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Aus: Ausgabe vom 21.12.2024, Seite 12 / Thema
Malerei

Der Mann in der Luft

Vernichtung, Krieg, Exil. Marc Chagall malte die Katastrophen des 20. Jahrhunderts – und hielt an einer utopischen Hoffnung fest
Von Barbara Alms
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Marc Chagall: »Der Krieg« (1964–1966), Öl auf Leinwand, 163 × 231 cm

Marc Chagall (1887–1985), französisch-russischer Maler jüdischer Herkunft, gilt als einer der bedeutendsten Künstler der europäischen Moderne. Sein Werk aus traumgleichen Gemälden in glühenden Farben, Zeichnungen, Keramik und Glasfenstern schuf er in einem fast hundert Jahre umspannenden Leben. Seine Bilder gehören zur großen europäischen Kunstgeschichte. Skandalöserweise verdrängt aber ist bis heute die geschichtsgesättigte, politische Seite seines Werks. Seit etwa zehn Jahren aber haben mutige Ausstellungsmacher begonnen, ihn neu zu positionieren.¹ Chagall war Zeuge des blutigen 20. Jahrhunderts, der Katastrophen seiner Zeit, Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung, Krieg und Exil, und er verstand sich als Verfechter eines universalen Humanismus.

Zwischen Witebsk und Paris

Im Unterschied zu den anderen Revolutionären der europäischen Malerei, die heute zu den Heroen der Klassischen Moderne gezählt werden, Cézanne, Matisse, Delaunay, Picasso ist Chagall kein Sohn von Künstlern und Unternehmern, von Kaufleuten und Bankiers der Gründerzeit. Er stammt aus Osteuropa, dem damals russischen Witebsk mit mehrheitlich jüdischer Bevölkerung im heutigen Belarus, und wurde als ältestes von neun Kindern in einer armen orthodox jüdischen Familie geboren. Doch in Paris, wo er nach einer Ausbildungszeit in St. Petersburg eintrifft und neben Archipenko, Léger, Modigliani, Soutine in der berühmten Künstlerkolonie La Ruche sein Atelier hat, auch mit Picasso bekannt ist, wird er zum Künstler der Avantgarde. Er verarbeitet Kubismus und Fauvismus, entdeckt den Louvre mit El Greco, Rembrandt, Goya, Manet und Courbet: »Mir war«, schreibt er, »als stünden die Götter vor mir«².

Unter den osteuropäischen Künstlern im Paris der Avantgarden ist Chagall der einzige, der seine russisch-jüdische Herkunft nicht leugnet, sondern sie fortlaufend thematisiert. »Ich will ungezähmt und wild bleiben«, schreibt er in seiner literarisierten Autobiographie, »mich mit Laub zudecken, schreien, weinen, beten«.³ Wie Picasso von der afrikanischen Kultur inspiriert war, so macht Chagall – beispielhaft in den berühmten Bildnissen der Rabbiner – die chassidische Tradition bildwürdig. Entscheidend für seinen Erfolg aber ist, dass ihm wie in seinem Meisterwerk »Gewidmet Russland, den Eseln und den anderen« aus dem Jahr 1911/12 schon früh eine Synthese der eigenen Bilderwelt mit der westlichen Kunst gelingt. Im Geist der Abstraktion der Moderne inszeniert Chagall farbige Formen vor schwarzem Hintergrund. Spitzwinklige Dreiecke stoßen wie astrale Lichtprismen oder Himmelsgeschosse in den Raum. Doch das gegenständliche Material bezieht er aus seinen Erinnerungen an Witebsk. Der jüdische Alltag, poetisch verwandelt, wird selbstbewusst in die Kunstgeschichte der Moderne eingeschrieben.

Unübersehbar: Die Gegenstände befinden sich in Dynamik. Wie das Werk keines anderen Pariser Künstlers reflektieren Chagalls Gemälde doppelbödig etwas von der ständigen Bewegung, den Albträumen und den Zusammenstößen, von denen die moderne Welt mit ihren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen gekennzeichnet ist. Die Sensibilität für das Beben, von dem Russland lange vor der Großen Revolution von 1917 und ganz Europa erschüttert wurden, ist eine wichtige Voraussetzung für Chagalls späteres Werk, mit dem er auf Vertreibung und Vernichtung reagieren wird.

