Moralisieren vs. Moral
Von Ulrich RuschigWir leben in finsteren Zeiten. Politiker plädieren für Kriegsertüchtigung und beteuern, nur so könne man Frieden schaffen. Wer ernsthaft den Frieden wolle, müsse ihm gewaltsam den Weg bahnen. Diejenigen aber, die aus moralischer Überzeugung für den Frieden eintreten – fast abfällig »Pazifisten« genannt –, seien verantwortungslos und tadelnswert in einem moralischen Sinne, denn in einer kriegerischen Welt befördere Pazifismus den Krieg. Gewitzt schlüpft der Bellizist von heute ins Gewand des moralisch überlegenen Gutmenschen, geriert sich als Friedensengel und tadelt die Friedensfreunde als »gefallene Engel aus der Hölle« (Olaf Scholz).
Um einer solchen Melange aus argumentativem Wirrsinn und verquerem Moralisieren auf den Grund zu gehen, empfiehlt sich, Kants Schrift »Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf« von 1795 in die Hand zu nehmen. Dort bringt der Philosoph, der für ein vernunftbegründetes moralisches Gesetz steht, die Verkehrung, die moralisierende Politiker kennzeichnet, auf den Begriff. Bereits zu Kants Zeiten – heute denken wir da etwa an Baerbock, Habeck, Strack-Zimmermann, Hofreiter, Kiesewetter – war dieser Typus Politiker einschlägig. Kant fasste ihn unter dem Terminus des »politische(n) Moralisten (…), der sich eine Moral so schmiedet, wie es der Vortheil des Staatsmanns sich zuträglich findet«, oder auch des »moralisirende(n) Politiker(s)«. Sie »vernünfteln«, heißt es ferner, »über den Naturmechanism einer in Gesellschaft tretenden Menschenmenge« und behaupten, dieser »Naturmechanism« »entkräftete« das grundlegende moralische Prinzip und werde dessen Absicht »vereiteln«. Ein solches »Entkräften« moralischer Grundsätze in der kapitalistischen Wirklichkeit nehmen die heutigen Moralisierer zwar durchaus wahr, verstehen aber nicht den Grund für das »Entkräften« und affirmieren es als hinzunehmendes, quasi natürliches Faktum. So kommen sie darauf, das moralische Gesetz als rein theoretisch und deswegen, folgend dem positivistischen Zeitgeist, belanglos für die gesellschaftliche Wirklichkeit zu erklären, was, bedenkt man die Implikationen des moralischen Gesetzes, letzteres auslöscht als die gesellschaftliche Wirklichkeit der Möglichkeit nach bestimmendes Prinzip. Diese Annullierung eines fundamentalen moralischen Gesetzes wird verknüpft mit der Vorstellung, der Mensch sei seiner Natur gemäß unfähig, nach den Prinzipien der Kantschen Moral oder, wie man hier einsetzen könnte, denen der Bergpredigt zu handeln. Man beschönigt »rechtswidrige() Staatsprincipien« (heutzutage zu ergänzen: und die moralwidrige kapitalistische Produktionsweise), indem sie »der jetzt herrschenden Gewalt zum Munde reden (um ihren Privatvortheil nicht zu verfehlen)«. All das geschieht »unter dem Vorwande einer des Guten nach der Idee, wie sie die Vernunft vorschreibt, nicht fähigen menschlichen Natur«, was bedeutet, dass sie »das Besserwerden (der menschlichen Natur und der gesellschaftlichen Verhältnisse, d. A.) unmöglich machen und die Rechtsverletzung (die Verletzung des moralischen Gesetzes in der kapitalistischen Produktionsweise, d. A.) verewigen«. So bewegen sie sich im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise und der herrschenden Gewalt des bürgerlichen Staates, dichten dieser »verschmitzten Gewalt die Autorität an (…), der Ursprung und der Verband alles Rechts zu sein«. Das fundamentale moralische Gesetz wird nicht einfach bloß geleugnet, die »moralisierenden Politiker« richten ihr Handeln an – und das ist die besondere Pointe hier – moralisierend übertünchten Zwecken aus.
