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Aus: Ausgabe vom 17.12.2024, Seite 4 / Inland
Ampel passé

Mit der nötigen Reife

Vertrauensfrage: Parteien läuten mit Aussprache den Bundestagswahlkampf ein. Scholz attackiert FDP, Merz die Bürgergeldbezieher
Von Kristian Stemmler
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Geht raus, um zu bleiben: Der Bundeskanzler verlässt am Montag den Plenarsaal des Bundestages

Vor der Abstimmung über die von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gestellte Vertrauensfrage ist es am Montag im Bundestag zu einer teils scharf geführten Aussprache über die Politik der Regierung gekommen. Die meisten Redebeiträge zielten allerdings bereits unverkennbar auf die Positionierung der jeweiligen Partei im Wahlkampf. In einer 25minütigen Erklärung begründete Scholz den Schritt mit einer Richtungsentscheidung, um die es nach dem Ampel-Aus gehe. Die sei so wichtig, dass sie vom »Souverän, den Wählerinnen und Wähler, selbst getroffen werden muss«.

Scholz wiederholte, was er zuletzt bereits mehrfach am selben Ort vorgetragen hatte. Wie die SPD-Redner nach ihm griff er vor allem die FDP an. Ihr und ihrem Chef Christian Lindner warf er mit Blick auf das sogenannte »D-Day«-Papier, in dem ein Zeitplan für den Ampelausstieg der Partei entwickelt worden war, vor, ihr fehle die »nötige sittliche Reife«. Mit »monatelanger Sabotage« der Regierungsarbeit habe die FDP der Demokratie geschadet. Erneut versuchte Scholz, die SPD als Garant für soziale Gerechtigkeit, eine »Erneuerung des Landes« sowie innere und äußere Sicherheit darzustellen.

»Politik zugunsten der einen auf dem Rücken der anderen« sei mit ihm nicht zu machen. Der Kanzler versprach, für eine Erhöhung des Mindestlohns von zwölf auf 15 Euro zu kämpfen und bekräftigte seinen Vorschlag, die Mehrwertsteuer für Lebensmittel von sieben auf fünf Prozent zu reduzieren. Er votierte für eine »maßvolle Öffnung« der Schuldenbremse und schloss eine Lieferung von deutschen Marschflugkörpern an die Ukraine erneut aus, ebenso eine Entsendung deutscher Soldaten in das Land. Auffallend war, dass Scholz sich auch in dieser Rede nicht gegen die Attacken der Union auf das sogenannte Bürgergeld wehrte.

CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz machte keinen Hehl daraus, wo er »sparen« will. Das Bürgergeld wolle er »vom Kopf auf die Füße stellen«, sagte Merz in der Aussprache. Von den 5,6 Millionen Beziehern seien 1,7 Millionen erwerbsfähig. Wer arbeiten könne und dies nicht tue, werde unter ihm als Kanzler »nicht mehr auf Kosten des Steuerzahlers seinen Lebensunterhalt bestreiten können«. Von den Beschäftigten forderte Merz, mehr zu arbeiten. FDP-Chef Lindner nahm Merz gegen die Kritik des Kanzlers in Schutz: Diese sei eine »blanke Unverschämtheit«.

Der Kanzlerkandidat von Bündnis 90/Die Grünen, Robert Habeck, kündigte an, dass seine Fraktion sich bei der Abstimmung enthalten werde, um Neuwahlen zu ermöglichen. Bei der Vertrauensfrage haben Enthaltungen denselben Effekt wie Neinstimmen. Habeck erklärte, es gehe jetzt darum, wie Politik wieder Vertrauen gewinnen könne. Der Union warf er »Betriebsblindheit und Selbstverliebtheit« vor, sie habe das Land in 16 Jahren »großer« Koalition in eine »tiefe Strukturkrise« geführt. Lindner erklärte, die Regierung Scholz sei nicht gescheitert, weil es an der Kompromissbereitschaft gefehlt habe. Vielmehr sei er als Finanzminister entlassen worden, weil er die Einhaltung der Schuldenbremse gefordert habe.

Sören Pellmann, Kovorsitzender der Gruppe Die Linke, erklärte, »drei Jahre Koalitionsgezerre« seien zu Ende. Scholz warf er vor, das Land »in eine der schwersten wirtschaftlichen Krisen seit Jahrzehnten« geführt zu haben und nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs »die heftigste Aufrüstungsspirale« in Gang gesetzt zu haben, »die die Bundesrepublik je gesehen hat«. Die BSW-Kovorsitzende Sahra Wagenknecht hielt sich kurz: Die Regierung habe das Leben der Menschen spürbar verschlechtert. »Drei Jahre Abstieg unseres Landes, und Sie bitten um vier Jahre Verlängerung. Das muss man erst mal bringen«, sagte Wagenknecht.

Vor der Sitzung waren Spekulationen aufgekommen, dass die AfD-Fraktion dem Kanzler das Vertrauen aussprechen könnte, um Verwirrung zu stiften. Allerdings gab es dafür keinerlei Anzeichen; nur einige wenige AfD-Abgeordnete hatten angekündigt, mit Verweis auf dessen Ukraine-Politik für Scholz zu stimmen. Auch die parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion, Katja Mast, war den Spekulationen entgegengetreten.

