Gegründet 1947 Mittwoch, 15. Januar 2025, Nr. 12
Die junge Welt wird von 3005 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 14.12.2024, Seite 3 (Beilage) / Wochenendbeilage

Sorgenlos lebendig

Von Arnold Schölzel
schwarzer kanal 1100 x 526.png

Am 2. August 2013 erschien in der FAZ ein Artikel des Strafrechtlers und Rechtsphilosophen Reinhard Merkel über den Bürgerkrieg in Syrien, Titel: »Der Westen ist schuldig.« Nicht deswegen, wie oft gesagt werde, weil er zu zögerlich bei der Unterstützung des Widerstands gewesen sei, vielmehr »weil er die illegitime Wandlung dieses Widerstands zu einem mörderischen Bürgerkrieg ermöglicht, gefördert, betrieben hat«. Diese Strategie sei eine Variante dessen, was seit der Invasion des Irak 2003 »demokratischer Interventionismus« heiße, wobei die Intervenierenden »die vermeintliche und absurde Rolle von Unschuldigen« übernähmen.

Was Merkel beschrieb, trifft auch heute zu. Der Westen, spezialisiert darauf, bei Regimewechsel die jeweiligen Spitzenpolitiker zu ermorden und anschließend das Land mit Ausnahme von Öl- und Gasquellen Marodeuren und Mörderbanden zu überlassen, hat Baschar Al-Assad nicht hängen können. Ansonsten verläuft alles gewohnheitsmäßig: Grünes Licht für angeblich einheimische Dschihadisten, die auch gern aus russischen Teilrepubliken im Kaukasus stammen dürfen. Völkerrecht wird vom zeitgenössischen Imperialismus nicht einmal der Form halber bemüht.

Das bestätigte am Dienstag in der FAZ der am Middle East Institute in Washington arbeitende Syrien-Fachmann Charles Lister. Der Anführer der Miliz Haiat Tahrir Al-Scham (HTS), Mohammed Al-Dscholani, habe »in den vergangenen drei oder vier Jahren in der Öffentlichkeit operiert, ohne sich große Sorgen um seine Sicherheit zu machen – obwohl zehn Millionen Dollar Belohnung auf seinen Kopf ausgesetzt sind«. Sich keine Sorgen machen ist noch etwas anderes, als Mann der USA zu sein. Was Dscholani laut Lister ist: »Würde er als eine echte Bedrohung für die Vereinigten Staaten betrachtet, wäre er schon längst getötet worden. Die USA haben auf Geheimdienstebene offenbar entschieden, dass er besser lebendig ist als tot. Dscholani hat beeindruckende Arbeit geleistet, um diese Bewegung zusammenzuhalten. Außerdem hat er Al-Qaida und den ›Islamischen Staat‹ im Nordwesten neutralisiert.« Dscholani ist aber nicht nur sorgenlos lebendig, er verfügt auch über Geld und Waffen. Woher nur?

Völlig nebensächlich wird da das Betreiben eines Kopfabschneiderregimes durch ihn: »HTS unterhält einen Polizeistaat, der keine Kritik mag und dazu neigt, dagegen vorzugehen, indem er Menschen willkürlich festnimmt, ins Gefängnis wirft und foltert.« Das sei zwar ein Problem, aber eines, das in der Region verbreitet und »von der internationalen Gemeinschaft akzeptiert« sei. Die schrumpft in Washington traditionell auf Washington zusammen. Zum NATO-Land Türkei und dessen Geheimdienst MIT habe es jedenfalls »einen ständigen Kommunikationskanal« gegeben, aber die Türken hätten die HTS-Offensive, die »ursprünglich im Oktober kommen« sollte, gestoppt: »Der MIT hielt damals zwei Treffen in Idlib und mindestens zwei in der Südtürkei ab. Alles nur, um zu sagen: ›Wagt es nicht, diese Offensive zu starten.‹ Innerhalb von Stunden flogen russische Kampfflugzeuge dann zum ersten Mal seit vier Monaten eine massive Luftangriffskampagne, die hauptsächlich Waffen- und Munitionslager traf, die für die Offensive angelegt worden waren.«

Demnach sind die Beziehungen zwischen Ankara und Moskau etwas komplexer, als es den Anschein hat. Lister glaubt jedenfalls kaum, »dass die Türkei der jetzigen Offensive, sechs Wochen später, grünes Licht gegeben hat. Sie wurde auf dem falschen Fuß erwischt. Aber sobald der Vormarsch begonnen hatte und das Regime zu wanken begann, hatte Ankara allen Grund, auf den Zug aufzuspringen.« Die Frage, von wem dann das grüne Licht kam, stellte die FAZ nicht. Beantwortet sich offenbar von selbst.