Mitleidende Menschlichkeit

Das Jahr 1914, als Chagall beim Besuch in Witebsk vom Beginn des Krieges überrascht wird, ohne Möglichkeit der Rückkehr nach Paris,⁴ markiert eine Wende in seiner Malerei. Chagall macht in einer bis heute kaum bekannten Werkfolge den Ersten Weltkrieg zum künstlerischen Gegenstand und gewinnt für sein Werk ein neues Vokabular. Im Blatt »Der Krieg« setzt er die Symbolfigur des Geigers, eine Zentralfigur seines Schaffens, als blinden Seher wie festgenagelt an einem Fensterkreuz vor den Hintergrund des Kriegspanoramas mit marschierenden Soldaten. Dem Künstler sind Nationalismus und Kriegsbegeisterung fremd. Namentlich prangert er in Schriftbändern, deren Vorbild er der Bildsprache mittelalterlicher Malerei entnimmt, die kriegführenden Nationen an, Deutschland, Frankreich, Belgien, Japan, Serbien, Russland, England. Er thematisiert (»Bauernpaar«) in einfachen Bildfindungen Trennung, Schmerz und Angst, die Abkommandierung in den Krieg. In »Der verwundete Soldat« die Rückkehr eines Soldaten von der Front als Versehrter, mit breitem Kopfverband. In »Die Flüchtlinge« zeigt er die Menschen, die trotz des Verlusts von Heimat, trotz ihrer Notsituation Tier und Kind zu schützen und zu retten suchen. Er macht (»Das Wiedersehen«) schließlich auch den Schock kenntlich, den das Wiedersehen der heimgekehrten Soldaten mit den daheimgebliebenen Frauen bedeutet. Chagall arbeitet mit strenger Kontur und einer abstrahierenden Ausspartechnik, die aufs Wesentliche zielt. Lebenslang ist seine Malerei gegenständlich und doch von abstrahierender Kraft. »(T)iefe mitleidende Menschlichkeit«, so urteilt der sowjetische Kunsthistoriker Alexander Kamenski, »ist der eigentliche Leitfaden, der Chagalls ganzes Oeuvre durchzieht«.⁵

Der wandernde Jude

Der Aufstieg des Faschismus in den 1920er Jahren verändert das Leben der Juden in ganz Europa. Nach Frankreich zurückgekehrt, nimmt Chagall die Pogrome des Jahres 1923 im Berliner Scheunenviertel sowie den Münchner Hitler­putsch mit Entsetzen wahr. Stärker als zuvor reflektiert er sein Exildasein. Als Leitmotiv, das sein gesamtes Werk durchziehen wird, entwickelt Chagall die Gestalt des wandernden Juden mit Wanderstab und Sack über der Schulter. Er skizziert die Gestalt nahe am Verschwinden, verdrängt und bedroht bis hin zur Unkenntlichkeit. Er gibt dem Begriff des ›Luftmenschen‹ verschiedene Bildfassungen. In der jiddischen Literatur beschreibt der Begriff den mittellosen Bewohner der Schtetl Osteuropas, von Elend und Verfolgung bedroht, ohne Chance, eine Heimat zu finden.

