Sorgenlos lebendig
Von Arnold SchölzelAm 2. August 2013 erschien in der FAZ ein Artikel des Strafrechtlers und Rechtsphilosophen Reinhard Merkel über den Bürgerkrieg in Syrien, Titel: »Der Westen ist schuldig.« Nicht deswegen, wie oft gesagt werde, weil er zu zögerlich bei der Unterstützung des Widerstands gewesen sei, vielmehr »weil er die illegitime Wandlung dieses Widerstands zu einem mörderischen Bürgerkrieg ermöglicht, gefördert, betrieben hat«. Diese Strategie sei eine Variante dessen, was seit der Invasion des Irak 2003 »demokratischer Interventionismus« heiße, wobei die Intervenierenden »die vermeintliche und absurde Rolle von Unschuldigen« übernähmen.
Was Merkel beschrieb, trifft auch heute zu. Der Westen, spezialisiert darauf, bei Regimewechsel die jeweiligen Spitzenpolitiker zu ermorden und anschließend das Land mit Ausnahme von Öl- und Gasquellen Marodeuren und Mörderbanden zu überlassen, hat Baschar Al-Assad nicht hängen können. Ansonsten verläuft alles gewohnheitsmäßig: Grünes Licht für angeblich einheimische Dschihadisten, die auch gern aus russischen Teilrepubliken im Kaukasus stammen dürfen. Völkerrecht wird vom zeitgenössischen Imperialismus nicht einmal der Form halber bemüht.
Das bestätigte am Dienstag in der FAZ der am Middle East Institute in Washington arbeitende Syrien-Fachmann Charles Lister. Der Anführer der Miliz Haiat Tahrir Al-Scham (HTS), Mohammed Al-Dscholani, habe »in den vergangenen drei oder vier Jahren in der Öffentlichkeit operiert, ohne sich große Sorgen um seine Sicherheit zu machen – obwohl zehn Millionen Dollar Belohnung auf seinen Kopf ausgesetzt sind«. Sich keine Sorgen machen ist noch etwas anderes, als Mann der USA zu sein. Was Dscholani laut Lister ist: »Würde er als eine echte Bedrohung für die Vereinigten Staaten betrachtet, wäre er schon längst getötet worden. Die USA haben auf Geheimdienstebene offenbar entschieden, dass er besser lebendig ist als tot. Dscholani hat beeindruckende Arbeit geleistet, um diese Bewegung zusammenzuhalten. Außerdem hat er Al-Qaida und den ›Islamischen Staat‹ im Nordwesten neutralisiert.« Dscholani ist aber nicht nur sorgenlos lebendig, er verfügt auch über Geld und Waffen. Woher nur?
Völlig nebensächlich wird da das Betreiben eines Kopfabschneiderregimes durch ihn: »HTS unterhält einen Polizeistaat, der keine Kritik mag und dazu neigt, dagegen vorzugehen, indem er Menschen willkürlich festnimmt, ins Gefängnis wirft und foltert.« Das sei zwar ein Problem, aber eines, das in der Region verbreitet und »von der internationalen Gemeinschaft akzeptiert« sei. Die schrumpft in Washington traditionell auf Washington zusammen. Zum NATO-Land Türkei und dessen Geheimdienst MIT habe es jedenfalls »einen ständigen Kommunikationskanal« gegeben, aber die Türken hätten die HTS-Offensive, die »ursprünglich im Oktober kommen« sollte, gestoppt: »Der MIT hielt damals zwei Treffen in Idlib und mindestens zwei in der Südtürkei ab. Alles nur, um zu sagen: ›Wagt es nicht, diese Offensive zu starten.‹ Innerhalb von Stunden flogen russische Kampfflugzeuge dann zum ersten Mal seit vier Monaten eine massive Luftangriffskampagne, die hauptsächlich Waffen- und Munitionslager traf, die für die Offensive angelegt worden waren.«
Demnach sind die Beziehungen zwischen Ankara und Moskau etwas komplexer, als es den Anschein hat. Lister glaubt jedenfalls kaum, »dass die Türkei der jetzigen Offensive, sechs Wochen später, grünes Licht gegeben hat. Sie wurde auf dem falschen Fuß erwischt. Aber sobald der Vormarsch begonnen hatte und das Regime zu wanken begann, hatte Ankara allen Grund, auf den Zug aufzuspringen.« Die Frage, von wem dann das grüne Licht kam, stellte die FAZ nicht. Beantwortet sich offenbar von selbst.
Lister glaubt jedenfalls kaum, »dass die Türkei der jetzigen Offensive, sechs Wochen später, grünes Licht gegeben hat. Sie wurde auf dem falschen Fuß erwischt. Aber sobald der Vormarsch begonnen hatte und das Regime zu wanken begann, hatte Ankara allen Grund, auf den Zug aufzuspringen.«
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