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Aus: Ausgabe vom 12.12.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Wie lebt man im Raumschiff?

Zum Vorlesen,Zuhören und selber Schmökern: Neuerscheinungen für die lieben Kleinen
Von Irmtraud Gutschke
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Kann man im Kosmos lesen? Frage für einen Freund

»Du musst für Kinder genauso schreiben wie für Erwachsene, bloß besser!« – Maxim Gorki

Kinderliteratur wird von Erwachsenen verfasst, vertrieben, gekauft. Von Erwachsenen, für die das Buch etwas Besonderes ist. Das meint nicht nur Lesekompetenz, die man auch fürs Internet braucht, sondern Bildung im umfassenden Sinne, die zu wenig gesellschaftliche Wertschätzung erfährt. Verarmung und Verdummung: Denken in Zusammenhängen bedarf der Übung. »Meine Kinder haben es nicht so mit Büchern«, bekam ich erst kürzlich zu hören. Gewiss doch, wenn man sie vor dem Fernseher parkt, sind sie zufrieden. Gegen die Bannkraft schnell wechselnder Bilder haben es Bücher schwer. Aber gerade durch sie kann sich eine reiche Sprache und damit ein differenziertes Denken entwickeln. Geradezu magisch ist die Nähe, die beim Vorlesen entsteht.

Wie von selbst gelingt das in Verbindung mit Musik. Bereits zehn Bände umfasst die Reihe »Mein kleines Klangbuch« aus dem Annette-Betz-Verlag: Wohlklänge von Bach bis Vivaldi. Man staunt, wie geschickt schon Ein- bis Zweijährige den Seiten per Knopfdruck Töne entlocken. Knappe Texte und Illustrationen fordern die Phantasie. Der neu erschienene Band »Der Nussknacker« von Peter Tschaikowski lässt mich zur Märchenerzählerin werden.

Magie der Sprache: Schließlich ist Literatur, wie wir sie kennen, aus dem Mündlichen entstanden. Diese Faszination können wir beim Vorlesen zurückholen. So wie die fahrenden Sänger einst auf Bezauberung aus gewesen sind. »Alles ist im Wort«, hat Tschingis Aitmatow immer wieder zu mir gesagt. Als Sohn gebildeter kommunistischer Eltern erlebte er bei seinen Verwandten im Gebirgsort Scheker eine archaische Welt. »Sie konnten nicht lesen und schreiben, aber sie waren weise …«

Nicht der erste und nicht der letzte Schriftsteller war er, der durch die Großmutter zum Erzählen kam. Drei Geschichten für seine Kinder hat er seinem Übersetzer Friedrich Hitzer anvertraut. »Akbara und andere Märchen«: Edel wirkt die Ausgabe aus dem Unionsverlag, gebunden in farbig bedrucktes Leinen. Lesealter? Von fünf bis unendlich.

Kinder werden vom Märchenhaften gepackt sein. Erwachsene dürften manch bekanntes Motiv wie auch das spezifisch Kirgisische genießen. Mit um so größerem Gewinn, wenn sie Aitmatows Romane kennen. Akbara hieß ja die blauäugige Wölfin im Roman »Die Richtstatt«. Hier ist es die schöne, kluge Tochter eines Khans, in Liebe einem armen Sänger verbunden. Wie perfide, dass der Großkhan gerade ihn zum Brautwerber macht. Akbara will nicht die vierte Frau des grausamen Herrschers werden. Sie treibt ihr Pferd durch den Balchaschsee. Und als der einstige Liebhaber vor ihr auf die Knie sinkt, verwandelt sie sich in eine Wölfin. Wie sich Frauen immer wieder wehren mussten und was es mit derlei Legenden auf sich hat – darüber will ich mit meiner Enkelin beim Vorlesen sprechen.

»Das Glück der drei armen Mädchen« erinnert an »Hänsel und Gretel«, aber Böses wird hier mit Gutem vergolten. Die Kinder bringen den Eltern eine Schafherde, geschenkt von einer Äffin, die in einer Jurte wohnt. So witzig erlebte man Aitmatow sonst kaum. In der dritten Geschichte, »Das Äffchen mit der Schultasche«, lässt er sogar seine Kinder mitspielen. Köstlich, wie er sie zum Englischlernen überredet.

Gorkis Zitat zur Kinderliteratur wird er gekannt haben. Tatsächlich bewahrheitet es sich immer wieder – gerade was Sachbücher für Kinder betrifft, die Erwachsenen vor Augen führen, was sie alles noch nicht wussten. Über das Universum, die Erde, das Leben in der Urzeit, die Tiere, den menschlichen Körper, Chemie, Physik, Geschichte. »Wissen. Das große Lexikon in spektakulären Bildern« für Kinder ab sieben ist schon seit Jahren ein Bestseller und wurde jetzt aktualisiert.

Wie lebt man im Raumschiff? Was hat es mit dem Magnetfeld der Erde auf sich? Wodurch wird das Klima bestimmt? Was sind tektonische Platten? Wetter und Wasserkreislauf, Höhlen, Gletscher, Ozeane, Meeresboden … Wie gerne habe ich als Kind in Lexika geblättert. Aber so ein schönes wie dieses gab es damals nicht. Da muss ich mich zurücknehmen, sonst lese ich vor Weihnachten kein anderes Buch mehr. »Wäre es nicht großartig, wenn sich ein Kratzer im Autolack selbst repariert?« Selbstheilende Materialien gibt es wirklich. Weltgeschichte auf nicht mal hundert Seiten. Was für eine Herausforderung, dermaßen präzise zu formulieren! Schon für das britische Original gab es ein großes Lektoren- und Mitarbeiterteam. Für die deutsche Ausgabe kamen weitere Spezialisten hinzu. Der dicke Band ist tatsächlich ein Wunderwerk, was Inhalt und Gestaltung betrifft. Texte und Bilder ergänzen einander. Schwierige Sachverhalte werden durch 3-D-Illustrationen anschaulich.

Aber erst einmal sind es nur Wissensbausteine, die in Zusammenhang gebracht werden müssen. Und diese Fähigkeit, komplex zu denken, wird gerade durch Erzählen und Lesen trainiert. So lernen schon Kinder, Bezüge herzustellen und sich in andere hineinzuversetzen. Ob Märchen oder Welterklärung – Bücher sind Grundnahrungsmittel und Genussartikel zugleich.

Mein kleines Klangbuch. Der Nussknacker. Illustrationen Delphine Renon. Annette-Betz-Verlag, Berlin 2024, ab 18 Monate, 14 Seiten, 12,95 Euro

Tschingis Aitmatow: Akbara und andere Märchen. Aufgezeichnet und aus dem Russischen von Friedrich Hitzer. Unionsverlag, Zürich 2024, 80 Seiten, 16 Euro

Wissen. Das große Lexikon in spektakulären Bildern. Aus dem Englischen von Martin Kliche. Dorling Kindersley, München 2024, ab 7 Jahre, 360 Seiten, 26,95 Euro

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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

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