Wenn es Chagall im Vorkriegs-Paris darum ging, wie er selbst sagte, »die Magie der Welt« auszudrücken, so beginnt er nun, eine Gegengeschichte aus der Sicht der Vertriebenen und Verfolgten zu erzählen. Im Gemälde »Über ­Witebsk« aus dem Jahr 1923 hat das Motiv die für die Kunstgeschichte bleibende poetische Prägung gefunden. 15 Jahre später aber, im Jahr 1938, im Entsetzen über die Novemberpogrome in Deutschland, schärft Chagall das Bild des wandernden Juden zur Gestalt des vertriebenen, des mit allen Anzeichen des Entsetzens fliehenden Juden im Chaos einer apokalyptischen Welt. Ästhetisch hat der Künstler die Vorstellung von intakten, glatten Flächen aufgegeben, sie halten den geschichtlichen Ereignissen nicht stand. Dass Chagall der Gestalt des Fliehenden eine nicht nur allgemein historische Bedeutung verlieh, sondern ihr ein für ihn selbst existenzielles Gewicht zuschrieb, macht er im Jahr 1950 kenntlich. Nun befindet er sich in einem weiteren Exil, im amerikanischen, und er gibt seine persönliche Betroffenheit preis. Er schreibt: »Der Mann in der Luft in meinen Gemälden bin ich. (…) Früher war ich es nur zum Teil. Jetzt bin ich es ganz. Ich bin nirgendwo verankert. Ich gehöre nirgendwo hin.«

»Serie der Vorahnungen«

Auf die Ereignisse des sich formierenden Faschismus und Antisemitismus reagiert Chagall mit Bildwerken, die er »Serie von Vorahnungen« nennt. In unmittelbarer Reaktion auf die Ernennung Hitlers zum deutschen Reichskanzler entsteht 1933 das Bild »Einsamkeit«. Es ist – wie alle großen Bildwerke der 1930er Jahre – eine Kombination von traditionsverhafteten biblischen Motiven und aktuellen Bezügen gegenwärtiger Bedrohung. Das Bildnis ist auch eine Selbstspiegelung: Der Künstler selbst fungiert als Zeuge. Das Gemälde »Abraham beweint Sarah« vergegenwärtigt eine Bibelerzählung (1. Mose 23) und gleichermaßen bedrängende Gegenwart. Vor allem aber ist es ein universal gültiges Bild fundamentaler Trauer. Wie Thomas Mann, der in seinem Romanwerk »Joseph und seine Brüder« die biblische Geschichte neu für die Gegenwart erzählt, ist Chagall ein Bildermacher, der die Kraft und Wahrheit des biblischen Mythos neu veranschaulicht. Dabei wollte Chagall nie ein religiöser Maler sein, das bekräftigt er mehrfach,⁶ doch hat ihn der Wahrheitsgehalt der biblischen Erzählungen, ihre »Poesie«, wie er schreibt, »bis zuletzt nicht losgelassen«.⁷

Als das bedeutendste Gemälde der »Vorahnungen« gilt die Erfindung des blutroten Menetekels, das Chagall 1934 als Symbol der Zerstörung der Weltordnung im Gemälde »Der Engelssturz« realisiert. Das Motiv des stürzenden Engels entnimmt er der christlichen Eschatologie. In seiner Umdeutung stürzt der Engel mit der Anspielung auf Luzifer, die Flügel weit gebreitet, im Entsetzen über die Verbrechen der Menschen und mit zum Schrei geöffnetem Mund auf die finstere Erde. Die Wucht des Bildes ist wesentlich bestimmt durch die Kraft der Farben, den monumentalen Einsatz von Rot in der Fläche eines tiefschwarz gewölkten Raums. In einer letzten Bearbeitung des Motivs im Jahr 1947 stellt Chagall entsprechend der Lehre des Chassidismus, dass in allem Lebendigen Gottes Name anwesend ist, das Gute neben das Böse, »heilige Funken der Herrlichkeit«⁸ neben die Symbole der Katastrophe. Schweigen und Ohnmacht will Chagall in dem durch die Jahrzehnte in aller Bedrängnis immer wachsenden Bemühen überwinden, eine versöhnende Sprache für das Widersprüchliche und die Verbrechen des 20. Jahrhunderts zu finden.

Der jüdische Märtyrer

Die Vernichtungspolitik der ­Nazis gibt Anstoß zu einer radikal neuen Metaphorik. Chagall wird zu dem Maler, der in direkter Reaktion auf die Deportation von 30.000 Juden im Oktober 1938 in Polen und die »Reichskristallnacht« am 9. und 10. November 1938 in Deutschland das verstörende Werk »Die weiße Kreuzigung« malt. Es ist die erste von Chagalls zahlreichen Kreuzigungsdarstellungen der 1930er und 1940er Jahre.