Die Vertrauensfrage wurde in der Geschichte der Bundesrepublik bisher fünfmal gestellt. In drei Fällen (Willy Brandt 1972, Helmut Kohl 1982 und Gerhard Schröder 2005) wurde dem jeweiligen Bundeskanzler das Vertrauen versagt und der Bundestag aufgelöst. In zwei Fällen (Helmut Schmidt 1982 und Gerhard Schröder 2001) sprach eine Mehrheit im Bundestag dem Kanzler das Vertrauen aus.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (17. Dezember 2024 um 16:48 Uhr)
    Der Blick in einen Grundgesetzkommentar (von Dr. Sodan, 5.Aufl. 2024, § 109 GG Seite 950) fördert Erhellendes zu Tage. Dort heißt es: »Der Anlass für die Durchbrechung der Schuldenbremse muss sich der Kontrolle des Staates entziehen. Dies schließt die Aufnahme von Notkrediten aus, die Krisen bewältigen sollen, die bereits lange absehbar waren oder gar von der öffentlichen Hand verursacht wurden (BVerfG NVwZ 2023, 1892 (1894)).« Der Herr Lindner hat mit seinem Verweis auf die Schuldenbremse da gar nicht so unrecht. Die derzeitige Wirtschaftskrise ist mit den Sanktionen gegen Russland und den daraus resultierenden, rasanten Energiepreiserhöhungen selbst verursacht worden. Mit den amerikanischen Sanktionen gegen Nord Stream 2 hat sich das lange vor dem russischen Eingreifen in den Donbasskrieg angekündigt. Dieses russische Eingreifen ist zudem mit konsequenter Missachtung der völkerrechtlich verbindlichen Minsker Abkommen selbst provoziert worden. Statt Kiew zur Umsetzung zu drängen, hat man seit 2014 der Legende gehuldigt, der Donbasskrieg sei kein Bürgerkrieg, sondern ein Krieg der Ukraine gegen Russland. Ukrainischerseits ist endlos der Kriegszustand mit Russland erklärt und die vertraglich fixierte Notwendigkeit direkter Gespräche mit den abtrünnigen Regionen negiert worden. Auch von deutscher Seite ist November 2021 die Notwendigkeit direkter Verhandlungen zwischen Ost- und Westukrainern negiert worden, was ein klares Bekenntnis zum Völkerrechtsbruch darstellte. Wenn eine Regierung unbedingt Mist bauen will, dann finde ich es nur gerecht, wenn die Rechnung dafür auch von jenen bezahlt wird, die so eine Mistregierung gewählt hatten, statt von unschuldigen nachfolgenden Generationen. Dass der Koalitionsbruch erst mit dem Ergebnis der US-Wahlen inszeniert wurde, deutet m. E. weniger auf ein Problem mit der Schuldenbremse, sondern mehr auf ein Problem mit dem Kriegskurs hin. Mit Trumps Sieg könnten sich die deutschen Investitionen in den Ukraine-Krieg als verloren erweisen.
    Merz ist im Artikel fehlerhaft zitiert worden. Würde Merz tatsächlich allen Arbeitsfähigen, die gerade keinen Job haben, die Stütze streichen wollen, wie es in Ihrem Artikel klingt, dann wäre das ein Skandal. Tatsächlich will er nur den Arbeitsunwilligen die Stütze streichen. Wörtlich: »Aber es sind auch 1,7 Millionen Erwerbsfähige unter den 5,6 Millionen Bürgergeldempfängern, und denen müssen wir einen Anreiz geben und sie ermutigen, in den Arbeitsmarkt zurückzukehren. (Beifall bei der CDU/CSU) Und wer das nicht will, von dem müssen wir annehmen, dass er aus eigener Kraft seinen Lebensunterhalt erwirtschaften kann. Er wird jedenfalls nicht mehr auf Kosten des Steuerzahlers seinen Lebensunterhalt bestreiten können« (dserver.bundestag.de/btp/20/20205.pdf). Das Wörtchen »tue« muss in Ihrem Artikel durch das Wörtchen »wolle« ersetzt werden. Dann stimmt es. So viel Fairness muss auch einem Gegner gegenüber sein, und das selbst dann, wenn ein Gegner diese Fairness nicht übt. Wenn Merz etwa Herrn Scholz die Stilllegung der Kernkraftwerke anlastet, dann sollte nicht unerwähnt bleiben, dass diese Stilllegung unter Merkel angeschoben worden war, die CDU daran also nicht so ganz unschuldig ist. Immerhin sagt Merz auch, man könne »trefflich streiten« warum der Ukraine-Krieg nun schon so lange dauere. Bittschön, da bin ich gern dabei. Er dauert unter anderem deshalb so lange, weil Merz – mit den ebenfalls eher kriegslustigen Abgeordneten der FDP und der Grünen im Rücken – Scholz zu Waffenlieferungen an die Ukraine drängen konnte, von denen Scholz eigentlich nichts so recht wissen wollte. Nun, mit Trumps Wahlsieg scheint es so, dass der angestrebte Sieg der Ukraine gegen Russland in weite Ferne rückt, die wahnsinnig hohen Ausgaben für den Krieg also wirkungslos in einem Fass ohne Boden verschwunden sind. Schade, dass für die Finanzierung dieses sinnlosen Krieges unsere Wirtschaft in die Rezession geschickt und offenbar massiv Sozialabbau betrieben werden soll.

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