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Aus: Ausgabe vom 14.12.2024, Seite 12 / Thema
Kinderliteratur

Eine Frau verschwindet

Vor 90 Jahren erschien das Kinderbuch »Janko, der Junge aus Mexiko« der in Auschwitz ermordeten Autorin Ruth Rewald
Von Cristina Fischer
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Die Kinderbuchautorin Ruth Rewald (1906–1942), Aufnahme von 1934

Wie gerät ein Mensch des öffentlichen Lebens in Vergessenheit? Wie gerät ein Schriftsteller in Vergessenheit? Verläuft derselbe Vorgang anders, wenn eine Frau betroffen ist?

Ruth Rewald, um die es hier geht, wurde 1906 als einzige Tochter einer bürgerlichen jüdischen Familie in der Gemeinde Wilmersdorf geboren, die damals noch nicht zu Berlin gehörte. Ihr Vater war Außenhandelskaufmann, ihre Mutter Lehrerin. Ruth scheint ein ernstes, stilles, verträumtes Mädchen mit einer großen Begeisterung für Literatur gewesen zu sein. Ihre Kindheit war vom Ersten Weltkrieg mit seinen chauvinistischen Parolen und den Entbehrungen an der »Heimatfront« überschattet. Es folgten die Revolution, die Nachkriegswirren, die Inflationszeit. Dann starb bereits 1925 ihre Mutter.

Nach dem Abitur begann Ruth in Berlin Jura zu studieren und setzte das Studium später in Heidelberg fort. Dabei lernte sie einen Kommilitonen, Hans Schaul, kennen, in den sie sich verliebte. Die jungen Leute heirateten Ende 1929 in Berlin und bezogen eine eigene Wohnung.

»Müllerstraße. Jungens von heute«

Damals befanden sich beide in Vorbereitung auf einen juristischen Beruf im Referendariat. Allerdings hatte Ruth andere Vorstellungen von ihrer Zukunft; wie ihre Mutter fühlte sie sich zur Pädagogik oder zur Sozialarbeit mit Kindern hingezogen. Sie beendete ihr Referendariat daher nicht, sondern begann in Berlin in Kinderheimen und Horten zu hospitieren. Nebenbei schrieb sie, zunächst wohl für Kinderbeilagen von Zeitungen.

1931 debütierte sie im etablierten Stuttgarter Verlag D. Gundert mit ihren Erzählungen »Rudi und sein Radio« und »Peter Meyer liest seine Geschichte vor«, und zwar aus dem Stand mit einer Auflage von 20.000 Exemplaren. Dabei wurde bereits deutlich, dass sie mit »Mädchenliteratur« wenig anfangen konnte – sie identifizierte sich voll und ganz mit abenteuerlustigen und technikbegeisterten Knaben. Das galt erst recht für ihren ersten Roman, »Müllerstraße. Jungens von heute«, der 1932 ebenfalls im Gundert-Verlag erschien.

Darin verarbeitete sie die Folgen der Weltwirtschaftskrise, die besonders an Kindern und Jugendlichen in Arbeiterfamilien nicht spurlos vorbeiging, wie sie selbst festgestellt hatte. Vor allem nahm sie wahr, dass die Kinder oft sich selbst überlassen blieben. Das ist der Ausgangspunkt ihres Romans, der die Situation von Arbeiterkindern im Wedding schildert. Einige der Väter sind arbeitslos, selbst ein Urlaub bei Verwandten wird unmöglich, und auch Ferienreisen, die das Bezirksamt finanzieren wollte, fallen weg. So sind fünf mehr oder weniger wilde Berliner Rangen im Sommer auf sich allein gestellt, ärgern sich über aufkommende Langeweile und geben sich nicht mehr mit dem üblichen Fußballspiel zufrieden. Schließlich kommt ihnen die Idee, illegal auf dem Dach eines der Mietshäuser an der Müllerstraße einen kleinen Garten einzurichten und ein Theaterstück einzustudieren – was natürlich mit verschiedenen Schwierigkeiten verbunden ist.