Das bleiche Bild gleicht einer vom Tod gezeichneten Landschaft. Ins Zentrum des Bildes setzt der Künstler bedeutsam das Symbol, das in der christlich-abendländischen Welt den Ausdruck von höchstem Leiden verkörpert, die Kreuzigung. Aber gegenläufig überschreibt er durch rituelle Attribute, den jüdischen Gebetsschal, den Tallit, um die Hüfte des Gekreuzigten sowie eine Inschrift, welche die christliche Figur als jüdischen Märtyrer kenntlich macht. Im Stil mittelalterlicher Bilder befinden sich rund um das Zentrum des Gekreuzigten oben und unten chaotische Szenen: Links und rechts brennende Dörfer. In der Mitte ein Boot mit Verfolgten, die sich zu retten versuchen. Links unten ein angeprangerter Jude und der fliehende Rabbi mit der Thora. Rechts unten der wandernde Jude auf der Flucht. Doch zu Füßen der Kreuzigung – wie ein Zeichen unauslöschlicher Hoffnung – plaziert Chagall die siebenarmige Menora als Symbol einer anderen Welt, in der Versöhnung möglich ist.

Neu ist die konsequent skizzenartige Figurendarstellung. In Walter Benjamins Versen aus den 1920er Jahren formuliert sich ein ähnliches Bewusstsein der Fragilität und Gefährdung, wie es auch in Chagalls Figurenwelt kenntlich wird: »Ich bin ein Maler der aus Schatten / Das wunderbarste Bildnis malt.«⁹ Die Schattenhaftigkeit entspricht einer Ästhetik, welche die Auslöschung der Juden nur im Flüchtigen des Verschwindens sichtbar machen kann.

Der Philosoph Leon Joskowitz hat von der geradezu »genialen« Erfindung des »jüdischen Jesus« gesprochen. Chagall habe eine Symbolsprache gefunden, schreibt Joskowitz, um »den grausamsten Ereignissen des 20. Jahrhunderts ein ästhetisches Zeugnis abzuringen«. Indem der Künstler die Ereignisse dem herkömmlichen historisch-theologischen Kontext enthebt und der Erzählung der Kreuzigung Geltung für die traumatischen Ereignisse der Gegenwart verleiht, stoße er vor zu einer universalen Aussage und Anklage.¹⁰ In der Intensität der Beschwörung des jüdischen Leidenswegs gewinnt das Gemälde »Die weiße Kreuzigung« so »die zeitlose Tiefe einer Ikone«.¹¹

Es ist Chagalls Überzeugung, dass das ungeheure Maß an realem Leiden kein Vergessen duldet. Doch seit 1951, seit Adorno den apodiktischen Satz in die Welt schickte: »Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch«, ist alle Kunst, die um eine Darstellung des Ungeheuren nationalsozialistischer Verbrechen ringt, zur Rechtfertigung aufgerufen. Den Massenmord selbst hält Chagall für nicht darstellbar. In immer neuen Bildfindungen verdichtet er das Geschehen symbolisch, so auch in dem Gemälde »Die Gekreuzigten« von 1944. Mit der Erfindung der drei schwarzen Kreuzigungsdenkmale in einer düsteren Welt der Vernichtung entwickelt Chagall eine Bildsprache, in der er die Gemarterten der Schoah, das Leiden der Jüdinnen und Juden, die verbrannten Dörfer und die Auslöschung der Bevölkerung, nachdrücklich in die Kunstgeschichte einschreibt. Als Zeugen der alptraumhaften Szene benennt er stellvertretend für sich selbst, etwas oberhalb, den Ereignissen ein wenig entrückt, den Künstler, den einsamen Juden auf dem Dach. Was Hans Magnus Enzensberger über die jüdische Dichterin Nelly Sachs schrieb, dass ihrer Sprache »etwas Rettendes« innewohne, gilt auch für Chagall: Wie die Dichtung möchte auch die Malerei den Menschen zu sich selbst, auf menschliches Fühlen und Denken, zurückführen.

