Wohnen macht arm
Von Niki UhlmannGlaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast, besagt ein Sprichwort. Für die amtliche Armutsstatistik gilt das in jedem Fall. »Wer nur Einkommen betrachtet, nicht aber, dass Menschen immer weniger Geld zur Verfügung haben, weil sie hohe Wohnkosten aufbringen müssen, übersieht das Ausmaß von Armut in Deutschland«, heißt es in einer am Freitag veröffentlichten Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Der Verband hat Daten des Statistischen Bundesamts kritisch unter die Lupe genommen.
Als arm gilt, wer weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens zur Verfügung hat. Da Miete einer Schutzgeldzahlung für ein Dach über dem Kopf gleicht, bestimmt darüber der Vermieter, so wie der Energielieferant über die Nebenkosten und der Gläubiger über den Zins. Das Einkommen allein, so die Forschungsgruppe, gibt längst nicht mehr Auskunft über den Lebensstandard. Nach Abzug von Miete, Nebenkosten, Kreditzinsen und anderem bliebe mehr als 17,5 Millionen Menschen bloß noch ein verfügbares Einkommen im Armutsbereich. Tatsächlich leben in der BRD demnach 5,4 Millionen mehr Menschen unter der Armutsgrenze als bislang angenommen. Nicht 14,4 Prozent wie amtlich verkündet, sondern 21,2 Prozent der Deutschen seien von Armut betroffen. Kurzum: Jeder fünfte muss darben.
»Wohnarmut« nennt das der Paritätische. Dass viele ein Drittel ihres Einkommens für Miete blechen, ist hinlänglich bekannt, dass, wie die Studie zeigt, fast ein Drittel aller Mieter arm ist, war es bisher nicht. Im Durchschnitt aller Einkommen geht ein Viertel für die Miete drauf, bei Armutsbetroffenen hingegen ganze 46 Prozent, also fast die Hälfte – Tendenz steigend. Die Autoren rechnen vor, dass ein Umzug arm machen kann. Eine Rentnerin mit einer Standardrente von 1.770 Euro, die dank altem Mietvertrag nur 450 Euro Miete zahle, würde arm, wenn sie altersbedingt in eine barrierefreie Wohnung umziehen und doppelt so viel Miete zahlen müsste. Eine Eigenbedarfskündigung, ein neuer Beruf, das Wunschstudium oder das Verlassen des Elternhauses – alles Umzugsgründe – sind Armutsrisiken geworden.
Betroffen sind allen voran Erwerbslose (61 Prozent), Alleinerziehende (36 Prozent), junge Erwachsene (31 Prozent) und Menschen ab 65 (27 Prozent). Auch Bürgergeld, Sozialhilfe und Grundsicherung »schützen nicht vor Armut«, heißt es in der Studie. Freuen dürfen sich nur die Eigentümer. Von ihnen sind mit 13,3 Prozent unterdurchschnittlich wenige wohnarm. Die Misere hat System. Der Paritätische macht Vorschläge, sozialpolitische und, interessanter, wohnungspolitische. Es brauche einen Mietendeckel und mehr Schutz vor Wohnraumverlust, rechtssichere und geförderte Wohngemeinnützigkeit, eine »Entfristung von Sozialbindungen«, ein effektives kommunales Vorkaufsrecht und allgemein mehr öffentlichen Wohnungsbau. Da inzwischen auch die soziale Infrastruktur bedroht sei, müsse zudem der Milieuschutz ausgeweitet und ein Gewerbemietspiegel entwickelt werden. »Eine Begrenzung von Profiten durch Vermietungen« soll her.
Wo die Reise sonst hingeht, ist in deutschen Metropolen bereits absehbar: lange Straßenzüge voller unbezahlbarer Yuppiecafés und noch längere Schlangen vor der Tafel. Der Tafel-Dachverband meldete parallel zum Paritätischen, dass 60 Prozent der Ausgabestellen aufgrund hohen Andrangs rationieren müssen. Eine ungezügelte Immobilienwirtschaft bedeutet noch mehr Armut und noch weniger Versorgung.
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