Moralisches Prinzip geleugnet
Eine eigentümliche Kopplung zweier gegensätzlich scheinender moralphilosophischer Thesen kennzeichnet diese Position: A. Ein unbedingt geltendes, die Menschen verpflichtendes moralisches Prinzip (sei es das Kantsche moralische Gesetz, sei es die Bergpredigt) wird mit dem Argument zurückgewiesen, ein solch fundamentales Prinzip sei bloß ideell, rein theoretisch bestimmt und für den empirischen Menschen zu hoch angesiedelt. Es in die Tat umzusetzen, dazu seien die Menschen generell unfähig. Deswegen sei es ohne Belang für die gesellschaftliche Wirklichkeit. Analog verfährt der moralisierende Politiker mit der von Kant als notwendige Idee der Vernunft aufgezeigten Idee des Friedens: Diese Idee sei müßige Spekulation ohne Relevanz für die praktische Politik.
B. Politisches Handeln soll moralischen Zwecken dienstbar gemacht werden, wobei das, was als moralisch zu beurteilen sei, dem positivistisch verfahrenden (alias gesunden) Menschenverstand unmittelbar einleuchten müsse, nicht aber der Reflexion auf das moralische Gesetz bedürfe und auch nicht der Reflexion auf die von Kant erschlossenen Bedingungen, wie aus jener notwendigen Idee des Friedens eine unbedingt zu erfüllende Rechtspflicht werde. Solchem »gesunden« Menschenverstand wird die notwendige Idee des Friedens zu einem entsubstantialisierten Wort. Jeder dieser moralisierenden Politiker strebt doch, eigenen Angaben zufolge, nach Frieden. Beispiele: Frauen in Afghanistan werden unterdrückt, was moralische Empörung evoziert. Folglich werden, um Frauenunterdrückung künftig zu verhindern, US-Truppen nach Afghanistan entsandt. Im Kosovo geschehen Verbrechen. Folglich bombardiert die NATO Belgrad, moralisch legitimiert als humanitäre Intervention. Russische Soldaten vergewaltigen Frauen in der Ukraine. Folglich werden Waffen an die Ukraine geliefert.
Moralisierende Politik firmiert gegenwärtig unter dem angesagten Terminus »wertebasierte Außenpolitik«. An letzterer lässt sich das Potential demonstrieren, das in der dargelegten Kopplung liegt. Kriege werden unter der Maßgabe angezettelt, für als moralisch gut ausgegebene Zwecke zu kämpfen. Ersichtlich verstößt Kriegführen gegen das unbedingt geltende, durch keinen auch noch so moralisch gut ausgegebenen Zweck außer Kraft zu setzende moralische Gesetz. Werden nun, wie passend, gemäß These A das moralische Gesetz und die notwendige Idee des Friedens als jenseits menschlicher Fähigkeiten stehend erklärt, können sie gar nicht durch das Geschehen in der empirischen Welt verletzt werden. Deswegen befürworten (und forcieren) moralisierende Politiker den gerechten Krieg. Sie teilen die politisch Handelnden in die Guten und die Bösen ein. Dass eine solche Einteilung selbst schon dem moralischen Gesetz widerspricht – kein Problem, dieser Widerspruch sei rein theoretisch und kann mit These A weggewischt werden. Desgleichen haben moralisierende Politiker kein Problem damit, dass, wenn es den bösen Feind trifft, ein gerechter Krieg in einen Vernichtungskrieg übergeht – neben Baerbock und Strack-Zimmermann fällt auch Netanjahu in diese Klasse. Wenn der politische Feind den Krieg mit den Worten begründet, auch er wolle Frieden – kein Problem, Frieden ist für den Positivisten ein Wort, das keinen objektiven, durch die Vernunft erkennbaren Inhalt habe und das, insoweit relativiert, für gegensätzliche Interessen instrumentalisiert werden könne.