Lister glaubt jedenfalls kaum, »dass die Türkei der jetzigen Offensive, sechs Wochen später, grünes Licht gegeben hat. Sie wurde auf dem falschen Fuß erwischt. Aber sobald der Vormarsch begonnen hatte und das Regime zu wanken begann, hatte Ankara allen Grund, auf den Zug aufzuspringen.«

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (16. Dezember 2024 um 11:54 Uhr)
    Das Machtvakuum in Syrien, das durch den Bürgerkrieg entstanden war, wurde von zwei Akteuren mit großen regionalen Ambitionen gefüllt: Russland und Iran. Beide hatten das Ziel, die Vereinigten Staaten als dominierende Macht im Nahen Osten abzulösen. Doch die Dynamik hat sich inzwischen grundlegend verändert. Russland ist tief in seinen Krieg gegen die Ukraine verstrickt, während Iran von Israel – mit Unterstützung der USA – in die Schranken gewiesen wurde. Da weder Russland noch Iran in der Lage waren, Assad ein weiteres Mal zu stützen, blieb ihm letztlich keine andere Wahl, als aufzugeben. Gleichzeitig hatte die Türkei ihre strategischen Einflussmöglichkeiten über Jahre hinweg kontinuierlich ausgebaut. Berichten zufolge haben die USA laut Außenminister Antony Blinken nun Kontakt zur islamistischen HTS-Miliz aufgenommen, die maßgeblich an Assads Sturz beteiligt war. Bemerkenswert ist, dass die HTS vom Westen weiterhin als Terrororganisation eingestuft wird. Dennoch scheint Washington entschlossen, sich erneut als die externe Macht mit dem größten Einfluss auf die Entwicklung der Region zu positionieren. Der Zusammenbruch des Assad-Regimes verändert die machtpolitische Landschaft in Syrien und darüber hinaus grundlegend. Wie sich die Lage im Land entwickeln wird, bleibt ungewiss. Ein klarer Gewinner zeichnet sich jedoch ab: die Türkei. Erdogans langjährige Unterstützung der Rebellen hat sich am Ende ausgezahlt, und der Einfluss Ankaras auf das künftige Syrien dürfte beträchtlich sein. Eine der zentralen offenen Fragen bleibt, ob der Konflikt mit den syrischen Kurden eskalieren wird. Diese haben im Norden des Landes ein Autonomiegebiet aufgebaut, das nun zunehmend unter Druck geraten könnte. Es scheint, als stünde Syrien vor einer Phase der Aufteilung – mit neuen Grenzen und verschobenen Machtverhältnissen. Dies ist kaum überraschend, da das Land weder je einheitlich war noch langfristig so geführt werden kann.
  • Leserbrief von CMF aus Ehemalige Friedensstadt OS (13. Dezember 2024 um 20:50 Uhr)
    Herrn Listers Worte gehen nach wie vor, wie in den Mitt-2010er Jahren, als er als »Experte« in der internationalen Presse hochgejazzt wurde, runter wie Öl. Danke für die Zusammenfassung dieser bemerkenswerten Expertise dieses Vorzeigebeispiels dafür, warum »Thinktanker« – Denkfabrikanten, meine Übersetzung – als Rubrik unter den nicht bloß unbeliebtesten, sondern verachtenswertesten Berufsgruppen geführt werden dürfen.

Ähnliche:

  • Nach mehr als einem halben Jahrhundert endet die Assad-Dynastie:...
    09.12.2024

    Assad gestürzt

    Dschihadistische Milizen ziehen in Damaskus ein. Vom syrischen Staatschef fehlt jede Spur
  • Protest am Sonnabend in Tbilissi
    09.12.2024

    Schlägertrupps unterwegs

    Die Entwicklungen in Georgien und Syrien richten sich gegen die Interessen Russlands

Mehr aus: Wochenendbeilage

Alle redaktionellen Beiträge zur RLK25 sind nun hier verfügbar