Nur in wenigen Skizzen, nicht in Gemälden, macht Chagall die Täter des faschistischen Deutschlands explizit namhaft. Bekanntestes Beispiel ist die Skizze »Apokalypse in Lila«, in der Chagall die Figur des Täters, Henkers oder Helfershelfers mit einer Hakenkreuzarmbinde als deutschen Faschisten markiert.¹² Sein Verhältnis zu Deutschland bleibt zeitlebens schwer belastet. Obwohl er nach dem Zweiten Weltkrieg zwar für Kirchen und Museen in Deutschland arbeitet, betritt er selbst, der Vielreisende, deutschen Boden nie wieder.

Es schien Chagall von hoher symbolischer Bedeutung, dass seine Ankunft im US-amerikanischen Exil mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Sowjetunion am 23. Juni 1941 zusammenfiel. Hunderttausende Menschen in den ländlichen Gebieten Polens und der Sowjetunion wurden von deutschen Einheiten ermordet, ihre Dörfer verbrannt.¹³ Im weißrussischen Witebsk überlebten – laut der britischen Chagall-Biographin Jackie Wullschlager – nur 118 von 240.000 Einwohnern. Auf das gewaltige Morden, das mit dem Russlandfeldzug Deutschlands beginnt und die Heimat seiner Kindheit zerstört, reagiert Chagall mit Geschichtsbildern, die ihren Höhepunkt im Jahr 1966 finden.

Nicht schweigen

Das Gemälde »Feuer im Schnee« von 1942 kombiniert zwei wichtige Bildkomplexe von Chagalls Kriegsdarstellungen: links das Motiv der Zerstörung, das Dorf in Flammen, Schnee und Kälte im Winter des Überfalls, rechts das Symbol universaler Humanität, die Konstellation von Mutter und Kind im Vernichtungskrieg. Die giftgrüne Farbigkeit trägt zum Schrecken bei, und doch ist das Grün für Chagall ambivalent, es ist gleichermaßen die Farbe der Mystik und Meditation. Über das hinaus, was die Juden Europas erleiden müssen, erhebt Chagall einen universalen Anspruch. »In der Kunst gibt es keinen Nationalismus«, keinen Rassismus, sagt er.¹⁴ Das geschichtliche Drama von Krieg und Vernichtung deutet er als Katastrophe der Humanität, eine »weltweite Tragödie, die alle Menschen« trifft.

Chagall vertritt einen universalen Humanismus, der keinen Unterschied der Nationen, Religionen und Kulturen kennt. Um so mehr Entsetzen bekundet er über das Versagen der Künstler der christlichen Welt: »Nach zwei Jahrtausenden des Christentums in der Welt sind – man mag sagen, was man will, mit wenigen Ausnahmen – ihre Herzen stumpf. (…) Ich sehe die Künstler in den christlichen Nationen stillsitzen – wer hätte sie aufschreien hören?«¹⁵ Die Pflicht des Künstlers aber sei es, nicht zu schweigen, sondern das Leid der Menschheit zu manifestieren. Im Jahr 1966, fast achtzig Jahre alt, malt er den Krieg noch einmal, nun aber im monumentalen Format. Unter dem Symbol der riesigen weißen Kuh, Bild archaischer Tierwelt und Hoffnung utopischer lebensweltlicher Harmonie, spiegelt Chagall in den dramatischen Farbkontrasten von tiefschwarzem Himmel, brennenden Dörfern und weißem Schnee den Vernichtungskrieg der deutschen Wehrmacht: Häuser brennen, Tod und Vergewaltigung herrschen, ein mit Menschen vollgepackter Karren verlässt mühsam den Ort des Unheils. In der Bildmitte ist der wandernde Jude zu sehen. Im Schnee sind Tote hingestreckt. Menschen weinen und klagen. Rechts oben im Halbdunkel, fast nur zu ahnen, ist der jüdische Märtyrer dargestellt. Das Schwarz mit seiner Radikalität und der Bedeutungsdimension des Todes ist monumental gesteigert eingesetzt und zeigt Chagalls Meisterschaft, mit der er gleichsam Inseln reiner Malerei Bildfunktion verleiht.