Ruth Rewald erzählt humorvoll, wie diese Schwierigkeiten von den Kindern nach und nach gemeistert werden, wie sie mühsam das nötige Geld auftreiben und nebenbei den Direktor ihrer Schule für sich gewinnen. Am Ende wird ihr Stück, von ihnen selbst gesprochen, sogar im regionalen Rundfunk gesendet. »Müllerstraße« hatte verblüffenden Erfolg. In zahlreichen Sammelrezensionen wurde das Buch lobend erwähnt, und vor Weihnachten 1932 verkaufte sich fast die gesamte Erstauflage von 7.000 Exemplaren.

Emigration nach Paris

Der Verleger Friedrich Gundert war begeistert und verlangte umgehend das nächste Manuskript von seiner jungen Autorin. Diesmal sollte es jedoch ein »Mädchenbuch« werden, von dem er sich im nächsten Weihnachtsgeschäft noch mehr Umsatz versprach. Ruth Rewald sagte zu.

Tatsächlich konnte sie mit einer ungewöhnlichen Idee aufwarten, die diesmal ihrem familiären Umfeld entsprang: Nach dem Tod der Mutter hatte ihr Vater eine neue Frau kennengelernt, die aus Österreich stammende Elsa Salzmann, die schon vor dem Ersten Weltkrieg unter dem Namen Lotte Erol eine bekannte Theater- und Stummfilmschauspielerin gewesen war und seit 1930 wieder Nebenrollen beim Film erhielt. Sie brachte ihre Stieftochter aus erster Ehe mit, die blonde Lien Deyers, drei Jahre jünger als Ruth und seit 1928 ebenfalls im Filmgeschäft erfolgreich. Die neue glamouröse Verwandtschaft muss Ruths Phantasie angeregt haben, denn sie stürzte sich begeistert in das ihr bisher fremde Thema.

In ihrem Manuskript lässt sie zwei Kinder, ein Mädchen und einen Jungen, auf Erkundungstour in die Filmstadt Babelsberg gehen, wobei sie Filmaufnahmen erleben und einen schnöseligen »Kinderstar« kennenlernen. Als dessen Mutter, eine bekannte Filmdiva, ihren Talisman verliert, drohen die Dreharbeiten zu scheitern.

Während Ruth Rewald an diesem heiteren Stoff arbeitete, überschlugen sich in Deutschland die politischen Ereignisse. Am 30. Januar 1933 war Adolf Hitler von Reichspräsident Hindenburg zum Kanzler ernannt, am 1. Februar der Reichstag aufgelöst worden, und die neuen Machthaber begannen jedwede Opposition brutal zu bekämpfen. Nach dem inszenierten Reichstagsbrand am Abend des 27. Februar setzten Massenverhaftungen vor allem von Kommunisten ein. Viele Antifaschisten, darunter linke Intellektuelle, verließen fluchtartig ihre Heimat. Die letzten »freien« Wahlen am 5. März trugen der NSDAP über 40 Prozent der Stimmen ein, und nach dem jahrelangen Terror der SA wurden Konzentrationslager für Nazigegner eingerichtet.

Ruth Rewald und ihr Mann, die mit sozialistischen Kräften sympathisierten,¹ sahen keine Zukunft mehr für sich in Berlin. Hans Schaul, der bereits als Rechtsanwalt tätig war, stand als Jude vor dem Berufsverbot. Deshalb schickte er im Mai 1933 seine Frau nach Paris voraus, wo sie sich nach einer Unterkunft und Verdienstmöglichkeiten umsehen sollte. Sie fuhr über Stuttgart und brachte ihrem Verleger einen ersten Entwurf des Manuskripts mit, das den vorläufigen Titel »Achtung – Aufnahme!« oder »Achtung – Renate!« trug.

In Paris kaufte sie sich als Teilhaberin in eine Buchhandlung ein, in der sie auch arbeitete. Der nötigste Unterhalt schien fürs erste gesichert, als ihr Mann ihr nach Paris folgte. Doch beide waren vollauf mit dem Broterwerb beschäftigt, so dass fast ein Jahr verging, bis Ruth wieder ein Buch schreiben konnte. Inzwischen hatte ihr deutscher Verleger an ihrem Manuskript »Achtung – Renate!«, das ihm zunächst gefallen hatte, immer neue angebliche Mängel entdeckt. Schließlich gestand er ziemlich spät und verlegen ein, dass er kein Buch einer jüdischen Autorin in Deutschland mehr herausbringen könne. Er musste sich damit begnügen, an der Restauflage der »Müllerstraße« und fast 10.000 Exemplaren von »Rudi und sein Radio«, die er weiter vertreiben durfte, zu verdienen. Und das tat er dann auch in den Folgejahren.