Entfaltetes Blendwerk
Die Verbindung der Thesen A und B kritisiert Kant mit scharfen Formulierungen: »diese() Schlangenwendungen einer unmoralischen Klugheitslehre, den Friedenszustand unter Menschen aus dem kriegerischen des Naturzustandes herauszubringen (…)«. Da die Staaten sich miteinander im Naturzustand befinden, ist es ungereimt, durch Kriegführen, das diesem geschuldet ist, das Verlassen des Naturzustandes erzwingen zu wollen. Und solange die kapitalistische Produktionsweise herrscht, gilt a fortiori: Sie verharren im kriegsträchtigen Naturzustand. Deswegen kann Frieden ernstlich nur ohne Waffen geschaffen werden. Wenn hingegen die Parteigänger der kapitalistischen Produktionsweise, Politiker wie Pistorius und Strack-Zimmermann, behaupten, Frieden sei nur mit Waffen zu erreichen, liegt darin jene »unmoralische() Klugheitslehre«, die den kriegsträchtigen Naturzustand perpetuiert. Moralisierende Politiker scheuen sich, ihre auf Krieg zielenden Taten (Waffenlieferungen, Handelssanktionen, Manöver, sonstige Drohungen) »bloß auf Handgriffe der Klugheit zu gründen«, also öffentlich auszusprechen, es gehe ihnen darum, die Vorherrschaft der verbliebenen Weltmacht USA und das Zurückstufen des vormaligen Konkurrenten möglichst effizient durchzusetzen. Sie getrauen sich nicht, dem Begriff des moralischen Gesetzes »allen Gehorsam aufzukündigen«, sondern wollen »ihm alle gebührende Ehre widerfahren lassen«. Olaf Scholz stimmte bekanntlich eine Eloge auf Kant und dessen »großartige Schrift ›Zum ewigen Frieden‹« an. Zugleich ersinnen er und seinesgleichen »hundert Ausflüchte und Bemäntelungen«, dem moralischen Kodex auszuweichen. Solche Finessen sind es, die Kant als »Schlangenwendungen« decouvriert. »Um dieser Sophisterei (wenn gleich nicht der durch sie beschönigten Ungerechtigkeit) ein Ende zu machen und die falschen Vertreter der Mächtigen der Erde zum Geständnisse zu bringen, daß es nicht das (auf dem moralischen Gesetz gründende, d. A.) Recht, sondern die Gewalt sei, der sie zum Vortheil sprechen (…), wird es gut sein, das Blendwerk aufzudecken, womit man sich und andere hintergeht, das oberste Princip, von dem die Absicht auf den ewigen Frieden ausgeht, ausfindig zu machen und zu zeigen: daß alles Böse, was ihm im Wege ist, davon herrühre.« Indem er das »oberste Princip« an die zweite und die das Handeln leitenden Zwecke an die erste Stelle setzt, verkehre der moralisierende Politiker die systematisch gebotene Reihenfolge und entfalte sein »Blendwerk«. Er gebe seine Zwecke für als moralisch unmittelbar einsichtig aus und stelle zugleich das, was die Moralität dieser Zwecke überhaupt erst begründen könnte, nämlich das moralische Gesetz, hintan. So gelinge ihm, dieses Gesetz zu entsubstantialisieren und hinfällig zu machen. Von solchem Blendwerk solle man, anempfiehlt Kant, sich nicht täuschen lassen. Wer das moralische Gesetz einem einzelnen als moralisch ausgegebenen Zweck unterordne, spanne die Pferde hinter den Wagen.
Das moralische Gesetz wird Mittel
Wer die Verfolgung seiner politischen Interessen mit der Bekundung verbrämt, er wolle ja nur den Frieden, instrumentalisiert das moralische Gesetz. Er unterwirft es einem zweckrationalen Kalkül, behandelt es mithin als nachrangig. Genau darin liege »Bösartigkeit (vitiositas), (…)« und eben nicht hehre Menschenfreundlichkeit. Vitiositas, die dritte und schlimmste Stufe des »Hang(s) zum Bösen in der menschlichen Natur«, lasse sich näher als »die Verderbtheit (corruptio) des menschlichen Herzens« charakterisieren. Verderbt sei das Herz, indem das moralische Gesetz bewusst hintangestellt und seine Substanz damit negiert werde. Diesen Dreh gebe man via »hundert Ausflüchte(n) und Bemäntelungen« als letztlich moralisch geboten aus. Verderbtheit »kann auch die Verkehrtheit (perversitas) des menschlichen Herzens heißen«. Denn jene Verkehrung der Reihenfolge bedeute, das moralische Gesetz zu brechen und dieses Brechen als moralisch gut hinzustellen. Deswegen sei »die Denkungsart« des moralisierenden Politikers »in ihrer Wurzel (was die moralische Gesinnung betrifft) verderbt«, und er könne »darum als böse bezeichnet« werden. Solcherart Verkehrtheit, herausgefunden als dasjenige, was sich hinter der menschenfreundlichen Fassade verbirgt, gewinnt ihren empirischen, sinnfälligen Ausdruck, wenn moralisierende Politiker den Pazifismus attackieren.
