er war aber nicht vorbei. Deshalb bekam ich die Haue.‹«²

Recht auf Verbot

Fast drei Jahrzehnte zuvor (1969) hatte Müller nach einem Besuch bei Hacks notiert: »Er hat ein neues Stück geschrieben, ›Omphale‹, und die Bedeutung ist, man kann nicht in Ruhe der Liebe pflegen, solange man Ungeheuer bekämpfen muss. So komisch das klingt, es ist auch eine Verteidigung der Kulturpolitik unter Ulbricht. Sonst eine Komödie, aber ganz ohne Wortwitz, die Komik kommt ganz aus der Handlung. Zu den Wortwitzen meint Hacks, als wir darüber sprechen: ›Heutzutage weiß niemand mehr, was eine Komödie ist. ‚Minna‘ zum Beispiel hat überhaupt keine Wortwitze. Die gehen am ehesten in Haupt- und Staatsaktionen, wo es ernst zugeht.‹«³

Noch mal ins Gespräch von 1995, da wendet André Müller gegen Hacks’ Rechtfertigung der für den »Frieden« von Ulbrichts Kulturbürokratie ausgeteilten »Haue« ein: »Ich bin mit dieser Analyse nicht einverstanden: Jetzt übertreibst du nach der anderen Seite. Der Schluss war falsch, einverstanden. Aber in dem Stück behandelst du ausgiebig und als einen Hauptinhalt, dass vor dem Feiern die Arbeit kommt, der Frieden wird schließlich aus dem Brunnen geholt, was fast scheitert, weil die anderen fressen, saufen und feiern wollen. Soweit ich mich erinnere, bist du auch niemals für größere künstlerische Freiheiten eingetreten. Du hast dir die, die du brauchtest, genommen. Du warst – wie auch ich – für mehr Verstand im Umgang mit Kunst und Künstlern. Das war auch dann nicht falsch, wenn du es jetzt für falsch erklärst.« Als Hacksens Reaktion darauf notiert Müller: »Hacks mault.«⁴ In der Tat hatte Hacks bereits am 23. März 1968 zu André Müller gesagt: »Bisher hat die Kunstpolitik der DDR den Vorzug gehabt, eine Angelegenheit der DDR zu sein. Unsere Konflikte mit der Obrigkeit haben der Kunst nur gutgetan. Wenn sie uns nicht verboten hätten, würden wir zehn bis 15 Jahre gebraucht haben, um vernünftig zu werden. Zudem muss ein Mann wie Ulbricht das Recht haben, Kunstwerke verbieten zu lassen, die unverhüllt aussprechen, was er in der Politik gerade unternimmt. Auf Verhüllungen, die der Kunst nur zugute kommen, darf er mit Recht Wert legen.«⁵

Wir erkennen aus diesen Gesprächsaufzeichnungen, die über so lange Zeit auseinanderliegen, wie beide »Omphalen« die Fortsetzungen, genauer gesagt korrektiven Übermalungen des »Friedens« unternehmen und warum Hacks für die Weiterbehandlung des insofern selben Themas wieder auf die griechische Mythologie zurückgriff: nicht in »homerischer Blindheit«, wie Kollege Heiner Müller verblendet über die klassische Haltung höhnte, sondern von hoher Warte mit analytischem Scharfblick auf den Gang der Welt, der Hacks späterhin unleugbar bestätigen sollte.

