Aus der Giftküche
Von Reinhard Lauterbach
Mit giftigen Gasen kennt sich Großbritannien aus. Im Dezember 1952 kamen bei einer in die Geschichte eingegangenen Smogwetterlage einige tausend Bewohner Londons ums Leben – nicht vorsätzlich umgebracht, aber billigend in Kauf genommen in einem Land ohne vernünftige Heizungen und mit nasser Kohle. Der Fall ist übrigens ein indirekter Beweis für das Argument, warum Chemiewaffen nach dem Ersten Weltkrieg aus der militärischen Mode gekommen sind: Sie sind wenig zielgenau – das Risiko, Unbeteiligte und vor allem eigene Leute zu vergiften, ist erheblich. Chemiewaffen gelten deshalb als »heimtückisch«.
Seit Anfang des Kriegs in Syrien haben Chemiewaffen eine große Rolle in der westlichen Propaganda gegen den jetzt gestürzten Präsidenten Baschar Al-Assad gespielt. Insbesondere im Vereinigten Königreich ansässige Vereine wie die »Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte« verbreiteten immer wieder Meldungen über den angeblichen Einsatz von Giftgas durch das syrische Militär. Peinlich nur, dass sie sich bei näheren Recherchen in der Regel nicht bestätigt haben bzw. dass es manchmal auch die Kämpfer der Opposition waren und nicht das »Regime«, die diese Stoffe eingesetzt hatten.
Jetzt ist Assad weg, aber das argumentative Giftgas ist noch da und wartet auf den nächsten Einsatz. Also kommt der Chef der russischen Giftgasabwehrtruppe auf eine britische Sanktionsliste; eine Entscheidung, deren Begründung an Präzision nicht zu überbieten ist. Nach dem Spiegel zitiert: »Kirillow ist oder war für verbotene Handlungen im Zusammenhang mit chemischen Waffen verantwortlich, beteiligt sich an solchen Handlungen, unterstützt sie oder fördert sie.« Ein konkreter Tatnachweis sieht anders aus, und ein Gericht, das auf sich hält, müsste der Prozesspartei, die so etwas vorträgt, dieses Tohuwabohu an »ist oder war« um die Ohren hauen. Klar, dass das hier unterbleibt.
Ein weiterer Punkt, der an der Darstellung eines Kiewer Gerichts zumindest leichte Zweifel weckt, sind die in dessen am Montag verkündeter Anklage gegen den General genannten Zahlen: Kirillow habe »in mindestens 4.800 Fällen« den Einsatz von Giftgas gegen ukrainische Truppen veranlasst. Macht in 1.028 Kriegstagen durchschnittlich 4,67 Einsätze täglich, vielleicht auch mehr. Und das soll die ukrainische Seite, die ansonsten die angebliche Entführung ukrainischer Kinder aus Kampfgebieten nach Russland als Raub am ukrainischen Volkskörper skandalisiert, nicht früher zum Thema gemacht haben? Kaum zu glauben, wenn etwas daran gewesen wäre und nicht statt dessen aktuell irgend jemand beschlossen hätte, mal wieder ein Fass Giftgas durchs Dorf zu rollen.
A propos: Heimtücke ist seitens der ukrainischen Staatsmacht nichts Neues. Hat sie nicht am 2. Mai 2014 ultrarechte Marodeure ins Gewerkschaftshaus von Odessa gejagt und dieses anschließend in Brand gesteckt? Für jeden Finger, mit dem man auf andere zeigt, weisen drei auf einen zurück.
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