Schicksal eines Flüchtlings

In ihrem ersten Exilwerk »Janko, der Junge aus Mexiko« wandte sich Ruth Rewald nicht zufällig den Erfahrungen eines staatenlosen Jungen zu. Ihr Held Janko Dubirof, ursprünglich Mexikaner, dann aus den USA nach Deutschland gelangt, lebt sich allmählich in seiner neuen Heimat in einer Kleinstadt ein. Er wird Mitglied des Fußballklubs, befreundet sich mit einem Mitschüler und mit dem jungen Geschichtslehrer, der antiautoritär unterrichtet und in ärmlichen Verhältnissen mit seiner Mutter zusammenwohnt. Doch mittlerweile hat sich ein diplomatischer Streit um den Jungen entwickelt: zwischen den Behörden der USA, die ihn willkürlich einer deutschen Sozialarbeiterin übergeben haben, und den mexikanischen Behörden, die aufgrund der Anfragen dort lebender Verwandter Anspruch auf ihn erheben. So ist eine umfangreiche Akte »betr. den unmündigen Janko Dubirof« entstanden. Sie wird ihm letztlich zum Verhängnis.

Die Autorin kommentiert: »Mit den Akten hat es eine besondere Bewandtnis. Es ist nicht schwer zu erklären, was ein Aktenstück ist. Das ist einfach ein Bündel Papier, auf welchem erwachsene Leute wichtige Dinge aufgeschrieben haben. Wichtige Dinge über einzelne Menschen, ganze Dörfer und Städte und über ganze Völker sind da verzeichnet, und alles zusammen ist doch nur ein Bündel Papier. Aber es ist sehr schwer zu erklären, wie dieses Papier plötzlich Gewalt gewinnen kann, eingreifen kann in das Schicksal lebendiger Menschen, sie weiterbringen und sie vernichten kann. Da gibt es einen bestimmten Augenblick, in welchem das Papier aus sich herauswächst und selbst Leben wird. Nicht mehr der Mensch, über den da berichtet wird, formt das Papier, sondern das Papier formt den Menschen und seine Zukunft. Das ist die ›Entscheidung‹. Auch sie ist zunächst nur ein Stück Papier, aber sie wird lebendig und ergreift auf unheimliche Weise Gewalt von dem Menschen, von dem dort geschrieben ist. Und was dort geschrieben ist, das haben zwar Beamte, lebendige Menschen, geschrieben, aber hinter ihnen standen dabei die Staaten, die Interessen, die Gesetze und die Zufälle, und sie führten die Hand des Schreibers. Wenn der Beamte seine Entscheidung in die Akte geschrieben hat, dann ist sie für ihn erledigt. Sie wandert in das Fach, an dem die Bürodiener aller Länder der Erde ihr Schild ›Erledigt‹ anheften.«

Letztendlich entkommt Janko den Behörden durch spontane Flucht. Obwohl noch ein Kind, lässt er sich sein Leben nicht vorschreiben und nimmt sein Geschick selbst in die Hand. So endet diese Erzählung, die ihre Spannung nicht aus phantasievollen Schülerabenteuern, sondern aus den realen Komplikationen des Lebens bezieht, doch noch positiv.

Verfasst ist sie in einer klaren, sachlichen und dabei poetischen Sprache. Die Autorin bemüht sich nicht, besonders »kindgerecht« zu formulieren, sie beugt sich nicht gütig zu einem scheinbar unverständigen Publikum hinab.