»Gleichzeitig«, wie André Müller im Sommer 1969 bezeugt, lagen Libretto und Komödie über den notwendigen Kampf gegen das Ungeheuer vor, das die ­Existenz des Landes bedroht, im Sommer 1969, 28 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, 20 Jahre nach Gründung der Deutschen Demokratischen Republik, acht Jahre nach dem Mauerbau, ein Jahr nach Beendigung der farbkonterrevolutionären Entwicklungen in der ČSSR dank Einmarschs der Sowjetarmee. Es ist dies zu Zeiten des US-amerikanischen-Krieges in Vietnam, des Biafra-Kriegs in Nigeria, der Bürger- und Befreiungskriege in Nordirland, im Baskenland, im Nordjemen, in Namibia, in Guatemala, in Eritrea, in Kolumbien, im Tschad, zur Zeit des kommunistischen Widerstands gegen die faschistische Militärjunta in Griechenland und in der Zeit weltweiter Proteste gegen den in Vietnam tobenden Krieg: die Zeit der »68iger Bewegung«, der »antipatriarchalen« Rebellion des Westens, der »Blumenkinder«, Hippies und der »Antiautoritären« mit ihren Kommunen. Wesentlich hieran: Der US-Krieg wird später keinesfalls durch jenen die halbe Welt bewegenden Protest der Jugend und Intellektuellen beendet. Den Sieg über die imperialistischen Kolonialmächte des Westens erringen Armee- und Guerillakampf des vietnamesischen Volks, seiner kommunistischen Organisation, der Führung von General Vo Nguyen Giap, dem »roten Napoleon«, und das mit Hilfe militärischer Solidarität seitens starker realsozialistischer Staaten, insbesondere der Waffenbrüderschaft mit der Sowjetunion.

Poetische Verhüllungen

Also, wo denken wir uns die »Gärten der Omphale«, in die sich die lydische Königin Omphale anfangs des Stücks vor übermächtiger Bedrohung zurückzieht? Wo der verbannte Herakles sich aus Liebe zu ihr, und überdrüssig allen kriegerischen Heroentums, entschließt, »wie ein Weib fühlen« zu lernen – um nicht mehr nur Mann zu sein, Kampftier, sondern: ganz Mensch zu werden? Wozu er in die Frauenrolle schlüpft, Kleider trägt, sich schminkt und Wolle spinnt. Was ist im Stück Lydien? Natürlich etwas in einer mythischen Landschaft. Wo liegt die?

1967 sagte Fidel Castro in einem Interview: »Die Revolutionäre haben den bewaffneten Kampf nicht als besten Weg gewählt; es ist der Weg, den die Unterdrücker den Menschen aufgedrückt haben. Also haben die Menschen nur zwei Möglichkeiten: zu leiden oder zu kämpfen.«⁶

Herakles, der Berufsheld, vor die Wahl gestellt, wird der Geschlechter wegen nicht müßig »leiden«. Er legt das Blumenkleid ab, wie Hacks zu Siegfried Matthus, Komponist der »Omphale«, sagte, »Herakles muss Held bleiben« – und er kämpft! Das ist die Fabel. Ihren Mann in der Männerdomäne gestanden zu haben, rühmt Omphale sich, von der Jagd heimkehrend, aufgehäufter Tierleichen. Doch Herakles gesteht ihr und sich aus ernster Erkenntnis das Scheitern dieser Art voreiliger Emanzipationsmaskeraden: durch notwendige Tötungsarbeit behindert zu vollständiger Menschwerdung. »Die Bedeutung ist: Man kann nicht in Ruhe der Liebe pflegen, solange man Ungeheuer bekämpfen muss.« Genau das ist der – poetisch formulierte  – Kern von dem, was Hacks mit der Kulturpolitik Ulbrichts meinte. Veränderung der Geschlechterrollen wie der Kampf gegen die allzu vieles noch durchwirkende Barbarei gehen nicht gleichzeitig und schon gar nicht: gleich.