Das Gemälde »Der Krieg« bildet den Höhepunkt und Abschluss seiner Geschichtsbilder, mit dem er gegen Ende seines Lebens noch einmal – als engagierter Künstler – den faschistischen Vernichtungskrieg im Osten bezeugt und anklagt. Wie alle Kunst, wie Picassos »Guernica«, will das Bild die Sprachlosigkeit angesichts des Entsetzlichen menschlicher Grausamkeit überwinden. Wie in den »Desastres de la Guerra« von Francisco Goya gibt es in Chagalls Bild keinen Sieg des Guten. Aber in dem traumhaft überdimensionalen weißen Tier eine utopische ­Hoffnung.

Anmerkungen:

1 In der Ausstellung »Chagall: Love, War, and Exile« im Jahr 2013 thematisierte das Jewish Museum, New York, erstmals die Fülle von Kriegs- und Kreuzigungsdarstellungen in Chagalls Werk.

2 Marc Chagall: Mein Leben, Stuttgart 1959, S. 100

3 Ebd., S. 49

4 Chagall wird eingezogen. Seinen Kriegsdienst für das zaristische Russland leistet er als Gehilfe in einem Armeebüro in Petrograd, wie St. Petersburg von 1914 bis 1924 hieß. Ab 1918 baut er als Volkskommissar der Künste die Kunstakademie in Witebsk auf.

5 Alexander Kamenski: Chagalls Frühwerk in der Sowjetunion. In: Marc Chagall: Die russischen Jahre 1906–1922, Frankfurt/M. 1991, S. 46

6 Chagall 1929: »Ich bin nicht religiös und bin es nie gewesen.« Zit. n. Sidney Alexander: Marc Chagall. Eine Biographie, München 1984, S. 269

7 Udo Liebelt: Zum jüdischen Erbe und zur Bibel von Marc Chagall. In: Marc Chagall: Himmel und Erde. Druckgraphik und andere Werke. Bearb. u. komm. v. Udo Liebelt, Hannover 1996, S. 224

8 Baal-Schem-Tov: Unterweisung im Umgang mit Gott. In: Martin Buber: Werke, Bd. 3: Schriften zum Chassidismus, München 1963, S. 63

9 Walter Benjamin: Sonette. Hg. v. Rolf Tiedemann, ­Frankfurt/M. 1986, S. 63

10 Leon Joskowitz: Der jüdische Jesus. In: Chagall. Welt in Aufruhr, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Hg. v. Ilka Voermann, München 2022, S. 55 u. 51

11 Ingo F. Walther; Rainer Metzger: Marc Chagall 1887–1985. Malerei als Poesie, Köln 1987, S. 64

12 Die »Apokalypse in Lila« hat Chagall lebenslang nicht in die Öffentlichkeit gegeben, sondern in seinem persönlichen Besitz gehalten.

13 Vgl. Florian Wieler u. Frédéric Bonnesoeur (Hg.): Verbrannte Dörfer. Nationalsozialistische Verbrechen an der ländlichen Bevölkerung in Polen und der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, Berlin 2024

14 Chagall 1977, zit. n. Alexander (Anm. 6), S. 222

15 Chagall Rede, Februar 1944. Zit. n. Marc Chagall on Art and Culture, hg. v. Barbara u. Benjamin Harshav, Stanford 2003, S. 90. (Übers. B. A.)

Der Beitrag ist eine stark gekürzte Fassung des Vortrags »Marc Chagall – Krieg. Exil. Liebe«, den Barbara Alms im Rahmen der Deutsch-Russischen Friedenstage am 16. Oktober 2024 in Bremen im Haus der Wissenschaft gehalten hat.

Barbara Alms leitete die Städtische Galerie Delmenhorst von 1989 bis 2010. Letzte Buchveröffentlichung »Die gleißenden Gipfel. Malerei zwischen Mythos und Moderne« (Köln 2021).

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