»Janko« konnte 1934 im Sebastian Brant-Verlag Strasbourg von Willi Münzenberg erscheinen, wurde danach ins Norwegische, Schwedische, Serbokroatische, Hebräische und Finnische übersetzt. Es war damit Rewalds international erfolgreichstes Werk. Zu recht wurde die Erstausgabe in einer Rezension im Neuen Tagebuch »ein zartes, beinahe dichterisches Buch« genannt. Begeistert reagierte auch ihre Kollegin Lisa Tetzner.

Das Thema wirkt nach wie vor aktuell: Kinder aus fernen Ländern, die sich an deutschen Schulen behaupten und Schwierigkeiten überwinden müssen, die auf Neugier und Missverständnisse stoßen – das gibt es heute noch häufiger als damals. Wie jedes gute Kinderbuch ist es auch Erwachsenen zu empfehlen.

Abenteuer in China und Spanien

1936 stellte Ruth Rewald ein weiteres Manuskript fertig –»Tsao und Jing-Ling«, basierend unter anderem auf Schilderungen von Egon Erwin Kisch in dessen Buch »China geheim« (1933). Es handelt von den chinesischen Geschwistern Tsao und Jing-Ling, einem siebenjährigen Jungen und einem zehnjährigen Mädchen, die als Kinder von Bauern in einem Dorf weitab von Beijing leben. Diese Bauern haben ihr Land gepachtet und müssen die Hälfte ihrer Erträge an den reichen Grundherrn abgeben, bei Missernten statt der Ernte Geld aufbringen. Wenn sie nicht zahlen können, werden sie aus dem Dorf vertrieben. Dieses Schicksal droht auch der Familie der Geschwister. Es gibt nur eine Lösung: Die beiden sollen nach Beijing geschickt werden, um dort für den Grundherrn in dessen Fabrik zu arbeiten. So geschieht es auch. Von da an schuften Tsao und Jing-Ling unter entsetzlichen Bedingungen.

Die Lektüre ist nicht leicht, sie mag manchen als ungeeignet für Kinder erscheinen, obwohl auch dieses Thema von brennender Aktualität ist: Auf der Welt müssen noch heute rund 160 Millionen Kinder im Alter zwischen fünf und 17 Jahren arbeiten. Auffällig ist erneut der tiefe Ernst, mit dem Ruth Rewald auf die kindliche Lebenswelt eingeht, der sie volle Eigenständigkeit zugesteht. Sie bemüht sich, neben der Grausamkeit der Schicksale auch ein wenig vom Zauber der Natur und der Kultur Chinas abzubilden.

Mit ihrem Werk kam sie 1936 auf die Shortlist für den Heine-Preis des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller in Paris; von über achtzig eingesandten Manuskripten gehörte ihres zu den sechs am höchsten bewerteten, von Hans Marchwitza wurde es sogar unter die drei besten gewählt. Nach einem Verlag suchte sie dennoch vergeblich; nur eine Schweizer Gewerkschaftszeitung druckte den Roman in Fortsetzungen. Erstmals als Buch wurde »Tsao und Jing-Ling« erst 65 Jahre später, 2002, zusammen mit »Janko« im kleinen VWM-Verlag Mühltal in bescheidener Aufmachung herausgebracht. Fast zwanzig weitere Jahre mussten vergehen, bis es endlich als illustriertes Kinderbuch im Arco Verlag Wuppertal angekündigt wurde – erschienen ist es dort aber bis heute nicht.

Noch weniger Glück hatte Ruth Rewald mit ihrer dokumentarischen Erzählung über »Vier spanische Jungen« aus dem Bürgerkrieg der Dreißiger Jahre. Sie war selbst vier Monate in der Nähe von Madrid gewesen und hatte umfangreiche Aufzeichnungen über die Situation der im Krieg leidenden spanischen Kinder mitgebracht. Doch als sie ihr Manuskript 1938 beendet hatte, ging die Sache der Republikaner verloren, und das Werk schien nicht mehr aktuell.