Aber warum dann greift Hacks überhaupt das Kleidertausch- und Geschlechterrollenmotiv auf, warum stellt er es drastisch mitten ins Rampenlicht? Genau weil der fast zu Selbstverleugnung neigende Versuch, sich dem anderen einfühlend anzugleichen, einen starken, alle Rollen sprengenden Akt der Liebe bedeutet. Diese Geste fand Hacks als inneren Bestandteil des von ihm aufgegriffenen Mythos. Genau das bot ihm Dialektik, und zwar in poetisch ernster Verkettung mit dem Kampf gegen Ungeheuer. Ein Stoff zur Veranschaulichung von epochalen Vorgängen unserer Welt, Vorgänge wie den des dramatischen Widerspruchs von Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen – und mit Macht. Auch Mythen, das liegt in ihrer Natur, sind kaum einfach »vorbei«.⁷ Der Widerspruch reisst in Herakles’ Brust auf. Sein schöner Wille zur Verganzheitlichung ist meilenweit entfernt vom Gelingen: Die hilflose Gewandung führt es vor Augen, mit umwerfender Komik. Omphale nennt Herakles »schrullig«. – Um so stärker wirkt das Motiv, indem es groß das Problem der Verantwortung trägt: Wie sollte Glück auf Dauer möglich sein inmitten des Unglücks der anderen? Liebe und Verantwortung sind verschlungen, für den anderen und für all die anderen. Wie der Begriff der Geschlechterrollen den Begriff des Liebens bedingt, bedingt dieser jenen. Doch »allmächtig wirkt im Gang des Seins das längst Erledigte«, es wirkt Überholtes in allzu vielem und besonders im Inneren weiter. Lange bedarf Veränderung praktischer Verwirklichung des nur perfekt Vorgedachten, doch erst unperfekt Versuchten. Es sei nie vergessen, wie jung die zwanzigjährige Deutsche Demokratische Republik noch war und dabei mit welch immenser politischer Energie die gewiss fortschrittlichste Gesetzgebung der Welt die Gleichberechtigung umsetzte – in gelebte Staatswirklichkeit – institutionell, wie wohl sonst?

Selbstbestimmtheit

»Das Sein bestimmt das Bewusstsein.« Dem Neuen Ökonomischen System folgten 1965 das »Gesetz über das einheitliche Bildungssystem« und das nicht minder revolutionäre »Familiengesetzbuch der DDR«.⁸ Das Scheidungsrecht war erheblich vereinfacht worden. Trennungsfristen wie in der BRD seit 1977 gab es nicht. Hingegen stand mit Absatz 2 des Paragraphen 24 eine Härteklausel in Beachtung der Kindesinteressen zur Verfügung. Die kostenlose Ausgabe von Verhütungsmitteln an sozialversicherte Mädchen und Frauen ab 16 Jahren war mit dem neuen Gesetzeswerk in der DDR legalisiert, die Mittel dafür längst allgemein frei verfügbar (keinem Pfaffen war da Einspruch eingeräumt!). Im Schwangerschaftsurlaub wurde volles Gehalt weitergezahlt und der berufliche Wiedereinstieg der Frau gesichert – nicht minder der für aus dem Strafvollzug Entlassene. Bei fast 90 Prozent Berufstätigkeit von Frauen heißt das zweifellos: Selbstbewusstsein dank materieller Unabhängigkeit! Völlig anders als noch in der BRD bestimmten somit Frauen für sich allein über Ausbildung, Arbeit, Konto, Schwangerschaft und Kleidung: heißt unabhängig von ihren Vätern, Brüdern und Ehemännern. – Wenn all das kein welthistorischer Anlass für große Dichtung ist.

Seit Juli 1968 war auch der Preußenparagraph 175 des StGB in der DDR gestrichen, damit einvernehmliche homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen nicht mehr strafbar. Hilde Benjamin, die erste deutsche Justizministerin der Geschichte, hatte sich seit den fünfziger Jahren dafür engagiert. Die jeher stets religiös-tradierten Bilder von Geschlechterrollen kamen mit alledem doch in ziemliche Turbulenzen, und für sehr viele waren in ihren anerzogenen Auffassungen von Privatleben und Familie solcherart – historisch gesehen – Quantensprünge des jungen progressiven Staates kaum einholbar. Nicht alle gehören dem Heldengeschlecht an. Doch hatte der sozialistische Staat die Geschlechterverhältnisse zur Emanzipation wohleingerichtet.⁹ Von derartigen Innovationen des Rechts, von all den in ihnen verbrieften modernen Freiheiten, konnten die Menschen im sogenannten freien Westen der Welt zur selben Zeit bestenfalls träumen – oder darum beten. Größtenteils müssen sie das bekanntlich noch heute, obwohl bessergestellte Frauen mittlerweile nicht überall mehr so ganz unmündig wie Kinder behandelt werden. Jedoch ist die Zeit nunmehr vorbei, als der Geist sozialistischer Staatsgesetzgebung wie ein Gespenst des Kommunismus sogar in bürgerlichen Parlamenten, zumindest in Europas Westen, den Bourgeois das Fürchten lehrte. Seit über drei Jahrzehnten dürfen Frauen auch wieder im Osten – und machtlos – gegen den Paragraphen 218 auf Straßen und Plätzen demonstrieren. Hacks dichtete »Omphale« am Ende einer kurzen Aufschwungsära im sozialistischen Deutschland. Woanders war das nicht möglich und so zu keiner anderen Zeit.

