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Aus: Ausgabe vom 17.12.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Syrien

»Menschenwürde« entdeckt

Syrien: Westen knüpft Kontakte zu Terrormiliz HTS. Ruf nach Aufhebung von Sanktionen wird lauter
Von Wiebke Diehl
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Seit Jahren leidet die syrische Zivilbevölkerung unter Sanktionen (Douma, 14.12.2024)

Nach dem Sturz der syrischen Regierung durch dschihadistische Milizen wird plötzlich der Ruf nach Aufhebung der Syrien-Sanktionen laut. So forderte etwa der UN-Sondergesandte Geir Pedersen am Sonntag bei seiner Ankunft in Damaskus, es müsse alles für eine »wirtschaftliche Erholung« des Landes getan werden. »Wir werden hoffentlich ein schnelles Ende der Sanktionen sehen, so dass wir wirklich ein Wettrennen um den Wiederaufbau Syriens sehen werden«, so Pedersen, der außerdem mehr humanitäre Hilfe für die syrische Bevölkerung sowie eine »inklusive« Übergangsregierung anmahnte.

Schon zu Beginn vergangener Woche hatte mit dem US-Kongressabgeordneten Joe Wilson einer der bislang lautesten Befürworter der Syrien-Sanktionen die Biden-Administration aufgefordert, die »Strafmaßnahmen«, die den Wiederaufbau des Landes und ausländische Investitionen verhindern, nicht aber die gegen ehemalige Assad-Funktionäre gerichteten Maßnahmen aufzuheben. Allerdings unterliegen auch die neuen Machthaber der Haiat Tahrir Al-Scham (HTS) seit 2014 UN-Sanktionen. Ihr Anführer, der neuerdings lieber seinen bürgerlichen Namen Ahmed Al-Scharaa anstatt seines Kampfnamens Abu Mohammed Al-Dscholani benutzt, wurde schon 2013 mit UN-Sanktionen belegt. Damals war er noch Al-Qaida-Mitglied.

Zahlreiche Videos belegen, dass HTS-Kämpfer ihrem Versprechen, Minderheiten und Andersdenkende zu schützen, keinesfalls nachkommen: Täglich richten sie Angehörige von Minderheiten und syrische Soldaten hin. Die HTS war außerdem schon während ihrer Herrschaft über Idlib dafür bekannt, aus dem Westen gelieferte Hilfsgüter ausschließlich ihren Günstlingen zukommen zu lassen. Trotzdem hat die Bundesregierung kurz nach dem Sturz der Regierung von Baschar Al-Assad acht Millionen Euro für humanitäre Hilfe zur Verfügung gestellt. Diese über die syrische Regierung zu leisten, hat sie hingegen jahrelang verweigert. Ein Blick in die Geschichte beweist die Kontinuität westlicher Politik: Ein einziges Mal hat die EU im Jahr 2013 ihr Ölembargo gegen Syrien aufgehoben. Dadurch unterstützte man den HTS-Vorläufer, die Al-Nusra-Front, die damals einen Großteil der syrischen Ölquellen kontrollierte – bis sie diese an den ebenfalls unter UN-Sanktionen stehenden »Islamischen Staat« (IS) verlor.

Fast 15 Jahre lang haben die USA, die EU und ihre Verbündeten mittels Sanktionen das Leid der syrischen Zivilbevölkerung erhöht. Das Ziel: diese zum Sturz der Regierung oder zumindest zur Aufgabe ihres Widerstands gegen eine Machtübernahme dschihadistischer Milizen zu bewegen. Im November 2022 warnte UN-Sonderberichterstatterin Alena Douhan, die Syrien-Sanktionen träfen die gesamte syrische Bevölkerung, ein menschenwürdiges Leben sei unter ihnen nicht möglich. Infrastruktur könne nicht repariert und Ersatzteile für das Stromnetz oder medizinische Geräte könnten nicht bestellt werden. Der Import von Treibstoff sei nicht mehr möglich, Brennstoffe und Strom würden knapp, was die Bewässerung von Feldern, den Transport von Lebensmitteln, die Kühlung von Impfstoffen und die Beleuchtung von Schulen erheblich erschwere. Damals lebten bereits 90 Prozent der Syrer unter der Armutsgrenze. Der Zugang zu Wasser, Nahrungsmitteln und Medikamenten war seit Jahren stark eingeschränkt.

Brüssel hat immer wieder betont, die Sanktionen sollten einen Wiederaufbau Syriens, dessen Kosten die UNO auf bis zu eine Billion US-Dollar schätzt, verhindern, solange die Regierung Assad an der Macht sei. Dem gleichen Zweck diente auch der US-amerikanische »Caesar Act« von 2019, der die bereits seit Jahrzehnten bestehenden US-Sanktionen erheblich verschärfte. Bestraft wurden fortan alle Unternehmen und Privatpersonen, die Geschäfte mit der syrischen Regierung und ihren Militär- und Geheimdiensten tätigten.

Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas gibt sich gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters zwar zurückhaltender als der UN-Syrien-Beauftragte und der US-Kongressabgeordnete Wilson: Man werde die Sanktionen erst aufheben, wenn die neuen Machthaber sicherstellten, dass Minderheiten nicht verfolgt und die Rechte von Frauen geschützt würden. Zur HTS will die EU jetzt aber offenbar Beziehungen aufnehmen – zunächst auf Arbeitsebene. Frankreich kündigte am Sonntag an, erstmals seit zwölf Jahren ein Team von Diplomaten nach Damaskus zu entsenden. Bereits am Sonnabend hatte US-Außenminister Antony Blinken bekanntgegeben, Washington, das 2012 ein Kopfgeld von 10 Millionen US-Dollar auf Dscholani ausgesetzt hat, habe direkten Kontakt mit den HTS-Milizen »und anderen Parteien« aufgenommen, um den 2012 in Syrien entführten US-Journalisten Austin Tice ausfindig zu machen. Am Sonntag sagte auch der britische Außenminister David Lammy, man habe »diplomatischen Kontakt« zur HTS. Einen Tag später verkündete die deutsche Bundesregierung, mit den neuen Machthabern in Damaskus in Verbindung treten zu wollen.

Vor dem Umsturz durch dschihadistische Gruppen sollen die USA und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) erwogen haben, die Syrien-Sanktionen aufzuheben, wenn sich Assad vom Iran distanziert und die Waffenrouten zur libanesischen Hisbollah kappt. Man hat sich demnach Hoffnungen gemacht, dass Damaskus auf das Angebot eingehen würde, da die Position der dortigen Regierung durch den israelischen Krieg gegen den Libanon, für den die Hisbollah einen Großteil ihrer Kämpfer aus Syrien abziehen musste, geschwächt war. Die VAE haben ein Interesse an der Aufhebung der Sanktionen, weil sie in den Wiederaufbau des Landes investieren wollen. Dort dürfte man sich ebenso wie in Brüssel und Washington über die Ankündigung des Vorsitzenden der Handelskammer von Damaskus, Bassel Hamwi, vom vergangenen Dienstag freuen, derzufolge in Syrien eine freie Marktwirtschaft eingeführt werde.

Hintergrund: Der Ukraine-Nexus

Die ukrainische Regierung hat humanitäre Hilfe für Syrien angekündigt. In seiner abendlichen Videoansprache sagte Präsident Wolodimir Selenskij am Sonntag: »Jetzt können wir den Syrern mit ukrainischem Weizen, Mehl und unserem Öl helfen.« Man werde »diese Region auf jeden Fall unterstützen, damit die Ruhe dort zu einem Stützpfeiler für unsere Bewegung hin zu einem echten Frieden werden kann«.

Wie unterschiedliche Medien berichteten, sind dem ukrainischen Geheimdienst unterstellte Agenten seit Jahresbeginn im syrischen Idlib aktiv. Dort hätten sie HTS-Kämpfer im Umgang mit Drohnen geschult und seien auch selbst an Angriffen auf die syrische Armee beteiligt gewesen. Laut Washington Post stellte der ukrainische Geheimdienst der HTS vor vier bis fünf Wochen zudem etwa 20 erfahrene Drohnenpiloten und circa 150 Drohnen zur Verfügung.

Seit Juni führen nach Angaben der Kyiv Post ukrainische Söldner gemeinsam mit Dschihadisten Drohnenangriffe auf russische Militärstützpunkte in Syrien durch. Im Gegenzug kämpfen laut russischen Verteidigungsbeamten Kämpfer terroristischer Gruppen aus Idlib bereits seit März 2022 im Ukraine-Krieg gegen Russland. Am Mittwoch schrieb das Magazin Military Watch, Washington und Ankara verhandelten darüber, die umfangreichen syrischen Waffenarsenale an die ukrainischen Streitkräfte zu übergeben. Allerdings zerstört die israelische Luftwaffe seit über einer Woche Einrichtungen und Arsenale der syrischen Armee.

Am Sonntag hat Moskau einige russische Diplomaten sowie belarussische und nordkoreanische Auslandsvertreter über seinen Luftwaffenstützpunkt Hmeimim evakuiert. Die Arbeit in der Botschaft in Damaskus gehe aber weiter, hieß es. In den vergangenen Tagen waren russische Militärs von der Front auf die beiden russischen Hauptstützpunkte in Latakia und Tartus zurückgezogen worden. Die Stützpunkte bleiben laut Kreml aber bestehen. Man befinde sich über deren Zukunft in Gesprächen mit den neuen Machthabern. (wd)

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