Pazifismus nicht mehr zeitgemäß
Gegenwärtig ist Pazifismusbashing angesagt. Öffentlichkeitswirksam in Szene gesetzter Hass auf die vernünftige Bestimmung des Friedens bei Kant begleitet die Scholzsche »Zeitenwende« und enthüllt deren Gehalt. Vorbei Bertha von Suttners »Die Waffen nieder!«, vorbei »Nie wieder Krieg!« der Käthe Kollwitz, vorbei auch Willy Brandts »Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen!« Nassforsch geht man in die Offensive, diskreditiert und verunglimpft den Pazifismus: Er lähme die gute Seite (den Westen natürlich), helfe der falschen Seite (selbstredend Putin) und mache blind gegen Gewaltherrschaft. Pazifismus sei nichts anderes als Appeasement, Hinnahme verbrecherischer Gewalt, wahlweise prorussisch (heute) oder profaschistisch (vor dem Zweiten Weltkrieg). Er führe Krieg herbei, statt ihn zu verhindern. Der Friedensfreund als aus der Hölle gefallener Engel – diese Scheindialektik wird bemüht von den Baerbocks, Strack-Zimmermanns, Kiesewetters, Scholzen und nicht zuletzt von Anne Applebaum, der diesjährigen Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Dass eine bekennende Bellizistin einen »Friedenspreis« erhalten konnte, bringt jene Verkehrung im Zeitgeist treffend zum Ausdruck. Verwunderlich nur, dass man Kant noch nicht in jene Reihe pazifistischer Freiheitsfeinde von Käthe Kollwitz bis Willy Brandt aufgenommen hat.
Gegen die Verkehrung des Verhältnisses von moralischem Gesetz und politischer Zwecksetzung stellt Kant die vernunftgebotene Reihenfolge für den Weg zum Frieden auf: »Trachtet allererst nach dem Reiche der reinen praktischen Vernunft und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch euer Zweck (die Wohlthat des ewigen Friedens) von selbst zufallen.« Es sei gerade das »Eigenthümliche« der Moral, dass »je weniger sie das Verhalten von dem vorgesetzten Zweck, dem beabsichtigten, es sei physischem oder sittlichem, Vortheil abhängig macht, desto mehr sie dennoch zu diesem im Allgemeinen zusammenstimmt«. Die Idee des Friedens selbst und das grundlegende moralische Prinzip, einen Menschen niemals bloß als Mittel zu gebrauchen, sondern zugleich selbst als Zweck zu betrachten, stehen an der Spitze. Sie sind keine Träumereien oder leere Worte. Sie müssen – une question de vie ou de mort – verwirklicht werden. Moralisirende Politiker verwirklichen sie nicht, sie erweisen sich vielmehr als die schlimmsten Kriegstreiber, was damit beginnt, dass sie das moralische Gesetz für nichtig, mehr noch, es selbst für unmoralisch erklären (These A). In solchem Negieren steckt eine fast irreparable corruptio, eine alles überbietende Teufelei, mündend darin, einen auf Kant oder Jesus von Nazareth gründenden Pazifismus zu verteufeln. Pari passu verabschieden moralisierende Politiker die fundamentale Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise. Dann setzen sie, sich stützend auf den »gesunden« Menschenverstand, einzelne als moralisch herausgeputzte Zwecke in Szene (These B) und orientieren an diesen ihr politisches Handeln innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise und des bürgerlichen Staates und inmitten der Konkurrenz mit weniger moralisierend auftretenden Politikern. Dieser Herrschaft und dieser Konkurrenz stimmen sie nicht zuletzt deswegen zu, weil sie ein unbedingt geltendes, fundamentales moralisches Gesetz verabschiedet haben (A). Aus dem Setzen jener einzelnen Zwecke und der Parteinahme für die gegenwärtige Gesellschaft folgt für die moralisierenden Politiker: Mit Verve propagieren sie den gerechten Krieg. Tatsächlich tun sie, was sie den Pazifisten vorwerfen: Das Schlechte befördern unter besten Vorsätzen. Aus moralischer Empörung heraus begeistern sie sich allerbesten Gewissens für die Instrumente des Tötens (für Waffen, für immer mehr und bessere Waffen) und schwadronieren begleitend über einen Frieden, der irgendwann einmal hergestellt sein soll. Waffenlieferungen aber befeuern den Krieg und damit den Prozess, der immer weitere Gründe für moralisch motivierte Waffenlieferungen verschafft. Und ihnen zugleich das Gefühl, dem Feind moralisch überlegen zu sein. Für Kant ist genau das der Weg in die moralische Barbarei: das Herausstellen von moralisch aufgeplusterten Zwecken, während zugleich bei der Wahl der Mittel das fundamentale moralische Gesetz zurückgewiesen wird. So fährt man fort, sich subjektiv auf der Seite des Guten zu wähnen und objektiv das Böse zu fördern.