Der Konflikt zwischen Imperialismus und Sozialismus, den Hacks vor der universell und, wie drastisch vorgespielt wird, alles durchdringenden Frage nach den Geschlechterrollen vorführt, dieser Konflikt, der diese Frage bedingt, ist eben der alles entscheidende Konflikt, in dem Hacks geboren wurde und wirkte, der Konflikt, der 1968/69 einen Höhepunkt erreichte, um mit den daraus folgenden katastrophalen Entwicklungen in Europa zum Umschlag der Dinge 1989/90 zu führen. Jetzt, fast hundert Jahre nach der Machtübergabe an die Faschisten in Deutschland, rast dieser Konflikt einer verschärften Phase entgegen, der Konflikt, in dem wir noch immer leben, der uns vor Entscheidungen stellt, und das sind bald gewiss nicht solche der Kleiderwahl. Liebe hat da ganz schlechte Voraussetzungen für ihre Vergesellschaftung. Der Krieg ist ganz und gar nicht »vorbei«.¹⁰

Das Mögliche ist noch nicht da

Als Realist schreibt uns Peter Hacks nicht eine Welt in den Mythos, wie er sie sich wünscht, sie sich seiner edlen Denkungsart nach vollkommener zu begeben habe. Wir finden nicht unsere Träume als beruhigend Erfülltes zu schön vorgegaukelt. Es geht genauer, ernster zu. Was möglich ist, ist noch nicht da und eben nie sofort in einem Nu. Aber möglich ist das so nur eben Mögliche: Bloß das Unmögliche ist nichts, außer gefährlich. Die Welt ist doch veränderbar, Utopie bleibt nötig. Die Komödie feiert das Leben. Hacks, in der Lage, wie sie ist, macht uns nicht den Klampfensänger am Lagerfeuer idyllischer Linksfolklore. Der Weltgeist liegt im Gefecht. Barbarei oder Sozialismus.

Indem anfangs die Diskussion über Ulbrichts Kulturpolitik den Bezug zur letzten Szene der »Frieden«-Komödie erinnerte, war der Bogen zur »O­mphale«-Komödie zu schlagen. Jetzt, dünkt mich, sehen wir diesen Bogen klar. Anders als im »Frieden«, mit dem nach Hacks’ Einsicht übereilten Siegeslied »Die Oliven gedeihen, der Krieg ist vorbei …«, wird in »Omphale« das Friedensmotiv der Oliven zwar wortwörtlich vom Dichter wieder aufgegriffen, doch die dort besungene »Blüte« einer ungefährdeten Gemeinschaft zum Hoffnungsmotiv bevorstehender Mühen ins Offene, mithin Bedrohte, gehoben. Das Friedenssymbol Olivenbaum wird jetzt zum Bild des Sozialismus. Beide »Omphalen« sind die Richtigstellung von »Der Frieden«. Der Griff nach dem Mythos »Herakles« ist alles andere als klassizistische Caprice eines Schöngeistes: Den Weg in eine sozialistische Friedenswelt zu ebnen, bedarf es herkuleischer Kräfte von mythischer Ausdauer, um nicht zu sagen: Langmut (wie Ulbricht historisch anmahnte). Die erstaunliche Schlussrede entwirft in der Komödie eine Art Aufbauprogramm für die Zukunft des Sozialismus (»Durch unsern Dienst und seine Allgeduld / Du Wurzeln fassen mögst«) mit all den zu gewärtigenden Problemen: »Von Bedürfnis / Aus unbescholtner Einfalt abgerissen, / Muß er zu schlechten Zwecken sich verkleinern, / Bis einst, nach aller Übel Unterricht, / Dem bös und fruchtbarn Teil der reif und edle / In ihm gemeinte Baum entwächst und wieder / Wird, was er, bevor ers nicht war, war.«