Paris-Berlin-Moskau

Zugleich war die Situation für deutsche Exilschriftsteller noch prekärer geworden, der Zweite Weltkrieg stand vor der Tür. Ruth und ihr Mann, die sich bereits 1934 um eine Emigration in die Vereinigten Staaten bemüht hatten, saßen in Frankreich fest. Hans Schaul wurde zunächst als Spanienkämpfer, dann als »feindlicher Ausländer« interniert und hatte 1944 das Glück, durch ein sowjetisches Visum aus einem Lager in Algerien zu entkommen. Er überlebte in der Sowjetunion. Seine Frau war inzwischen mit der 1937 geborenen Tochter Anja in den Tausend-Seelen-Ort Les Rosiers sur Loire westlich von Paris gelangt und hatte dort eine Bleibe gefunden.

Mit der Unterstützung freundlicher Mitmenschen ging es beiden recht gut. Brieflich hielt Ruth den Kontakt zu ihrem Mann aufrecht. Doch als im Juli 1942 die von deutschen und französischen Behörden organisierten Massenrazzien gegen Juden in Frankreich begannen, wurde auch sie festgenommen und nach Auschwitz deportiert. Ihre Unterlagen wurden von der Gestapo konfisziert. Danach gibt es kein Lebenszeichen mehr von ihr. Ihre Tochter wurde zunächst von einer Nachbarin, dann von ihrer Grundschullehrerin betreut. Das begabte kleine Mädchen sprach Deutsch und Französisch und konnte mit fünf Jahren bereits lesen und schreiben. Doch es gelang nicht, sie zu retten. 1944 wurde Anja aus der Schule abgeholt, deportiert und in Auschwitz ermordet.

Als sich die Rote Armee 1945 von Osten her nach Deutschland und in die Reichshauptstadt Berlin vorkämpfte, stieß sie auf immer mehr Aktendepots des zusammenbrechenden faschistischen Regimes. Teils unter Trümmern wurden diese Akten von den sowjetischen Soldaten hervorgezogen und auf Lkw verladen, um sie nach Moskau zu transportieren. Es entstand das sogenannte Sonderarchiv.²

Nach der für sowjetische Verhältnisse kurzen Zeit von zehn bis zwölf Jahren waren die geborgenen Schätze gesichtet worden, und es wurde beschlossen, diejenigen Unterlagen, die für völlig uninteressant befunden worden waren, an die befreundete DDR abzugeben. So gelangte 1957 auch der Nachlass von Ruth Rewald-Schaul in das Staatsarchiv der DDR nach Potsdam. Nur ihrer »Unbekanntheit« hatte sie es zu verdanken, dass ihre Papiere wieder auf deutschen Boden gelangten.

Die zurückgegebenen Emigrantennachlässe entgingen nicht der professionellen Neugier der Mitarbeiter der Akademie der Künste der DDR. Sie ließen sich um 1960 von den Kollegen des Staatsarchivs Listen anfertigen, in denen die bedeutsamsten Funde notiert werden sollten. Irgendein Archivar hat sich daraufhin den Nachlass von Ruth Rewald angesehen, 25 Mappen mit einem Umfang von teilweise über hundert Blatt: Korrespondenzen mit Verlagen, Kollegen, Freunden und Familienangehörigen, Dokumente, veröffentlichte und unveröffentlichte Manuskripte. Nichts davon schien jedoch dem Archivmitarbeiter von Interesse für die Akademie der Künste.

Mit einer einzigen Ausnahme: Briefe von Heinrich Rau, seit 1955 Minister für Außenhandel der DDR. Die – und nur die – kamen auf die Liste, die dem Archiv der Akademie der Künste übergeben wurde. Wer diese Auswahl getroffen hat und warum? Man wird es wahrscheinlich nie erfahren.

Doch sorgte die oberflächliche Sichtung dafür, dass sich in den folgenden rund zwanzig Jahren in der DDR offenbar niemand für den Nachlass von Ruth Rewald interessierte. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass ihr Witwer Hans Schaul nach dem Krieg, aus der Sowjetunion zurückgekehrt, als Professor und ab 1954 Prorektor an der Hochschule für Planökonomie Berlin-Karlshorst sowie als hoher Funktionär der SED in der DDR lebte.³ Allem Anschein nach hatte er keine Ahnung von den geretteten Papieren seiner Frau. Er heiratete 1951 erneut, diesmal eine Heldin der Résistance: Dora Schaul geb. Davidsohn war politische Mitarbeiterin beim ZK der SED in der Abteilung Agitation und Propaganda, später wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Institut für Marxismus-Leninismus und trat 1973 mit dem Band »Erinnerungen deutscher Angehöriger der französischen Résistance« hervor.