Der Weg zum Frieden
Kant sieht im Frieden nicht eine illusionäre Idee, ersonnen im Gehirn eines müßigen Denkers. Die Idee des Friedens sei vielmehr objektive Äußerung der Vernunft mit der moralischen Verpflichtung zur Verwirklichung. Die bisherige Geschichte der Menschheit stellt letzterer die Aufgabe, »dem heillosen Kriegführen, worauf als den Hauptzweck bisher alle Staaten ohne Ausnahme ihre inneren Anstalten gerichtet haben, ein Ende zu machen«. Kant zeichnet den Weg zum Frieden vor. Dazu leitet er aus der objektiven Idee Rechtspflichten ab, nämlich die (negativen) Verbotsgesetze – »(s)tehende Heere (…) sollen mit der Zeit ganz aufhören«, keine Staatsschulden für den Krieg (Kriegskredite), keine denunziatorische Herabwürdigung der Feinde. Und die (positiven) Gebote – Aufhebung der innerstaatlichen Gewaltverhältnisse durch Inkraftsetzen des moralischen Gesetzes, Föderation der Staaten unter der Maßgabe des moralischen Gesetzes, internationale Hospitalität für alle Geflüchteten. Diese Rechtspflichten seien zwingend zu erfüllende Bedingungen (conditiones sine quibus non), ohne die der Weg zum Frieden nicht beschritten werden könne.
Heutige Politiker, unterwegs in Sachen Kriegsertüchtigung, verletzen diese ihre Rechtspflichten und decken damit selbst auf, dass ihr Tun den Frieden verhindert. Gemessen an der von Kant gesetzten Aufgabe versagen sie. Sie selbst sehen das natürlich anders. Aber sie weichen der Kantschen Argumentation aus: Frieden – eine notwendige Idee der Vernunft? Eine solche Idee sei empirisch nicht wahrzunehmen, und deswegen, so der Fehlschluss, existiere sie nicht. Wenn dann aus einer bloß imaginierten Idee, der keine Objektivität zukomme, auch noch Rechtspflichten abgeleitet werden, die ihnen, den Auserwählten in der Rechtgläubigkeit (vor allem an Menschenrechte), auferlegt werden, sei das eine Zumutung, entstammend einer verstaubten Metaphysik. Es gebe doch keinen Gerichtshof (weder einen irdischen noch einen himmlischen noch einen, wo »Kant« draufstehe), der über die Verletzung jener aus der Idee des Friedens begründeten Rechtspflichten urteilen könne. Auch ein Beispiel dafür, dass und wie der moderne Positivismus herrschaftsstabilisierend fungiert.
Immanuel Kant, der mit der Friedensschrift ein Plädoyer für die objektive Idee des Friedens hält, bemerkt, dass die Verletzung von Rechtspflichten nicht nur ein Problem für den Rechtsphilosophen darstellt, der die Läsion eines Ideellen anklagt. Vielmehr werde eine solche Läsion anhand der durch sie gezeitigten Wirkung in der empirischen Welt unmittelbar spürbar. Gehe es mit dem »heillosen Kriegführen« weiter, dann werde die Menschengattung sich unvermeidlich zugrunde richten, nicht nur ideell, sondern insbesondere auch physisch. Im Jahre 1795 diagnostizierte Kant, dass die Menschengattung durch Kriege an ihrer Selbstzerstörung arbeite. Heute gilt das a fortiori. Hinzugekommen ist, dass das Kriegführen in einem sehr wörtlichen Sinne »heillos« geworden ist: der CO2-Ausstoß durch technisch avancierte Waffen, die Zerstörung der Natur durch Bomben und Minen, die Hinterlassenschaften an ausgebrannten Panzern und Raketen, die überall verstreute uranhaltige Munition … Wenn schon nicht – was nach Kant den Vorrang hätte – die Reflexion auf die vernünftigen Prinzipien der Moral ausreicht, weil letztere durch den positivistischen Zeitgeist erodiert wurden, sollte doch der Blick auf das angehäufte, ungeheure Selbstvernichtungspotential und auf die bereits eingetretenen Zerstörungen der Lebensbedingungen für die Menschheit insgesamt zum Frieden zwingen, sogar »wider Willen« – oder etwa doch nicht? Was aber, wenn die vom Positivismus gezeitigte Zerrüttung der Idee der Menschheit¹ und die durch den Kapitalismus induzierte »Verderbtheit (corruptio) des menschlichen Herzens« schon so weit vorangeschritten sind, dass dieses Herz gänzlich indolent gegen die Selbstzerstörung der Menschheit geworden ist?
Anmerkung
1 Für Kants Fassung des kategorischen Imperativs – »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst« – ist die Idee der Menschheit konstitutiv.