Damit beschließt der siegreiche Held, während alle anderen ihm zu folgen versuchen, die Komödie. In der Oper hingegen stimmt die Gemeinschaft aller einen Hymnus auf die nun gemeinsam zu leistende Arbeit an. Es führt nicht der Heros allein das Schlusswort. Vielmehr singt das Ensemble aller einen Wunsch und einen Schwur, mit dem die nun von allen mehr zu leistende Arbeit erfasst ist: das mit »Beschwerde« erst zu Erringende. Die Form, der Gesang des Ensembles bei vollem Orchester, ist damit an und für sich bereits Aussage, Substanz. Das ist stärker als in der Komödie, wo Hacks das Chorelement, das sich ihm aus dem antiken Theater schier aufdrängte, mit dem Monolog übergeht.

Omphale stimmt den Schlussgesang an, »Schlag Wurzeln, Ölbaum, breite deinen Schatten«, nachdem, schier die Übermalung von »Waffen zu Pflugscharen«, Herakles seine Kampfkeule in die Erde rammte: »Spross der Olive, mordendes Gerät, / Blutiger Schößling, mildem Stamm entsprossen, / Dich pflanz ich in den alten Boden hin.« Verheißung künftigen Lebens. Dann übernimmt die Gemeinschaft aller den Hymnus, sich selbst aktivierend, quasi die Ärmel hochkrempelnd. Genregemäß kollektiver in der Oper als in der Komödie zeigt sich somit dieser Ausklang ins Offene: »Schlag Wurzeln, Ölbaum, breite deinen Schatten, / Der Sonne Übermaß birg in deinem Laub, / bis schöne Gärten wir und grüne Matten / Entschwellen sehn dem neu belebten Staub. / Wachse mit unserm Wuchs, nehmend und gebend, / Uns immer dienend, immer widerstrebend. / Es schaff der Irdischen Lust und Beschwerde / Eine geheure Erde.«¹¹

Würde dieses Land nicht un-, sondern geheuer sein und über wenigstens einen vernunftbegabten Generalintendanten in einem seiner noch existenten Mehrspartentheater verfügen, so verfügte dieser, die Komödie »Omphale« von Peter Hacks wie die Oper »Omphale« von Siegfried Matthus in seinem Haus zu spielen. Aber wie Hacks mahnte, ein Land, dessen Theater auch keinen Voltaire auf dem Spielplan führt, hat kein Theater. Es zeigt einmal mehr, wie recht er behält. Nichts ist vorbei, schon gar nicht der Krieg. Der Frieden der Welt jedoch ist, wie »Luxus«, mit Hacks zu reden, »etwas, das nur im Sozialismus erhältlich ist«.¹²

Anmerkungen:

1 Uraufführung der Komödie: 1970, Städtische Bühnen Frankfurt/M. (Regie: Dieter Reible), DDR-Erstaufführung: 1971, Berliner Ensemble (Regie: Ruth Berghaus). Oper von Siegfried Matthus: 1976, Nationaltheater Weimar (Regie: Ehrhard Warneke / Dirigent: Lothar Sayfarth), Neufassung: 1979, Oper Köln (Regie: Michael Hampe / Dirigent: Hans Wallat)