Dora Schaul erfuhr durch ihren Mann vom Schicksal der Tochter Ruth Rewalds, der kleinen Anja. Es bewegte sie so sehr, dass sie ihr einen Gedenkartikel widmete, der im Dezember 1979 in der populären Unterhaltungszeitschrift Das Magazin erschien. Über Anjas Mutter heißt es darin: »Ruth Schaul war Schriftstellerin. Vor Hitlers Machtantritt waren in Deutschland einige Kinderbücher unter ihrem Mädchennamen Ruth Rewald veröffentlicht worden. In Frankreich konnte sie der Schriftstellerei kaum nachgehen.« Das stimmt so nicht – aber es scheinen die einzigen Sätze zu sein, die in der DDR über Ruth Rewald veröffentlicht wurden, bevor sie schließlich von einem Westdeutschen »wiederentdeckt« wurde.

Zwei Jahre später wurden Hans Schaul Teile aus dem Nachlass seiner ermordeten Frau aus dem Potsdamer Archiv übergeben, vermutlich handelte es sich dabei um seine eigenen Briefe aus der Exilzeit.

Rewalds Unterlagen waren also nach zwanzig Jahren endlich in den Blick der Forschung gelangt, und zwar im Rahmen des Projekts »Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933– 1945«, das ab 1978 in sieben Bänden im Reclam-Verlag erschien. Der Band »Exil in den Niederlanden und in Spanien«, an dem die Germanistin Silvia Schlenstedt mitarbeitete, kam 1981 heraus. In einem Kapitel »Spanienkämpfer als Verleger« erwähnte sie auch das Kinderbuch »Vier spanische Jungen«, das seinerzeit von Heinrich Rau und Hans Schaul »bestellt« worden war. Auf diesen Hinweis wiederum stieß einige Jahre später der Wuppertaler Lehrer Dirk Krüger, der zum Thema Exilkinderliteratur promovieren wollte. Er wandte sich mit der Bitte um Informationen an Silvia Schlenstedt – und konnte sein Glück kaum fassen, als er erfuhr, dass es in der DDR den bisher unausgewerteten Nachlass einer Exilschriftstellerin gab, die in sein Promotionsthema passte. Als Sympathisant oder Mitglied der DKP erhielt er unkompliziert die Genehmigung zu einem längeren Forschungsaufenthalt im Staatsarchiv Potsdam.

Krüger sichtete den Nachlass von Ruth Rewald, schrieb seine Doktorarbeit über ihr Leben und ihr Werk⁴ und gab das bisher unveröffentlichte Kinderbuch »Vier spanische Jungen« 1987 im Röderberg-Verlag heraus. Die Überraschung und das öffentliche Interesse waren groß. Alle waren sich einig, dass es sich um eine höchst beachtliche Wiederentdeckung einer vergessenen deutschen Exilschriftstellerin handelte.

Nicht bedeutend?

Seitdem haben sich Germanisten, auch im Ausland, mit dem Werk Ruth Rewalds, vor allem mit »Janko« und den »Vier spanischen Jungen« beschäftigt. In Robert Cohens Erfolgsroman »Exil der frechen Frauen« (2009) ist Ruth Rewald eine der drei weiblichen Hauptfiguren. Erneut wurde sie also »wiederentdeckt« und einem großen Publikum vorgestellt. Der Roman erlebte mehrere Auflagen und wurde ins Spanische übersetzt.