Ulrich Ruschig schrieb an dieser Stelle zuletzt am 28. Juni 2024 über die Kriegsrhetorik von Olaf Scholz
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Leserbrief von Bernd Vogel aus Leipzig (13. Januar 2025 um 11:23 Uhr)Auf der Leserbriefseite der jW vom 1./12. Januar 2025 beschäftigt sich Dieter Kaufmann aus Heidelberg unter der Überschrift »Auf den Begriff gebracht« u. a. auch mit einem früheren Leserbrief von mir. Der Kernsatz seiner Argumentation lautet: »Der kategorische Imperativ von Kant gestattet eben keine Ausnahme durch empirische Gründe.« Das ist korrekt formuliert vom Kantschen Standpunkt und kann auch als Argumentation für eine breite Bewegung gegen das Aufrüsten dienen. Für eine materialistische Herangehensweise ist es allerdings erforderlich, die Entstehung von Moral aus den materiellen gesellschaftlichen Bedingungen zu erklären und zu zeigen, wie Moral in den gesellschaftlichen Verhältnissen wirkt. Auf den Begriff gebracht durch eine materialistische Gesellschaftsanalyse. Es geht bei den Auseinandersetzungen unserer Zeit auch um die demokratische Mobilisierung aller auch bürgerlicher, vernunftbegabter Kräfte. Aber bei diesem notwendigen Bündnis darf man die eigene materialistische Position nicht vergessen.
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Leserbrief von Dieter Kaufmann aus Heidelberg (7. Januar 2025 um 14:01 Uhr)Michael Wallascheck beginnt seinen Leserbrief zu dem Artikel »Moralisieren vs. Moral« mit den Worten: »Kants moralisches Gesetz und ewiger Frieden sind schöne Ideen.« Vorwürfe folgten, dass er das moralische Gesetz gar »nicht so ernst nahm«, Frauen und Besitzlose nicht »für voll« nahm, »Menschen anderer Länder« ebenso. Vorwürfe des »Chauvinismen aller Art« sowie »Rassismus« folgten. Also doch keine schöne Ideen, sondern Inkonsequenzen und Widersprüche bei Kant? Es wäre eine Möglichkeit, diesen Vorwürfen nachzugehen und dafür Belege anzufordern. Ich aber bin der vielfach geprüften Meinung, dass sich diese Vorgehensweise durch genaue Lektüre allein der in dieser wertvollen Tageszeitung erschienenen Artikel zu Kant, sowie der Originalliteratur dieses Autors erübrigt. Arseni Gulyga, ein marxistischer Autor, schreibt in seiner Kant-Biografie, die ich sehr empfehle, 1977 in Moskau zuerst erschienen: »Jede neue Lehre erlebt, nach Kant, drei Etappen. Zuerst wird sie nicht bemerkt, dann wird sie abgelehnt und schließlich begibt man sich daran, sie ›nachzubesseren‹, indem man sie eigenen Interessen anpasst.« Wie das derzeit hierzulande gemacht wird, hat Ulrich Ruschig in dem Artikel »Durch den Scholzomaten gedreht«, am 28.06.24 in der jW erschienen, kritisiert. Als weiteres Beispiel möchte ich an die Verdrehungen, die man den Ideen von Karl Marx angetan hat und täglich erneuert werden, erinnern. Ich empfehle also nochmals, die Verdrehungen der öffentlichen Meinung kritisch zu überprüfen und, wenn möglich, die Originale lesen. Kant und Marx sind zwei Autoren, die sich vorzüglich ergänzen.
