Mit der nötigen Reife
Von Kristian StemmlerVor der Abstimmung über die von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gestellte Vertrauensfrage ist es am Montag im Bundestag zu einer teils scharf geführten Aussprache über die Politik der Regierung gekommen. Die meisten Redebeiträge zielten allerdings bereits unverkennbar auf die Positionierung der jeweiligen Partei im Wahlkampf. In einer 25minütigen Erklärung begründete Scholz den Schritt mit einer Richtungsentscheidung, um die es nach dem Ampel-Aus gehe. Die sei so wichtig, dass sie vom »Souverän, den Wählerinnen und Wähler, selbst getroffen werden muss«.
Scholz wiederholte, was er zuletzt bereits mehrfach am selben Ort vorgetragen hatte. Wie die SPD-Redner nach ihm griff er vor allem die FDP an. Ihr und ihrem Chef Christian Lindner warf er mit Blick auf das sogenannte »D-Day«-Papier, in dem ein Zeitplan für den Ampelausstieg der Partei entwickelt worden war, vor, ihr fehle die »nötige sittliche Reife«. Mit »monatelanger Sabotage« der Regierungsarbeit habe die FDP der Demokratie geschadet. Erneut versuchte Scholz, die SPD als Garant für soziale Gerechtigkeit, eine »Erneuerung des Landes« sowie innere und äußere Sicherheit darzustellen.
»Politik zugunsten der einen auf dem Rücken der anderen« sei mit ihm nicht zu machen. Der Kanzler versprach, für eine Erhöhung des Mindestlohns von zwölf auf 15 Euro zu kämpfen und bekräftigte seinen Vorschlag, die Mehrwertsteuer für Lebensmittel von sieben auf fünf Prozent zu reduzieren. Er votierte für eine »maßvolle Öffnung« der Schuldenbremse und schloss eine Lieferung von deutschen Marschflugkörpern an die Ukraine erneut aus, ebenso eine Entsendung deutscher Soldaten in das Land. Auffallend war, dass Scholz sich auch in dieser Rede nicht gegen die Attacken der Union auf das sogenannte Bürgergeld wehrte.
CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz machte keinen Hehl daraus, wo er »sparen« will. Das Bürgergeld wolle er »vom Kopf auf die Füße stellen«, sagte Merz in der Aussprache. Von den 5,6 Millionen Beziehern seien 1,7 Millionen erwerbsfähig. Wer arbeiten könne und dies nicht tue, werde unter ihm als Kanzler »nicht mehr auf Kosten des Steuerzahlers seinen Lebensunterhalt bestreiten können«. Von den Beschäftigten forderte Merz, mehr zu arbeiten. FDP-Chef Lindner nahm Merz gegen die Kritik des Kanzlers in Schutz: Diese sei eine »blanke Unverschämtheit«.
Der Kanzlerkandidat von Bündnis 90/Die Grünen, Robert Habeck, kündigte an, dass seine Fraktion sich bei der Abstimmung enthalten werde, um Neuwahlen zu ermöglichen. Bei der Vertrauensfrage haben Enthaltungen denselben Effekt wie Neinstimmen. Habeck erklärte, es gehe jetzt darum, wie Politik wieder Vertrauen gewinnen könne. Der Union warf er »Betriebsblindheit und Selbstverliebtheit« vor, sie habe das Land in 16 Jahren »großer« Koalition in eine »tiefe Strukturkrise« geführt. Lindner erklärte, die Regierung Scholz sei nicht gescheitert, weil es an der Kompromissbereitschaft gefehlt habe. Vielmehr sei er als Finanzminister entlassen worden, weil er die Einhaltung der Schuldenbremse gefordert habe.
Sören Pellmann, Kovorsitzender der Gruppe Die Linke, erklärte, »drei Jahre Koalitionsgezerre« seien zu Ende. Scholz warf er vor, das Land »in eine der schwersten wirtschaftlichen Krisen seit Jahrzehnten« geführt zu haben und nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs »die heftigste Aufrüstungsspirale« in Gang gesetzt zu haben, »die die Bundesrepublik je gesehen hat«. Die BSW-Kovorsitzende Sahra Wagenknecht hielt sich kurz: Die Regierung habe das Leben der Menschen spürbar verschlechtert. »Drei Jahre Abstieg unseres Landes, und Sie bitten um vier Jahre Verlängerung. Das muss man erst mal bringen«, sagte Wagenknecht.
Vor der Sitzung waren Spekulationen aufgekommen, dass die AfD-Fraktion dem Kanzler das Vertrauen aussprechen könnte, um Verwirrung zu stiften. Allerdings gab es dafür keinerlei Anzeichen; nur einige wenige AfD-Abgeordnete hatten angekündigt, mit Verweis auf dessen Ukraine-Politik für Scholz zu stimmen. Auch die parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion, Katja Mast, war den Spekulationen entgegengetreten.
Die Vertrauensfrage wurde in der Geschichte der Bundesrepublik bisher fünfmal gestellt. In drei Fällen (Willy Brandt 1972, Helmut Kohl 1982 und Gerhard Schröder 2005) wurde dem jeweiligen Bundeskanzler das Vertrauen versagt und der Bundestag aufgelöst. In zwei Fällen (Helmut Schmidt 1982 und Gerhard Schröder 2001) sprach eine Mehrheit im Bundestag dem Kanzler das Vertrauen aus.
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