2 André Müller sen.: Gespräche mit Hacks. Berlin 2008, S. 371

3 Ebd., S.43 – »Minna« ist »Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück«, Lustspiel in fünf Aufzügen von Gotthold Ephraim Lessing (1767)

4 Ebd., S. 371 f.

5 Ebd., S. 29, Fußnote 2: »In seinem Stück ›Die Sorgen und die Macht‹ (1959/62) hatte Peter Hacks Probleme sozialistischer Produktion dargestellt und als Lösung einige Elemente des Neuen Ökonomischen Systems vorweggenommen, das erst 1963, auf dem VI. Parteitag der SED, offen proklamiert wurde. Da diese Reform innerhalb der Partei umstritten war, formierte sich nicht nur vonseiten ihrer Gegner Widerstand gegen die Inszenierung des Stücks, sondern auch von seiten ihrer Befürworter. Es konnte nicht in Ulbrichts Interesse liegen, seine Gegner, bevor er den neuen Kurs durchgesetzt hatte, alarmiert zu sehen.«

6 https://www.theleftchapter.com/post/daily-lift-1051

7 Vgl. Alain Herman, »›Im Anfang war die Welt poetisch.‹ – Zur ›Arbeit am Mythos‹ in Peter Hacks’ olympischen Komödien ›Amphitryon‹ und ›Omphale‹«, Wiltz 2012, S. 18: »Mythische Archetypen, Symbole und Metaphern durchfließen die gesamte abendländische Literatur seit dem Mittelalter, völlig unabhängig von ihrer ideologischen Färbung. Dieser Prozess vollzieht sich unbewusst oder, wie bei Hacks, bewusst. Trifft Letzteres zu, so (…) müsste der Mythos (…) nicht als ›offenes Kunstwerk‹, als unendliche Geschichte verstanden werden? (…): ›Der dauernde Wert einer Mythe hängt (eben – A. H.) nicht ab von ihrer ursprünglichen Bedeutung‹.« – Auch: Robert Weimann: Literaturwissenschaft und Mythologie. In: Phantasie und Nachahmung. Drei Studien zum Verhältnis von Dichtung, Utopie und Mythos, Halle (Saale) 1970, S. 91 ff.

8 Das »Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem der DDR« vom 25. Februar 1965 trat sofort in Kraft. Das »Familiengesetzbuch der DDR« vom 20. Dezember 1965 trat am 1. April 1966 in Kraft.

9 Marx und Engels zitieren (1845 und 1880) Charles Fourier: »Die Veränderung einer geschichtlichen Epoche lässt sich immer aus dem Verhältnis des Fortschritts der Frauen zur Freiheit bestimmen (…). Der Grad der weiblichen Emanzipation ist das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation.«

10 Auf die Frage, ob seine Stücke auf der Philosophie von Lenin und Marx beruhten, antwortete im Oktober 1947 Bertolt Brecht vor dem »Komitee für unamerikanische Umtriebe« in New York: »Ich musste als Stückeschreiber, der historische Stücke schrieb, natürlich Marxens Ideen über Geschichte studieren; ich glaube nicht, dass man heute ohne ein solches Studium intelligente Stücke schreiben kann.«

11 Wie Marx und Engels in der »Deutschen Ideologie« (1845–47) formulierten: »Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung.« (MEW 3, 35).

12 Hacks’ Schlussrede der Akademiegespräche am 7. Mai 1990. In: Thomas Keck / Jens Mehrle (Hg.): Berlinische Dramaturgie. Band 4, Berlin 2010, S. 416

Olaf Brühl ist Regisseur und Autor.

Nähere Informationen zu Tagung finden sich unter: https://www.peter-hacks-gesellschaft.de

In der Reihe »Kommentierte Werke in Einzelausgaben« von Peter Hacks ist jüngst der Band »Omphale« (hg. v. Marie Hewelt und Ruben Luckardt) erschienen. Ebenfalls druckfrisch erschienen ist das »Hacks Jahrbuch 2024. Hacks und die DDR seit 1971« (hg. v. Kai Köhler).

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