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Leserbrief von Dieter Kaufmann aus Heidelberg (7. Januar 2025 um 12:46 Uhr)Bezugnehmend auf den Leserbrief von Bernd Vogel. Aus den ersten beiden Sätzen dieses Leserbriefs ist zu entnehmen, dass Herr Vogel durch den Artikel »Moralisieren vs. Moral« das hohe intellektuelle Niveau zu Beginn der bürgerlichen Gesellschaft und die ›intellektuellen Höhen von Kant‹ würdigt. Der Verlust dieser Fähigkeit durch das ›heutige bürgerliche Personal in seinen verschiedenen Ausprägungen‹ sieht und bedauert er. Was ist aus dieser historisch gewordenen Differenz von Anspruch und Wirklichkeit zu lernen, oder enger gefasst: was brächte heute eine – zugegebenermaßen mühevolle und aufwendige – Beschäftigung mit Kant? Zumal ›...eine moralisierende Kritik zuwenig für eine Zeitung (ist), die den Anspruch hat, eine marxistische Tageszeitung zu sein.‹ Antwort: z.B. den eminenten Unterschied von ›moralisieren‹ und Moral zu verstehen. Der kategorische Imperativ von Kant gestattet eben keine Ausnahme durch empirische Gründe. Der Zwang zum wirtschaftlichen Wachstum, wie auch immer gemessen, ist eben kein Grund gegen diesen zu verstoßen, aufzurüsten und den jeweiligen Gegner mit kindlicher Geste, aber potentiell tödlichem Ausgang, vorzuwerfen angefangen zu haben. Kant ist der Philosoph, der am Anfang der bürgerlichen Gesellschaft diese auf den Begriff brachte und auf den heute noch vielfach fundamentale Bezüge festgeschrieben sind. Ich verweise auf den Artikel von Ulrich Ruschig ›Durch den Scholzomaten gedreht‹, in dem Scholz Putins Berechtigung, sich auf Kants »Zum ewigen Frieden« zu beziehen abspricht und nachweist, dass Scholz selbst mit seiner nur ihm gestattenen Kant-Affirmation dreist lügt, in dem er diesen vollkommen verdreht. ›Dem bürgerlichen Personal‹, dazu zählen auch die Universitätsprofessoren, die diesem ungeheuerlichen guazzabuglio von Scholz unwidersprochen gelauscht haben, zu widersprechen ist Pflicht für jedes vernunftsbegabte Lebewesen, um dem endgültigen Absturz in die Barbarei entgegen zu wirken.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Norbert S. aus München (19. Dezember 2024 um 13:46 Uhr)Interessant ist ja, dass Kants Urteil »Moralist (…), der sich eine Moral so schmiedet, wie es der Vortheil des Staatsmanns sich zuträglich findet«, auf ihn selber sehr zutreffend ist, wie er bei vielen Gelegenheiten, ganz eklatant z. B. beim Speziesismus-Thema, bewies. Davon abgesehen stimmt es natürlich, dass die hier beschriebenen, verbrecherisch kriegstreibenden, sich dem Kapital verkaufenden Polit- und Medienhuren gerne auf moralisierend, scheinheilige, verlogene Heuchelei zurückgreifen, meist auch noch in Form psychomanipulativer Rhetorik und (Subtil-)Propaganda. (Manchmal, gerade zu Beginn der jeweiligen »Wag-The-Dog«-Kampagnen, allerdings durchaus auch mit der Goebbelschen Brechstangenpropaganda. Also dreiste Lügen einfach auf allen Kanälen tausende Male in die Köpfe hämmern, wie z. B. vor wenigen Jahren mittels des PVAK-Wordings (»Putins Verbrecherischer Angriffskrieg«. Oder ziemlich aktuell der Versuch, ethnische Säuberungen / Genozid in Palästina eines faschistisch regierten, imperialistischen Apartheidsstaats als »Recht auf Selbstverteidigung« umzufirmieren.) Durch kommen die damit sicherlich auch so oft, weil verbildete Linke entweder nichts von (gut begründeter) Moral halten und / oder das positive Potential der Menschheit mit dem Status Quo verwechseln und rechtsdrehende, bosdumme Vollpfosten neben der hart trainierten moralischen Bigotterie besagtes positives Potential den Menschen wie im Artikel dargestellt komplett absprechen à la: »einmal scheiße, immer scheiße«. Beide Auffassungen haben nichts mit der Realität gemein und können daher wunderbar zur Massenmanipulation durch die Herrscher genutzt werden. Ding ist: Jede Moral ist nur so gut, wie die Ethik, aus der sie folgt. Das sollten sich auch Marxisten hinter die Ohren schreiben, denn die Marxsche, »materialistische« Philosophie ist sehr wohl ein starkes Stück sehr gesunder Ethik, sodass daraus abgeleitete Moral nichts mit der üblichen Moralisiererei der nebelkerzenden Heuchler zu tun hat.