In einem Interview hat Cohen 2012 allerdings eingeräumt: »Ich habe ja mit Ruth Rewald und Maria Osten zwei Frauen ausgesucht, die selber Schriftstellerinnen waren; keine bedeutenden, doch das ist Nebensache. Ich habe nicht versucht sie bedeutender zu machen, als sie vielleicht waren. Es hat mich auch nicht interessiert zu beurteilen, wie gut ihre Texte sind.«⁵ So wurde Ruth Rewald für ihn zu einem bloßen Modell, an dem historischer und literarischer Stoff über vermeintlich »freche Frauen« drapiert werden konnte. Cohen hatte den Nachlass, der sich heute im Bundesarchiv befindet, konsultiert und Passagen aus ihren Manuskripten zitiert. Für die Mehrzahl der Leserinnen muss seine literarische Figur demnach mit ihrem historischen Vorbild übereinstimmen. Doch das ist natürlich nicht der Fall. Übrigens schrieb Ruth Rewald Wochen vor ihrer Deportation über ihre Tochter: »(…) manchmal ist sie sogar ›frech‹. Eine Eigenschaft, die mir völlig fehlt, und es ist gut, sie zu besitzen.«⁶

Die Biographie von Dirk Krüger ist längst vergriffen. Drei Kinderbücher Rewalds wurden wiederaufgelegt, zuletzt »Müllerstraße« (2023) passenderweise in Berlin-Wedding, wobei das Interesse groß genug war, dass in diesem Jahr eine zweite Auflage folgen konnte.

In Frankreich gab es regionale Forschungsprojekte zum Holocaust, in deren Rahmen Dokumente über die Schriftstellerin und ihre Tochter recherchiert und zusammengestellt wurden.⁷ 2016 wurde in Les Rosiers eine Gedenktafel für die beiden angebracht, 2019 die örtliche Grundschule in Ecole primaire Anja Schaul umbenannt.

In den vergangenen Jahren sind drei Bücher Rewalds von der Literaturwissenschaftlerin Danielle Risterucci-Roudnicky (Berlin) ins Französische übersetzt und in einem der größten Literaturverlage Frankreichs, den Editions L’Harmattan in Paris, veröffentlicht worden. In ihrer Heimatstadt Berlin ist Ruth Rewald dagegen nach wie vor quasi unbekannt. Jedenfalls erinnert hier nichts an sie, nicht einmal ein Stolperstein. »Gibt es bald eine Straße und/oder eine Schule, die ihren Namen tragen werden?« fragt Dirk Krüger polemisch. Eine Frage, die ungeduldig auf Antwort wartet.

Anmerkungen:

1 Hans Schaul war, wie vermutlich auch seine Frau, Mitglied im SPD-nahen Sozialistischen Studentenbund.

2 Eine Aufstellung der Bestände von Sebastian Panwitz ist unter www.sonderarchiv.de zu finden.

3 1956–1972 war Hans Schaul Abteilungsleiter im ZK der SED und Chefredakteur der SED-Zeitschrift Einheit, danach ehrenamtlicher Mitarbeiter der Abteilung Internationale Verbindungen im ZK der SED.

4 Dirk Krüger: Die deutsch-jüdische Kinder- und Jugendbuchautorin Ruth Rewald und die Kinder- und Jugendliteratur im Exil, Frankfurt/M. 1990

5 https://sh.rosalux.de/publikation/id/5998/robert-cohen-interview

6 Ruth Rewald an Hans Schaul, 17.5.1942, im Original französisch, zit. n. Dirk Krüger (Anm. 4), S. 267

7 La Schoah dans l’arrondissement de Saint-Nazaire. SCHAUL Ruth, Anja, (Hans): https://shoahpresquile.com/2019/01/03/ruth-schaul-148/

Janko, der Junge aus Mexiko. Mit Ill. v. Paul Urban. Hg. u. m. einem Nachwort von Dirk Krüger, Wuppertal: Arco Verlag 2007

Müllerstraße – Jungens von heute. Ein Jugendroman aus dem Wedding von 1932. Mit Ill. v. Kurt Tiedemann. Mit Nachwort von Dirk Krüger, 2. Aufl., Berlin: Verlag Walter Frey 2024

Vier spanische Jungen, Frankfurt/M.: Neuer Deutscher Verlag 2022

Tsao et Jing-Ling. Enfances en Chine. Übs. v. Danielle Risterucci-Roudnicky, Paris: Editions L’Harmattan 2022. Die deutsche Ausgabe wird im Arco-Verlag Wuppertal vorbereitet.

Cristina Fischer schrieb an dieser Stelle zuletzt am 12. Juli 2024 über Carsten Gansels Brigitte Reimann-Biographie: Cherchez la femme.

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