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Aus: Ausgabe vom 14.12.2024, Seite 15 / Geschichte
Venezuela

Weckruf aus Venezuela

Vor 25 Jahren wurde die neue Verfassung des südamerikanischen Landes verabschiedet
Von André Scheer
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Hugo Chávez während der Kampagne zum Verfassungsreferendum (Merida, Dezember 1999)

Eine Katastrophe überschattete den Beginn einer neuen Epoche in Venezuela. Am 15. Dezember 1999 kam es vor allem im Bundesstaat Vargas (heute La Guaira), nahe der Hauptstadt Caracas und direkt an der Karibikküste gelegen, nach tagelangen schweren Regenfällen zu zahlreichen Erdrutschen. Ganze Wohnviertel verschwanden in den Schlammlawinen, denn ohne jede echte Planung und Regulierung waren die Häuser bis in hohe Höhen an die instabilen Berghänge gebaut worden. Die »Tragödie von Vargas« forderte nach Schätzungen bis zu 30.000 Menschenleben, Zehntausende wurden obdachlos.

An jenem 15. Dezember 1999 wendete sich der erst gut ein Jahr zuvor zum Präsidenten Venezuelas gewählte Hugo Chávez in einer Fernsehansprache an die Bevölkerung und betete zu Gott für die Verstorbenen. Zugleich machte er deutlich, dass er sich von der Katastrophe nicht aufhalten lassen wolle und erinnerte an den Nationalhelden Simón Bolívar, der 1812 nach einem verheerenden Erdbeben erklärt hatte: »Wenn sich die Natur gegen uns stellt, werden wir auch gegen sie kämpfen und dafür sorgen, dass sie uns gehorcht.«

Vorbild Bolívar

Bolívar und dessen Ideen hatten den Lebensweg des »Comandante« Hugo Chávez schon von seiner Jugend an geprägt. Zwar war Bolívar in Venezuela immer schon als Befreier von der spanischen Kolonialherrschaft im 19. Jahrhundert allgegenwärtig, doch Chávez interpretierte den Nationalhelden als einen antiimperialistischen Revolutionär, der sich für die Unabhängigkeit seines Landes gegen alle äußeren und inneren Feinde eingesetzt hatte – auch gegen die damals aufstrebenden USA. »Die Vereinigten Staaten scheinen von der Vorsehung dazu bestimmt zu sein, die Völker Amerikas im Namen der Freiheit mit Elend zu überziehen«, hatte Bolívar 1829 in einem Brief geschrieben. So war es kein Zufall, dass die Geheimorganisation, die Chávez zusammen mit Getreuen Anfang der 1980er Jahre in den Reihen des venezolanischen Militärs gründete, direkten Bezug auf den Befreier nahm und sich »Revolutionäre Bolivarische Bewegung« nannte. Es war diese Organisation, die 1992 mit einem Militärputsch versuchte, die Regierung des Sozialdemokraten Carlos Andrés Pérez zu stürzen – eine Reaktion auf das Massaker drei Jahre zuvor. Im Februar 1989 war eine Hungerrevolte der Bevölkerung blutig niedergeschlagen worden, der »Caracazo« forderte mehrere tausend Todesopfer. »Verdammt soll der Soldat sein, der seine Waffe gegen das eigene Volk richtet« – auf dieses weitere Wort Bolívars beriefen sich die Putschisten. Der Staatsstreich scheiterte, doch Chávez wurde als dessen Anführer so populär, dass er 1998 zum Präsidenten gewählt wurde und das Amt am 2. Februar 1999 antrat.

Sein zentrales Wahlversprechen war, die Republik durch die Ausarbeitung einer neuen Verfassung von Grund auf wiederaufzubauen. Seinen Amtseid legte er entsprechend auf die »todgeweihte« bisherige Verfassung ab und ordnete schon an seinem ersten Tag im Amt die Durchführung einer Volksabstimmung an, bei der über die Wahl einer verfassunggebenden Versammlung entschieden werden sollte. Diese wurde schließlich im August 1999 gewählt und sollte die neue Magna Carta ausarbeiten. Es gehe um eine »Revolution«, ermahnte Chávez die gewählten Abgeordneten der verfassunggebenden Versammlung am 5. August 1999, als sie zum ersten Mal zusammenkamen: »Revolutionen kann man nicht planen. Revolutionen entstehen aus sich selbst, sie haben ihre eigenen Gesetze wie die Geschichte, sie sind Töchter der Geschichte. Die Revolutionen sind wie ein Sturm, wie ein starker Wind, man kann mit ihnen fliegen, man kann sie überleben, aber es ist unmöglich, sie aufzuhalten.«

100 Tage später lag der Text der neuen Verfassung vor, der konsequent überall die männliche und weibliche Form verwendete. Das Land sollte künftig den Namenszusatz »Bolivarisch« tragen – Bolivarische Republik Venezuela – und es sollte eine neuartige, eine partizipative Demokratie entstehen, in der das Volk nicht mehr nur alle paar Jahre bei Wahlen seine Stimme abgeben und dann nichts mehr zu sagen haben sollte. Weitreichende soziale Rechte wurden festgeschrieben, etwa das Recht auf Arbeit, eine Höchstarbeitszeit von acht Stunden am Tag und 44 Stunden in der Woche und die Verbesserung der Lebensbedingungen als Staatsziele. Die Tätigkeit von Hausfrauen wurde als »wertschöpfende Arbeit« definiert, aus der sich Rentenansprüche ergeben sollten. Das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren und zu streiken, bekam in Venezuela Verfassungsrang. Und die Souveränität wurde gestärkt, die Einrichtung ausländischer Militärbasen verboten. Ebenso untersagt wurde eine Privatisierung der in den 1970er Jahren verstaatlichten Erdölindustrie, aus der ein überwältigender Anteil der Staatseinnahmen stammte. Schon in der Präambel wurden eine Demokratisierung der internationalen Ordnung und atomare Abrüstung angemahnt.