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Leserbrief von Bernd Vogel aus Leipzig (18. Dezember 2024 um 14:12 Uhr)Im der jW vom 17. Dezember 2024 erschien ein Text unter der Überschrift »Moralisieren vs. Moral«. Darin wird kenntnisreich gezeigt, wie sich die deutsche Ideologie des Bürgertums von ihrem eigenem Anspruch (den aufrichtigen Jugendgedanken) verabschiedete bezüglich des Themas Krieg und Frieden. Der Text zeigt sehr deutlich den Abstieg von den intellektuellen Höhen von Kant zu den Niederungen des heutigen bürgerlichen Personals in seinen verschiedenen parteipolitischen Ausprägungen. Der Text bewegt sich konsequent im Bereich des Moralischen. Dass die Frage nach Krieg und Frieden eine Klassenfrage ist, kommt in diesem Text nicht vor. In Kriegen setzten Klassen ihre ökonomischen und politischen Interessen mit militärischen Mitteln durch. In Zeiten des Imperialismus sind das im Normalfall die Interessen der herrschenden Klassen imperialistischer Staaten. Eine materialistische Analyse zu gesellschaftlichen Ursachen und Charakter des Krieges wird nicht vorgestellt, war aber wohl nicht Absicht. In jedem Fall ist eine simple moralisierende Kritik zu wenig für eine Zeitung, die den Anspruch hat, eine marxistische Tageszeitung zu sein.
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Leserbrief von Michael Wallaschek aus Halle (Saale) (18. Dezember 2024 um 09:36 Uhr)Kants moralisches Gesetz und ewiger Frieden sind schöne Ideen. Das Moralisieren in der Außenpolitik ist aber nur möglich, weil Kant das moralische Gesetz für die Innenpolitik nicht so ernst nahm. Hier unterschied er in selbstständige und unselbstständige Staatsbürger, wobei er alle »Frauenzimmer« sowie alle Männer ohne Besitz an Grund, Boden und Produktionsmitteln zur letzteren Klasse zählte, also die Mehrheit der Menschen in der Gesellschaft. Zudem nahm er auch die Menschen anderer Länder und Kontinente nicht für voll und überzog sie mit Chauvinismen aller Art bis hin zum Rassismus. Er akzeptierte und förderte also letztlich grundlegende Spaltungen in der Gesellschaft und Menschheit. Sein ewiger Frieden war einer zwischen Mächtigen und Besitzenden, niemals einer für wirklich alle Menschen. Macht- und Besitzerhaltung geht aber auf die Dauer nur gegen die Interessen der Nichtmächtigen und Nichtbesitzenden, was einen ewigen Frieden nicht nur nach innen, sondern auch nach außen ausschließt. Und das wissen oder ahnen und nutzen die Moralisiererinnen und Moralisierer.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Oliver S. aus Hundsbach (18. Dezember 2024 um 00:17 Uhr)Wozu Kant, wozu die Bergpredigt? Im Kapital schreibt Marx: »Für eine Gesellschaft von Warenproducenten […] ist das Christentum mit seinem Kultus vom abstrakten Menschen […] die entsprechendste Religionsform. […] Der religiöse Wiederschein der wirklichen Welt kann überhaupt nur verschwinden, sobald die Verhältnisse des praktischen Werkeltagslebens den Menschen tagtäglich durchsichtig vernünftige Beziehungen zu einander und zur Natur darstellen. […] Dazu ist jedoch eine materielle Grundlage der Gesellschaft erheischt oder eine Reihe materieller Existenzbedingungen, welche selbst wieder das naturwüchsige Produkt eine langen und qualvollen Entwicklungsgeschichte sind« In diesem Sinne könnte Moral oder ethisches Verhalten als Resultat eines individuellen und kollektiven Lebensprozesses verstanden werden, der wiederum in größere historische Zeiträume eingebettet ist. Weltgeschichte als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit wird von Marx rein materialistisch, als naturhistorischer Prozess gefasst, der nicht durch den »Weltgeist« oder »das moralische Gesetz in mir«, sondern im wesentlichen durch die Entwicklung der Produktivkräfte bedingt ist. Der Kapitalismus ist (für Marx) auch nicht moralwidrig, sondern ein notwendiges Durchgangsstadium auf dem Weg zu einer befreiten Menschheit. Selbstredend sind Menschen fähig, moralisch zu Handeln und Frieden scheint das höchste Gut. Frieden als Selbstzweck aber wäre nichts weiter als die Magd der Feigheit und des Duckmäusertums. Frieden ist an eine Voraussetzung geknüpft: an die praktische Errichtung einer gerechten Gesellschaft. Was uns aber unmittelbar bevorsteht, hat der kommende Kanzler schon (unbewusst) gesagt: »Freiheit ist wichtiger als Frieden! Frieden gibt es auf dem Friedhof!« Gemeint hat er damit aber nicht: »Ihr könnt wählen zwischen Kapitalismus und dem Friedhof«! Nein, das war die Parole in der guten alten BRD! Die neue lautet: »Ihr werdet beides bekommen bzw. Kapitalismus habt ihr schon … jetzt kommt der Friedhof dazu«!