Chiffren des Gangstaraps
Von Thomas SalterIn Compton, an der Rosecrans Avenue Ecke North McDivitt, wurde am 8. September ein riesiges Wandgemälde des Rappers Kendrick Lamar mit schwarzer Farbe beschmiert. Dieser Akt des Vandalismus dürfte den internationalen Superstar besonders getroffen haben, und zwar aus mehreren Gründen: Lamar selbst wurde gerade mal acht Autominuten entfernt in der West 137th Street geboren; er – da ist er freilich nicht der einzige – sieht sich als rechtmäßiger Thronerbe der musikalischen Tradition Comptons, einem Vorort von Los Angeles, der mit NWA und Dr. Dre Ende der 80er, Anfang der 90er als Heimat des Gangstarap weltberühmt wurde. Außerdem sind solche mit Airbrushtechnik gefertigten Wandgemälde – Englisch: murals – normalerweise künstlerische Darstellungsformen, die oft einen gewissen Schutz genießen: Straßengangs sparen sich ihre Insignien, die Namen rivalisierender Banden werden hier nicht durchgestrichen (to wack out).
Der erste Track von Lamars sechstem Album »GNX« hat auch gleich den passenden Titel: »Wacced Out Murals«. Ein düsterer, karger Beat, über den Lamar das zerstörte Wandgemälde zum Anlass nimmt, um seinen Beef mit einem prominenten kanadischen Rapper fortzuführen – natürlich ohne ihn durch direkte Namensnennung zu ehren. Diese Streiterei wurde schon im Laufe des Jahres 2024 auf zahlreichen Disstracks beidseitig ausgetragen. Einigen Feuilletons deutscher Zeitungen, deren Namen hier auch nicht genannt werden müssen, war der Streit manche Zeile wert.
Interessanter als die persönlichen Disse, die Lamar gewohnt geschickt und vielschichtig verpackt, ist die auf dem gesamten Album zu bewundernde Poesie und stimmliche Vielseitigkeit seiner Raps. Etwa »Reincarnated«, wo Lamar in rasantem Storytelling zuerst in die Rolle eines Bluesgitarristen schlüpft – wahrscheinlich John Lee Hooker –, als nächstes in die einer Jazzsängerin auf dem berühmten Chitlin’ Circuit – wohl Billie Holiday – und dann in der letzten Strophe seine eigene Karriere als Wiedergeburt dieser Tradition beschreibt, um so die Kontinuitäten schwarzer Musik im kapitalistischen, rassistischen Amerika zu beleuchten.
Seine Flows – nicht nur auf diesem Track – bestätigen das, was der Jazzsaxophonist und Produzent Terrace Martin über Lamar sagt: Lamar spielt seine Stimme wie ein Blasinstrument, hat die Phrasierungen und Rhythmen von Dizzy Gillespie und John Coltrane aufgesogen wie kein anderer MC. Und anders als die meisten Konkurrenten nutzt er dabei alle stimmlichen Facetten, variiert seine Stimmlage, seine Aussprache, seine Lautstärke. In den frühen Zeiten des HipHops wollte kein Rapper je biten, also wie ein anderer klingen. Lamar will noch nicht mal sich selbst kopieren.
Aber trotz der weiten musikalischen Landschaft, die Lamar im Laufe seiner Karriere bereist hat – sei es das mit dem Livejazz von Kamasi Washington und Thundercat gespickte Album »To Pimp a Butterfly« (2015), die eher computerbasierten Beats von 9th Wonder und Sounwave auf »DAMN« (2017), die kleinen Popausflüge auf »Mr. Morale & the Big Steppers« (2022) –, für »GNX« kehrt er klanglich und ästhetisch voll zum Gangstarap der Westküste zurück.
Zum Beispiel im Video von »Squabble Up«, wo Lamar in einem kleinen kargen Raum zahlreiche Chiffren für den Gangstarap und den Großraum L. A. versammelt hat: Verweise auf ein Plattencover des Gangstarappers Ice-T, Highwayschilder, die nach Compton führen, Homies mit Cornrows beim Crip-Walken, einem berühmten Tanz der Crip-Gang, direkt gefolgt von posierenden Mitgliedern der rivalisierenden Blood-Gang.
Der Albumtitel »GNX« wiederum ist ein Verweis auf ein etwas prolliges Modell des Autoherstellers Buick, das in den 70er und 80er Jahren hergestellt wurde – auch in der Fremont Assembly Plant in der Nähe von Compton, die einst erst das Wachstum des Vororts mitverantwortet hatte und dann mit kurzzeitiger Schließung und Entlassung vieler Arbeiter 1982 zur Verwahrlosung und Ghettoisierung beitrug.
Die Beats auf dem Album setzen stark auf oldschoolige 808-Bassdrums und Synthbässe mit Sägezahnwellen, wie dafür gemacht, sie über eine mit Subwoofern aufgerüstete Autoanlage zu hören, während man über nächtliche Straßen fährt. Es muss ja nicht Compton sein.
Kendrick Lamar: »GNX« (PGLang/Interscope Records)
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
Mehr aus: Feuilleton
-
»Ein Glück heißt Akkordeon«
vom 14.12.2024 -
Alles Kunst, alles echt
vom 14.12.2024 -
Den Frieden feiern
vom 14.12.2024 -
Hiergeblieben
vom 14.12.2024 -
Zum dritten Advent
vom 14.12.2024 -
Nachschlag: Duo infernale
vom 14.12.2024 -
Vorschlag
vom 14.12.2024 -
Veranstaltungen
vom 14.12.2024