Kaum umgesetzt

Trotz der Unwetter waren die Menschen in Venezuela am 15. Dezember 1999 zur Abstimmung über das neue Grundgesetz aufgerufen, und 71,8 Prozent der Teilnehmenden votierten für die Annahme – allerdings bei einer auch durch die klimatischen Bedingungen verursachten geringen Wahlbeteiligung. Damit war die wütende Kampagne der rechten Opposition gegen die Verfassung gescheitert, sie hatten »Kommunismus« gewittert und Chávez vorgeworfen, das Land »an die Indianer verschenken« zu wollen – weil erstmals weitgehende Autonomierechte für die originäre Bevölkerung des Landes festgeschrieben wurden. Die katholische Kirche protestierte, weil die Verfassung zwar den Schutz des Lebens festschrieb, aber nicht, wie von ihr gefordert, »von der Empfängnis bis zum Tod« – was einem uneingeschränkten Abtreibungsverbot gleichgekommen wäre.

Die Ausarbeitung und Verabschiedung der neuen Verfassung wirkte als Weckruf weit über die Grenzen Venezuelas hinaus und inspirierte etwa den Erneuerungsprozess in Bolivien, aber auch – unter anderen Bedingungen – in Chile oder Kuba. Geblieben ist davon 25 Jahre später nicht mehr viel. Zwar berufen sich inzwischen praktisch alle politischen Kräfte Venezuelas auf die Verfassung, aber von den weitreichenden sozialen Rechten, die in ihr festgehalten sind, ist wenig Realität geworden. Trotz eines anderslautenden Diskurses werden weitreichende politische Entscheidungen auch in Caracas eher durch Verhandlungen hinter den Kulissen zwischen den verschiedenen Machtgruppen ausgehandelt. Die durch den Wirtschaftskrieg der USA und der Europäischen Union gegen Venezuela verschärfte ökonomische Krise und Hyperinflation haben den Regierenden – zunächst Chávez, dann nach dessen Tod 2013 Nicolás Maduro – wenig Spielraum gelassen, Schritte in Richtung des angestrebten Aufbaus eines »Sozialismus des XXI. Jahrhunderts« zu machen. Was bleibt ist ein wegweisendes politisches Dokument, das auch heute als Inspiration dienen kann.

Gleiche Rechte für alle

Artikel 68. Die Bürger und Bürgerinnen haben das Recht, friedlich und ohne Waffen zu demonstrieren. Dieses Recht wird nur durch die gesetzliche Ausgestaltung begrenzt. Die Anwendung von Schusswaffen und giftigen Substanzen zur Kontrolle friedlicher Demonstrationen ist verboten. (…)

Artikel 69. Die Bolivarische Republik Venezuela anerkennt und garantiert das Recht auf Asyl und Zuflucht. (…)

Artikel 72. Für alle diejenigen, die durch allgemeine Wahlen in Ämter in Verwaltung und Rechtsprechung berufen worden sind, kann das Mandat widerrufen werden. (…) Nach Ablauf der Hälfte der Amtszeit, für die der Amtsträger oder die Amtsträgerin gewählt wurde, können mindestens zwanzig Prozent der in der entsprechenden Verwaltungseinheit eingetragenen Wahlberechtigten die Durchführung einer Volksabstimmung beantragen, um dessen oder deren Mandat zu widerrufen. (…)

Artikel 88. Der Staat garantiert die Gleichheit und Gleichstellung von Mann und Frau in der Wahrnehmung des Rechts auf Arbeit. Der Staat erkennt die Hausarbeit als eine Wirtschaftstätigkeit an, die Mehrwert erzeugt und Werte sowie sozialen Wohlstand schafft. Hausfrauen haben entsprechend der gesetzlichen Regelungen das Recht auf soziale Absicherung.

Artikel 90. Die Arbeitszeit darf täglich acht Stunden und achtundvierzig Stunden in der Woche nicht überschreiten. Soweit gesetzlich zulässig darf nächtliche Arbeitszeit sieben Stunden täglich und fünfunddreißig Stunden in der Woche nicht überschreiten. Kein Arbeitgeber oder Arbeitgeberin darf die Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerinnen zwingen, Überstunden zu leisten. Eine fortschreitende Verringerung der täglichen Arbeitszeit wird angestrebt (…)

Artikel 97. Alle Beschäftigen des öffentlichen und privaten Sektors haben das Recht auf Streik. (…)

Auszüge aus der Verfassung der Bolivarischen Republik Venezuela

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